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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 9. Die Karlsbader Beschlüsse.
Eröffnungsfeier den erhebenden Eindruck, als ob heute ein neues Zeit-
alter der deutschen Geschichte begänne. Varnhagen, der sich sogleich viel-
geschäftig unter die Abgeordneten mischte, konnte seiner Regierung gar
nicht genug erzählen von "der nicht zu schildernden Größe dieser impo-
santen Momente".*) Die Volkskammer vornehmlich glaubte die Augen
der ganzen Welt auf sich gerichtet, wie denn in der That die Karlsruher
Vorgänge bis nach England und Amerika hinüber großes Aussehen er-
regten, und beschloß sogleich einstimmig, alle Adels- und Amtstitel in der
Kammer abzulegen, da der Ehrentitel des Abgeordneten hoch über allen
anderen irdischen Würden stehe: -- ein stolzer Beschluß, der bei den
ängstlichen Höfen sofort die Befürchtung hervorrief, daß ihm die Ab-
schaffung des Adels auf dem Fuße folgen werde.

Der badische Adel besaß nur in der ersten Kammer eine ständische
Vertretung; in der zweiten Kammer tagten nicht, wie in Baiern, die
Abgeordneten von vier ständischen Gruppen, sondern die Gesammtheit der
Wahlberechtigten war, ohne Unterschied der Stände, in städtische und
ländliche Wahlbezirke eingetheilt, deren jeder ein Steuercapital von 800,000
Gulden umfaßte. Der Karlsruher Landtag erschien mithin, dem modernen
Charakter dieses Staates gemäß, nahezu als eine allgemeine Volksver-
tretung und stand schon durch seine Zusammensetzung den demokratischen
Ideen des neuen Jahrhunderts näher als die anderen Landstände jener
Tage; auch an Talent übertraf er den bairischen Landtag bei Weitem.
In der ersten Kammer saßen für die Kirchen Wessenberg und Hebel; für
die Universitäten Rotteck und sein Widerpart, der sinnig gelehrte Thibaut;
für den Adel der Fürst von Fürstenberg, ein Aristokrat im besten Sinne,
und der conservative Freiherr v. Türckheim, ein Elsässer, der durch die
Revolution aus seiner Heimath vertrieben über die particularistische Be-
schränktheit seiner badischen Landsleute frei hinausblickte; er scheute sich
nicht zu bekennen, daß ihm die Einheit der Nation das Erste, die Ver-
fassungspolitik erst das Zweite sei -- was in dem allgemeinen Rausche
der constitutionellen Selbstgefälligkeit schon als Volksverrath betrachtet
wurde. Unter den Mitgliedern der zweiten Kammer that sich Professor
Duttlinger aus Freiburg, ein scharfsinniger Jurist hervor. An Sach-
kenntniß überragte Alle der Geh. Referendar Ludwig Winter, ein derber,
freimüthiger, kurz angebundener Schwarzwälder, Monarchist durch und
durch, das Musterbild eines altbadischen Beamten, zu allen socialen Re-
formen gern bereit, aber ein abgesagter Feind des politischen Dilettantismus
und der parlamentarischen Redseligkeit. Der eigentliche Führer des Hauses
war Frhr. v. Liebenstein, ein junger Beamter, der schon 1813 die Auf-
merksamkeit des durchreisenden preußischen Staatskanzler auf sich gezogen
und neuerdings durch eine schwungvolle Rede zur Feier der Leipziger

*) Varnhagens Bericht, 22. April 1819.

II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe.
Eröffnungsfeier den erhebenden Eindruck, als ob heute ein neues Zeit-
alter der deutſchen Geſchichte begänne. Varnhagen, der ſich ſogleich viel-
geſchäftig unter die Abgeordneten miſchte, konnte ſeiner Regierung gar
nicht genug erzählen von „der nicht zu ſchildernden Größe dieſer impo-
ſanten Momente“.*) Die Volkskammer vornehmlich glaubte die Augen
der ganzen Welt auf ſich gerichtet, wie denn in der That die Karlsruher
Vorgänge bis nach England und Amerika hinüber großes Auſſehen er-
regten, und beſchloß ſogleich einſtimmig, alle Adels- und Amtstitel in der
Kammer abzulegen, da der Ehrentitel des Abgeordneten hoch über allen
anderen irdiſchen Würden ſtehe: — ein ſtolzer Beſchluß, der bei den
ängſtlichen Höfen ſofort die Befürchtung hervorrief, daß ihm die Ab-
ſchaffung des Adels auf dem Fuße folgen werde.

Der badiſche Adel beſaß nur in der erſten Kammer eine ſtändiſche
Vertretung; in der zweiten Kammer tagten nicht, wie in Baiern, die
Abgeordneten von vier ſtändiſchen Gruppen, ſondern die Geſammtheit der
Wahlberechtigten war, ohne Unterſchied der Stände, in ſtädtiſche und
ländliche Wahlbezirke eingetheilt, deren jeder ein Steuercapital von 800,000
Gulden umfaßte. Der Karlsruher Landtag erſchien mithin, dem modernen
Charakter dieſes Staates gemäß, nahezu als eine allgemeine Volksver-
tretung und ſtand ſchon durch ſeine Zuſammenſetzung den demokratiſchen
Ideen des neuen Jahrhunderts näher als die anderen Landſtände jener
Tage; auch an Talent übertraf er den bairiſchen Landtag bei Weitem.
In der erſten Kammer ſaßen für die Kirchen Weſſenberg und Hebel; für
die Univerſitäten Rotteck und ſein Widerpart, der ſinnig gelehrte Thibaut;
für den Adel der Fürſt von Fürſtenberg, ein Ariſtokrat im beſten Sinne,
und der conſervative Freiherr v. Türckheim, ein Elſäſſer, der durch die
Revolution aus ſeiner Heimath vertrieben über die particulariſtiſche Be-
ſchränktheit ſeiner badiſchen Landsleute frei hinausblickte; er ſcheute ſich
nicht zu bekennen, daß ihm die Einheit der Nation das Erſte, die Ver-
faſſungspolitik erſt das Zweite ſei — was in dem allgemeinen Rauſche
der conſtitutionellen Selbſtgefälligkeit ſchon als Volksverrath betrachtet
wurde. Unter den Mitgliedern der zweiten Kammer that ſich Profeſſor
Duttlinger aus Freiburg, ein ſcharfſinniger Juriſt hervor. An Sach-
kenntniß überragte Alle der Geh. Referendar Ludwig Winter, ein derber,
freimüthiger, kurz angebundener Schwarzwälder, Monarchiſt durch und
durch, das Muſterbild eines altbadiſchen Beamten, zu allen ſocialen Re-
formen gern bereit, aber ein abgeſagter Feind des politiſchen Dilettantismus
und der parlamentariſchen Redſeligkeit. Der eigentliche Führer des Hauſes
war Frhr. v. Liebenſtein, ein junger Beamter, der ſchon 1813 die Auf-
merkſamkeit des durchreiſenden preußiſchen Staatskanzler auf ſich gezogen
und neuerdings durch eine ſchwungvolle Rede zur Feier der Leipziger

*) Varnhagens Bericht, 22. April 1819.
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[510/0524] II. 9. Die Karlsbader Beſchlüſſe. Eröffnungsfeier den erhebenden Eindruck, als ob heute ein neues Zeit- alter der deutſchen Geſchichte begänne. Varnhagen, der ſich ſogleich viel- geſchäftig unter die Abgeordneten miſchte, konnte ſeiner Regierung gar nicht genug erzählen von „der nicht zu ſchildernden Größe dieſer impo- ſanten Momente“. *) Die Volkskammer vornehmlich glaubte die Augen der ganzen Welt auf ſich gerichtet, wie denn in der That die Karlsruher Vorgänge bis nach England und Amerika hinüber großes Auſſehen er- regten, und beſchloß ſogleich einſtimmig, alle Adels- und Amtstitel in der Kammer abzulegen, da der Ehrentitel des Abgeordneten hoch über allen anderen irdiſchen Würden ſtehe: — ein ſtolzer Beſchluß, der bei den ängſtlichen Höfen ſofort die Befürchtung hervorrief, daß ihm die Ab- ſchaffung des Adels auf dem Fuße folgen werde. Der badiſche Adel beſaß nur in der erſten Kammer eine ſtändiſche Vertretung; in der zweiten Kammer tagten nicht, wie in Baiern, die Abgeordneten von vier ſtändiſchen Gruppen, ſondern die Geſammtheit der Wahlberechtigten war, ohne Unterſchied der Stände, in ſtädtiſche und ländliche Wahlbezirke eingetheilt, deren jeder ein Steuercapital von 800,000 Gulden umfaßte. Der Karlsruher Landtag erſchien mithin, dem modernen Charakter dieſes Staates gemäß, nahezu als eine allgemeine Volksver- tretung und ſtand ſchon durch ſeine Zuſammenſetzung den demokratiſchen Ideen des neuen Jahrhunderts näher als die anderen Landſtände jener Tage; auch an Talent übertraf er den bairiſchen Landtag bei Weitem. In der erſten Kammer ſaßen für die Kirchen Weſſenberg und Hebel; für die Univerſitäten Rotteck und ſein Widerpart, der ſinnig gelehrte Thibaut; für den Adel der Fürſt von Fürſtenberg, ein Ariſtokrat im beſten Sinne, und der conſervative Freiherr v. Türckheim, ein Elſäſſer, der durch die Revolution aus ſeiner Heimath vertrieben über die particulariſtiſche Be- ſchränktheit ſeiner badiſchen Landsleute frei hinausblickte; er ſcheute ſich nicht zu bekennen, daß ihm die Einheit der Nation das Erſte, die Ver- faſſungspolitik erſt das Zweite ſei — was in dem allgemeinen Rauſche der conſtitutionellen Selbſtgefälligkeit ſchon als Volksverrath betrachtet wurde. Unter den Mitgliedern der zweiten Kammer that ſich Profeſſor Duttlinger aus Freiburg, ein ſcharfſinniger Juriſt hervor. An Sach- kenntniß überragte Alle der Geh. Referendar Ludwig Winter, ein derber, freimüthiger, kurz angebundener Schwarzwälder, Monarchiſt durch und durch, das Muſterbild eines altbadiſchen Beamten, zu allen ſocialen Re- formen gern bereit, aber ein abgeſagter Feind des politiſchen Dilettantismus und der parlamentariſchen Redſeligkeit. Der eigentliche Führer des Hauſes war Frhr. v. Liebenſtein, ein junger Beamter, der ſchon 1813 die Auf- merkſamkeit des durchreiſenden preußiſchen Staatskanzler auf ſich gezogen und neuerdings durch eine ſchwungvolle Rede zur Feier der Leipziger *) Varnhagens Bericht, 22. April 1819.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/524>, abgerufen am 22.11.2024.