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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse.
achten bei dem Staatsministerium ein, das letzte erst im Mai.*) Keine
dieser Denkschriften verrieth krankhafte Aengstlichkeit; selbst Graf Bernstorff,
der sich noch am besorgtesten äußerte, gestand bescheiden zu, daß er die
preußischen Verhältnisse erst wenig kenne. Die meisten der Minister
fanden das Bild, das die Cabinetsordre von den inneren Zuständen ent-
warf, allzu düster gefärbt, erklärten ihr festes Vertrauen zu der guten
Gesinnung des Volks wie der Beamten und warnten vor einer öffent-
lichen Bekanntmachung, die nur verstimmend wirken könne. Die Be-
schleunigung der Verfassungsarbeit hielt selbst der strengconservative
Schuckmann für das sicherste Mittel um die öffentliche Meinung zu be-
ruhigen. Am freimüthigsten unter Allen schrieb der Kriegsminister: was
hätte, so fragte er mit soldatischer Offenheit, Friedrich der Große denken
sollen, wenn er die Tischgespräche seiner so treuen, so herrlich bewährten
Generale hätte beachten wollen? Er verlangte ein Preßgesetz ohne Censur,
mit Strafen für die geschehenen Vergehen, und erklärte: "Wenn der preu-
ßische Staat mit seiner Gesetzgebung in dem Geiste fortgeht, der sich seit
dem Jahre 1806 auf Befehl Sr. Majestät bei uns entwickelt hat, wenn
wir jedes unnütze Zögern in der Vollendung unserer Gesetzgebung zu ver-
meiden suchen, dann kann ein jeder rechtliche Mann es mit seinem Kopfe
verbürgen, daß der preußische Staat nicht allein den Gefahren der Zeit
ruhig zusehen darf, sondern sie auch ohne ängstliche Vorsichtsmaßregeln
siegreich überstehen wird."

Im Einzelnen gingen die Vorschläge natürlich weit auseinander, da
Jeder nach Gutdünken diese oder jene Frage aus der Cabinetsordre
herausgegriffen hatte. Selbst über den Hauptgrund der langsamen Ge-
schäftsführung des Ministeriums, über die eigenthümliche Mittelstellung des
Staatskanzlers sprachen sich nur drei der Minister aus: Kircheisen, Bülow
und mit besonderem Nachdruck Beyme, der entschieden verlangte, daß der
Staatskanzler das Haupt des Ministeriums werden müsse: "ohne dieses ist
alles Uebrige ganz vergeblich." Die neun Vota boten, trotz der achtungs-
werthen Gesinnung, die aus ihnen sprach, doch ein ebenso verworrenes
und verwirrendes Gesammtbild wie vor Kurzem die Gutachten der Notabeln
über die Verfassung; und unter den Ministern fand sich Niemand, der die
anderen gezwungen hätte, dies Durcheinander subjectiver Ansichten in
gründlicher Berathung zu sichten, der Krone einen Beschluß, einen ge-
meinsamen Antrag vorzulegen. Die wichtige Arbeit blieb liegen, der König
erhielt in sieben Monaten keine Antwort und sah seinen Vorwurf, daß
diesem Ministerium die Einheit fehle, vollauf bestätigt. So versäumte
die Rathlosigkeit des Ministeriums den günstigen Augenblick, da die Politik

*) Votum von Schuckmann 20. Jan., Bernstorff Anfang Februar, Boyen 12. Febr.,
Klewiz Febr., Altenstein 1. März, Lottum 4. März, Bülow 5. März, Beyme ohne Datum,
Kircheisen 2. Mai 1819.

II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
achten bei dem Staatsminiſterium ein, das letzte erſt im Mai.*) Keine
dieſer Denkſchriften verrieth krankhafte Aengſtlichkeit; ſelbſt Graf Bernſtorff,
der ſich noch am beſorgteſten äußerte, geſtand beſcheiden zu, daß er die
preußiſchen Verhältniſſe erſt wenig kenne. Die meiſten der Miniſter
fanden das Bild, das die Cabinetsordre von den inneren Zuſtänden ent-
warf, allzu düſter gefärbt, erklärten ihr feſtes Vertrauen zu der guten
Geſinnung des Volks wie der Beamten und warnten vor einer öffent-
lichen Bekanntmachung, die nur verſtimmend wirken könne. Die Be-
ſchleunigung der Verfaſſungsarbeit hielt ſelbſt der ſtrengconſervative
Schuckmann für das ſicherſte Mittel um die öffentliche Meinung zu be-
ruhigen. Am freimüthigſten unter Allen ſchrieb der Kriegsminiſter: was
hätte, ſo fragte er mit ſoldatiſcher Offenheit, Friedrich der Große denken
ſollen, wenn er die Tiſchgeſpräche ſeiner ſo treuen, ſo herrlich bewährten
Generale hätte beachten wollen? Er verlangte ein Preßgeſetz ohne Cenſur,
mit Strafen für die geſchehenen Vergehen, und erklärte: „Wenn der preu-
ßiſche Staat mit ſeiner Geſetzgebung in dem Geiſte fortgeht, der ſich ſeit
dem Jahre 1806 auf Befehl Sr. Majeſtät bei uns entwickelt hat, wenn
wir jedes unnütze Zögern in der Vollendung unſerer Geſetzgebung zu ver-
meiden ſuchen, dann kann ein jeder rechtliche Mann es mit ſeinem Kopfe
verbürgen, daß der preußiſche Staat nicht allein den Gefahren der Zeit
ruhig zuſehen darf, ſondern ſie auch ohne ängſtliche Vorſichtsmaßregeln
ſiegreich überſtehen wird.“

Im Einzelnen gingen die Vorſchläge natürlich weit auseinander, da
Jeder nach Gutdünken dieſe oder jene Frage aus der Cabinetsordre
herausgegriffen hatte. Selbſt über den Hauptgrund der langſamen Ge-
ſchäftsführung des Miniſteriums, über die eigenthümliche Mittelſtellung des
Staatskanzlers ſprachen ſich nur drei der Miniſter aus: Kircheiſen, Bülow
und mit beſonderem Nachdruck Beyme, der entſchieden verlangte, daß der
Staatskanzler das Haupt des Miniſteriums werden müſſe: „ohne dieſes iſt
alles Uebrige ganz vergeblich.“ Die neun Vota boten, trotz der achtungs-
werthen Geſinnung, die aus ihnen ſprach, doch ein ebenſo verworrenes
und verwirrendes Geſammtbild wie vor Kurzem die Gutachten der Notabeln
über die Verfaſſung; und unter den Miniſtern fand ſich Niemand, der die
anderen gezwungen hätte, dies Durcheinander ſubjectiver Anſichten in
gründlicher Berathung zu ſichten, der Krone einen Beſchluß, einen ge-
meinſamen Antrag vorzulegen. Die wichtige Arbeit blieb liegen, der König
erhielt in ſieben Monaten keine Antwort und ſah ſeinen Vorwurf, daß
dieſem Miniſterium die Einheit fehle, vollauf beſtätigt. So verſäumte
die Rathloſigkeit des Miniſteriums den günſtigen Augenblick, da die Politik

*) Votum von Schuckmann 20. Jan., Bernſtorff Anfang Februar, Boyen 12. Febr.,
Klewiz Febr., Altenſtein 1. März, Lottum 4. März, Bülow 5. März, Beyme ohne Datum,
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[494/0508] II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe. achten bei dem Staatsminiſterium ein, das letzte erſt im Mai. *) Keine dieſer Denkſchriften verrieth krankhafte Aengſtlichkeit; ſelbſt Graf Bernſtorff, der ſich noch am beſorgteſten äußerte, geſtand beſcheiden zu, daß er die preußiſchen Verhältniſſe erſt wenig kenne. Die meiſten der Miniſter fanden das Bild, das die Cabinetsordre von den inneren Zuſtänden ent- warf, allzu düſter gefärbt, erklärten ihr feſtes Vertrauen zu der guten Geſinnung des Volks wie der Beamten und warnten vor einer öffent- lichen Bekanntmachung, die nur verſtimmend wirken könne. Die Be- ſchleunigung der Verfaſſungsarbeit hielt ſelbſt der ſtrengconſervative Schuckmann für das ſicherſte Mittel um die öffentliche Meinung zu be- ruhigen. Am freimüthigſten unter Allen ſchrieb der Kriegsminiſter: was hätte, ſo fragte er mit ſoldatiſcher Offenheit, Friedrich der Große denken ſollen, wenn er die Tiſchgeſpräche ſeiner ſo treuen, ſo herrlich bewährten Generale hätte beachten wollen? Er verlangte ein Preßgeſetz ohne Cenſur, mit Strafen für die geſchehenen Vergehen, und erklärte: „Wenn der preu- ßiſche Staat mit ſeiner Geſetzgebung in dem Geiſte fortgeht, der ſich ſeit dem Jahre 1806 auf Befehl Sr. Majeſtät bei uns entwickelt hat, wenn wir jedes unnütze Zögern in der Vollendung unſerer Geſetzgebung zu ver- meiden ſuchen, dann kann ein jeder rechtliche Mann es mit ſeinem Kopfe verbürgen, daß der preußiſche Staat nicht allein den Gefahren der Zeit ruhig zuſehen darf, ſondern ſie auch ohne ängſtliche Vorſichtsmaßregeln ſiegreich überſtehen wird.“ Im Einzelnen gingen die Vorſchläge natürlich weit auseinander, da Jeder nach Gutdünken dieſe oder jene Frage aus der Cabinetsordre herausgegriffen hatte. Selbſt über den Hauptgrund der langſamen Ge- ſchäftsführung des Miniſteriums, über die eigenthümliche Mittelſtellung des Staatskanzlers ſprachen ſich nur drei der Miniſter aus: Kircheiſen, Bülow und mit beſonderem Nachdruck Beyme, der entſchieden verlangte, daß der Staatskanzler das Haupt des Miniſteriums werden müſſe: „ohne dieſes iſt alles Uebrige ganz vergeblich.“ Die neun Vota boten, trotz der achtungs- werthen Geſinnung, die aus ihnen ſprach, doch ein ebenſo verworrenes und verwirrendes Geſammtbild wie vor Kurzem die Gutachten der Notabeln über die Verfaſſung; und unter den Miniſtern fand ſich Niemand, der die anderen gezwungen hätte, dies Durcheinander ſubjectiver Anſichten in gründlicher Berathung zu ſichten, der Krone einen Beſchluß, einen ge- meinſamen Antrag vorzulegen. Die wichtige Arbeit blieb liegen, der König erhielt in ſieben Monaten keine Antwort und ſah ſeinen Vorwurf, daß dieſem Miniſterium die Einheit fehle, vollauf beſtätigt. So verſäumte die Rathloſigkeit des Miniſteriums den günſtigen Augenblick, da die Politik *) Votum von Schuckmann 20. Jan., Bernſtorff Anfang Februar, Boyen 12. Febr., Klewiz Febr., Altenſtein 1. März, Lottum 4. März, Bülow 5. März, Beyme ohne Datum, Kircheiſen 2. Mai 1819.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 494. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/508>, abgerufen am 22.11.2024.