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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Liebenstein. Winter. Rotteck.
Justiz und Verwaltung, auf öffentliches und mündliches Verfahren. Vor
Allem das Schwurgericht empfing hier unter schwungvollen Reden gleichsam
die Weihe als ein Heiligthum des Liberalismus. Von der Nothwendig-
keit, die Gerichte mit dem Gewissen und den Lebensgewohnheiten des
Volks in Einklang zu halten, von den Bedürfnissen der Rechtspflege war
wenig die Rede; vielmehr wurden die Schwurgerichte, noch entschiedener
als kurz zuvor in der bairischen Kammer, für eine politische Institution
erklärt. Sie sollten den "Hauptpfeiler der politischen Freiheit" bilden;
ohne sie, versicherte Liebenstein, sei alles Andere nur Schein. Die öffent-
liche Meinung stimmte jubelnd zu, obgleich die Erfahrungen des napo-
leonischen Kaiserreichs wahrlich nicht für die neue Lehre sprachen; alle
Welt grollte, und mit Recht, über die Pascha-Willkür der badischen Amt-
männer und gab sich der kindlichen Hoffnung hin, durch "das Volk"
werde jede Tyrannei ein Ende finden. So ward die rein juristische Frage
zur politischen Parteisache. Den Regierungen fuhr der Schrecken in alle
Glieder; sie waren bisher, zumal die preußische, der dringend nöthigen
Reform des Strafverfahrens keineswegs abgeneigt gewesen, jetzt erschien
ihnen die Neuerung staatsgefährlich.

Nach dem mächtigen Pathos dieser Zukunftsdebatten, bei denen Varn-
hagen immer die Hand mit im Spiele hatte, erschien die pedantische Klein-
meisterei der Budgetberathung hochergötzlich. Allerdings bot das Budget,
nach so vielen Jahren unordentlicher Finanzwirthschaft, manche anfecht-
bare Stellen. Da entfalteten sich denn breit und behäbig alle jene Künste
des parlamentarischen Mückenseigens und Milbenspaltens, welche den
deutschen Landtagen auf lange hinaus zum Vorbilde dienten. Um jeden
aggregirten Sekretär, um jede Pferderation der Bataillonsadjutanten ward
mit heiliger Entrüstung gestritten; das unbeliebte Militärbudget erlitt
natürlich starke Abstriche, und da die Regierung, unbedachtsam genug, ver-
säumt hatte, den Unterhalt des landesfürstlichen Hauses vor der Ver-
kündigung des Grundgesetzes sicher zu stellen, so trat die unanständige
Wißbegierde der Volksvertreter auch an die häuslichen Angelegenheiten
der Dynastie heran. Die Civilliste selbst fand die Genehmigung der
Stände, aber von den Apanagen ward fast ein Viertel gestrichen. Auf
ihrem Wittwensitze zu Bruchsal lebte noch die Mutter des verstorbenen
Großherzogs, die greise Markgräfin Amalie, eine Tochter der großen Land-
gräfin von Darmstadt. Wie oft hatte diese tapfere Frau einst in den
Tagen der Franzosenherrschaft ihr wirksames Fürwort für den badischen
Staat eingelegt; und nun strich ihr dieser Landtag, der ihr eigentlich sein
Dasein verdankte, 20,000 fl. von ihrem bescheidenen Einkommen. Wie
hätten diese Kleinbürger auch begreifen sollen, daß der Hofhalt einer
Fürstin, deren Töchter auf den Thronen von Rußland, Schweden, Baiern,
Hessen und Braunschweig saßen, nicht nach den Bedürfnissen einer Land-
pfarrerswirthschaft beurtheilt werden durfte? Die ganze mächtige Verwandt-

Treitschke, Deutsche Geschichte. II. 33

Liebenſtein. Winter. Rotteck.
Juſtiz und Verwaltung, auf öffentliches und mündliches Verfahren. Vor
Allem das Schwurgericht empfing hier unter ſchwungvollen Reden gleichſam
die Weihe als ein Heiligthum des Liberalismus. Von der Nothwendig-
keit, die Gerichte mit dem Gewiſſen und den Lebensgewohnheiten des
Volks in Einklang zu halten, von den Bedürfniſſen der Rechtspflege war
wenig die Rede; vielmehr wurden die Schwurgerichte, noch entſchiedener
als kurz zuvor in der bairiſchen Kammer, für eine politiſche Inſtitution
erklärt. Sie ſollten den „Hauptpfeiler der politiſchen Freiheit“ bilden;
ohne ſie, verſicherte Liebenſtein, ſei alles Andere nur Schein. Die öffent-
liche Meinung ſtimmte jubelnd zu, obgleich die Erfahrungen des napo-
leoniſchen Kaiſerreichs wahrlich nicht für die neue Lehre ſprachen; alle
Welt grollte, und mit Recht, über die Paſcha-Willkür der badiſchen Amt-
männer und gab ſich der kindlichen Hoffnung hin, durch „das Volk“
werde jede Tyrannei ein Ende finden. So ward die rein juriſtiſche Frage
zur politiſchen Parteiſache. Den Regierungen fuhr der Schrecken in alle
Glieder; ſie waren bisher, zumal die preußiſche, der dringend nöthigen
Reform des Strafverfahrens keineswegs abgeneigt geweſen, jetzt erſchien
ihnen die Neuerung ſtaatsgefährlich.

Nach dem mächtigen Pathos dieſer Zukunftsdebatten, bei denen Varn-
hagen immer die Hand mit im Spiele hatte, erſchien die pedantiſche Klein-
meiſterei der Budgetberathung hochergötzlich. Allerdings bot das Budget,
nach ſo vielen Jahren unordentlicher Finanzwirthſchaft, manche anfecht-
bare Stellen. Da entfalteten ſich denn breit und behäbig alle jene Künſte
des parlamentariſchen Mückenſeigens und Milbenſpaltens, welche den
deutſchen Landtagen auf lange hinaus zum Vorbilde dienten. Um jeden
aggregirten Sekretär, um jede Pferderation der Bataillonsadjutanten ward
mit heiliger Entrüſtung geſtritten; das unbeliebte Militärbudget erlitt
natürlich ſtarke Abſtriche, und da die Regierung, unbedachtſam genug, ver-
ſäumt hatte, den Unterhalt des landesfürſtlichen Hauſes vor der Ver-
kündigung des Grundgeſetzes ſicher zu ſtellen, ſo trat die unanſtändige
Wißbegierde der Volksvertreter auch an die häuslichen Angelegenheiten
der Dynaſtie heran. Die Civilliſte ſelbſt fand die Genehmigung der
Stände, aber von den Apanagen ward faſt ein Viertel geſtrichen. Auf
ihrem Wittwenſitze zu Bruchſal lebte noch die Mutter des verſtorbenen
Großherzogs, die greiſe Markgräfin Amalie, eine Tochter der großen Land-
gräfin von Darmſtadt. Wie oft hatte dieſe tapfere Frau einſt in den
Tagen der Franzoſenherrſchaft ihr wirkſames Fürwort für den badiſchen
Staat eingelegt; und nun ſtrich ihr dieſer Landtag, der ihr eigentlich ſein
Daſein verdankte, 20,000 fl. von ihrem beſcheidenen Einkommen. Wie
hätten dieſe Kleinbürger auch begreifen ſollen, daß der Hofhalt einer
Fürſtin, deren Töchter auf den Thronen von Rußland, Schweden, Baiern,
Heſſen und Braunſchweig ſaßen, nicht nach den Bedürfniſſen einer Land-
pfarrerswirthſchaft beurtheilt werden durfte? Die ganze mächtige Verwandt-

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 33
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[513/0527] Liebenſtein. Winter. Rotteck. Juſtiz und Verwaltung, auf öffentliches und mündliches Verfahren. Vor Allem das Schwurgericht empfing hier unter ſchwungvollen Reden gleichſam die Weihe als ein Heiligthum des Liberalismus. Von der Nothwendig- keit, die Gerichte mit dem Gewiſſen und den Lebensgewohnheiten des Volks in Einklang zu halten, von den Bedürfniſſen der Rechtspflege war wenig die Rede; vielmehr wurden die Schwurgerichte, noch entſchiedener als kurz zuvor in der bairiſchen Kammer, für eine politiſche Inſtitution erklärt. Sie ſollten den „Hauptpfeiler der politiſchen Freiheit“ bilden; ohne ſie, verſicherte Liebenſtein, ſei alles Andere nur Schein. Die öffent- liche Meinung ſtimmte jubelnd zu, obgleich die Erfahrungen des napo- leoniſchen Kaiſerreichs wahrlich nicht für die neue Lehre ſprachen; alle Welt grollte, und mit Recht, über die Paſcha-Willkür der badiſchen Amt- männer und gab ſich der kindlichen Hoffnung hin, durch „das Volk“ werde jede Tyrannei ein Ende finden. So ward die rein juriſtiſche Frage zur politiſchen Parteiſache. Den Regierungen fuhr der Schrecken in alle Glieder; ſie waren bisher, zumal die preußiſche, der dringend nöthigen Reform des Strafverfahrens keineswegs abgeneigt geweſen, jetzt erſchien ihnen die Neuerung ſtaatsgefährlich. Nach dem mächtigen Pathos dieſer Zukunftsdebatten, bei denen Varn- hagen immer die Hand mit im Spiele hatte, erſchien die pedantiſche Klein- meiſterei der Budgetberathung hochergötzlich. Allerdings bot das Budget, nach ſo vielen Jahren unordentlicher Finanzwirthſchaft, manche anfecht- bare Stellen. Da entfalteten ſich denn breit und behäbig alle jene Künſte des parlamentariſchen Mückenſeigens und Milbenſpaltens, welche den deutſchen Landtagen auf lange hinaus zum Vorbilde dienten. Um jeden aggregirten Sekretär, um jede Pferderation der Bataillonsadjutanten ward mit heiliger Entrüſtung geſtritten; das unbeliebte Militärbudget erlitt natürlich ſtarke Abſtriche, und da die Regierung, unbedachtſam genug, ver- ſäumt hatte, den Unterhalt des landesfürſtlichen Hauſes vor der Ver- kündigung des Grundgeſetzes ſicher zu ſtellen, ſo trat die unanſtändige Wißbegierde der Volksvertreter auch an die häuslichen Angelegenheiten der Dynaſtie heran. Die Civilliſte ſelbſt fand die Genehmigung der Stände, aber von den Apanagen ward faſt ein Viertel geſtrichen. Auf ihrem Wittwenſitze zu Bruchſal lebte noch die Mutter des verſtorbenen Großherzogs, die greiſe Markgräfin Amalie, eine Tochter der großen Land- gräfin von Darmſtadt. Wie oft hatte dieſe tapfere Frau einſt in den Tagen der Franzoſenherrſchaft ihr wirkſames Fürwort für den badiſchen Staat eingelegt; und nun ſtrich ihr dieſer Landtag, der ihr eigentlich ſein Daſein verdankte, 20,000 fl. von ihrem beſcheidenen Einkommen. Wie hätten dieſe Kleinbürger auch begreifen ſollen, daß der Hofhalt einer Fürſtin, deren Töchter auf den Thronen von Rußland, Schweden, Baiern, Heſſen und Braunſchweig ſaßen, nicht nach den Bedürfniſſen einer Land- pfarrerswirthſchaft beurtheilt werden durfte? Die ganze mächtige Verwandt- Treitſchke, Deutſche Geſchichte. II. 33

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/527>, abgerufen am 22.11.2024.