der altdeutschen Dichtung zu einer Liebhaberei der teutonischen Jugend zu werden. Ein Glück für die Wissenschaft, daß Lachmann durch den Ernst seines unnachsichtlichen Tadels die Unreifen zurückschreckte und den Dilet- tantismus bald gänzlich aus dem Bereiche der deutschen Sprachkunde hinaus- fegte. Währenddem unternahm Benecke seine lexikographischen Arbeiten, und der anspruchslose Friedrich Diez trug in aller Stille die ersten Werk- stücke zusammen für das mächtige Gebäude seiner romanischen Grammatik. Auch er war wie Lachmann als Freiwilliger mit dem deutschen Heere in Frankreich eingezogen, er hatte in Gießen mit Follen und den wildesten Hitzköpfen des Teutonenthums an lauter Tafelrunde gesessen und blieb doch im Geiste so frei, daß er wie ein geborener Provenzale der schönen Sprache der Troubadours bis in die Tiefen des Herzens blicken konnte.
Die ungleiche Begabung der Generationen wird durch die ungleiche Gunst der äußeren Umstände allein nicht erklärt; die Zeit erzieht nur den Genius, sie schafft ihn nicht. Immer sobald eine große Wandlung des geistigen Lebens sich in der Stille vorbereitet hat, läßt eine geheimnißvolle Waltung, deren Rathschluß kein menschlicher Blick durchdringt, ein reich- begabtes Geschlecht entstehen. Zur rechten Zeit erscheinen die rechten Männer, Fund folgt auf Fund, ein heller Kopf arbeitet dem andern in die Hände ohne von ihm zu wissen. So jetzt, da eine große Stunde für die philologisch-historischen Wissenschaften geschlagen hatte.
Derweil die Brüder Grimm noch in unbestimmten Vermuthungen über die gemeinsame Abstammung der Sprachen Europas sich ergingen, hatte der Mainzer Franz Bopp, ganz unabhängig von ihnen, bereits den Grund- stein gelegt für die neue Wissenschaft der Sprachvergleichung. Seit vielen Jahren schon lebte Wilhelm Humboldt des Glaubens, daß Sprachphilo- sophie und Geschichtsphilosophie in den letzten Tiefen der Menschheit sich begegnen müßten. Wie oft hatte er in seinen Briefen an Schiller aus- geführt, die Sprache sei ein lebendiger Organismus, mit der Persönlich- keit des Sprechenden eng verwachsen. Er wußte längst, daß der eigen- thümliche Charakter der einzelnen Sprachen sich vornehmlich an ihrem grammatischen Bau erkennen lasse; nur die Geschäftslast seines diplomati- schen Berufs verhinderte ihn noch diese Ideen weiter auszuspinnen. Von ähnlichen Ahnungen erfüllt hatte der junge Bopp sich schon früh die Kenntniß der classischen und der meisten neu-europäischen Sprachen ange- eignet; er hoffte die in dem Sprachenreichthum unseres Geschlechts ver- borgene Harmonie zu entdecken. Es galt zunächst den genealogischen Zu- sammenhang mehrerer Sprachen unzweifelhaft sicherzustellen, und dies ließ sich nur nachweisen durch genaue Prüfung einer sehr alten Sprache, welche den Charakter der verlorenen Ursprache ziemlich rein bewahrt hatte, also zur Noth statt der Ursprache selbst gelten konnte.
Bopp beschloß daher von dem Sanskrit auszugehen; denn das hohe Alter der indischen Literatur stand außer Zweifel, und seit Friedrich
Lachmann. Bopp.
der altdeutſchen Dichtung zu einer Liebhaberei der teutoniſchen Jugend zu werden. Ein Glück für die Wiſſenſchaft, daß Lachmann durch den Ernſt ſeines unnachſichtlichen Tadels die Unreifen zurückſchreckte und den Dilet- tantismus bald gänzlich aus dem Bereiche der deutſchen Sprachkunde hinaus- fegte. Währenddem unternahm Benecke ſeine lexikographiſchen Arbeiten, und der anſpruchsloſe Friedrich Diez trug in aller Stille die erſten Werk- ſtücke zuſammen für das mächtige Gebäude ſeiner romaniſchen Grammatik. Auch er war wie Lachmann als Freiwilliger mit dem deutſchen Heere in Frankreich eingezogen, er hatte in Gießen mit Follen und den wildeſten Hitzköpfen des Teutonenthums an lauter Tafelrunde geſeſſen und blieb doch im Geiſte ſo frei, daß er wie ein geborener Provenzale der ſchönen Sprache der Troubadours bis in die Tiefen des Herzens blicken konnte.
Die ungleiche Begabung der Generationen wird durch die ungleiche Gunſt der äußeren Umſtände allein nicht erklärt; die Zeit erzieht nur den Genius, ſie ſchafft ihn nicht. Immer ſobald eine große Wandlung des geiſtigen Lebens ſich in der Stille vorbereitet hat, läßt eine geheimnißvolle Waltung, deren Rathſchluß kein menſchlicher Blick durchdringt, ein reich- begabtes Geſchlecht entſtehen. Zur rechten Zeit erſcheinen die rechten Männer, Fund folgt auf Fund, ein heller Kopf arbeitet dem andern in die Hände ohne von ihm zu wiſſen. So jetzt, da eine große Stunde für die philologiſch-hiſtoriſchen Wiſſenſchaften geſchlagen hatte.
Derweil die Brüder Grimm noch in unbeſtimmten Vermuthungen über die gemeinſame Abſtammung der Sprachen Europas ſich ergingen, hatte der Mainzer Franz Bopp, ganz unabhängig von ihnen, bereits den Grund- ſtein gelegt für die neue Wiſſenſchaft der Sprachvergleichung. Seit vielen Jahren ſchon lebte Wilhelm Humboldt des Glaubens, daß Sprachphilo- ſophie und Geſchichtsphiloſophie in den letzten Tiefen der Menſchheit ſich begegnen müßten. Wie oft hatte er in ſeinen Briefen an Schiller aus- geführt, die Sprache ſei ein lebendiger Organismus, mit der Perſönlich- keit des Sprechenden eng verwachſen. Er wußte längſt, daß der eigen- thümliche Charakter der einzelnen Sprachen ſich vornehmlich an ihrem grammatiſchen Bau erkennen laſſe; nur die Geſchäftslaſt ſeines diplomati- ſchen Berufs verhinderte ihn noch dieſe Ideen weiter auszuſpinnen. Von ähnlichen Ahnungen erfüllt hatte der junge Bopp ſich ſchon früh die Kenntniß der claſſiſchen und der meiſten neu-europäiſchen Sprachen ange- eignet; er hoffte die in dem Sprachenreichthum unſeres Geſchlechts ver- borgene Harmonie zu entdecken. Es galt zunächſt den genealogiſchen Zu- ſammenhang mehrerer Sprachen unzweifelhaft ſicherzuſtellen, und dies ließ ſich nur nachweiſen durch genaue Prüfung einer ſehr alten Sprache, welche den Charakter der verlorenen Urſprache ziemlich rein bewahrt hatte, alſo zur Noth ſtatt der Urſprache ſelbſt gelten konnte.
Bopp beſchloß daher von dem Sanskrit auszugehen; denn das hohe Alter der indiſchen Literatur ſtand außer Zweifel, und ſeit Friedrich
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[71/0085]
Lachmann. Bopp.
der altdeutſchen Dichtung zu einer Liebhaberei der teutoniſchen Jugend zu
werden. Ein Glück für die Wiſſenſchaft, daß Lachmann durch den Ernſt
ſeines unnachſichtlichen Tadels die Unreifen zurückſchreckte und den Dilet-
tantismus bald gänzlich aus dem Bereiche der deutſchen Sprachkunde hinaus-
fegte. Währenddem unternahm Benecke ſeine lexikographiſchen Arbeiten,
und der anſpruchsloſe Friedrich Diez trug in aller Stille die erſten Werk-
ſtücke zuſammen für das mächtige Gebäude ſeiner romaniſchen Grammatik.
Auch er war wie Lachmann als Freiwilliger mit dem deutſchen Heere in
Frankreich eingezogen, er hatte in Gießen mit Follen und den wildeſten
Hitzköpfen des Teutonenthums an lauter Tafelrunde geſeſſen und blieb
doch im Geiſte ſo frei, daß er wie ein geborener Provenzale der ſchönen
Sprache der Troubadours bis in die Tiefen des Herzens blicken konnte.
Die ungleiche Begabung der Generationen wird durch die ungleiche
Gunſt der äußeren Umſtände allein nicht erklärt; die Zeit erzieht nur den
Genius, ſie ſchafft ihn nicht. Immer ſobald eine große Wandlung des
geiſtigen Lebens ſich in der Stille vorbereitet hat, läßt eine geheimnißvolle
Waltung, deren Rathſchluß kein menſchlicher Blick durchdringt, ein reich-
begabtes Geſchlecht entſtehen. Zur rechten Zeit erſcheinen die rechten
Männer, Fund folgt auf Fund, ein heller Kopf arbeitet dem andern in
die Hände ohne von ihm zu wiſſen. So jetzt, da eine große Stunde für
die philologiſch-hiſtoriſchen Wiſſenſchaften geſchlagen hatte.
Derweil die Brüder Grimm noch in unbeſtimmten Vermuthungen über
die gemeinſame Abſtammung der Sprachen Europas ſich ergingen, hatte
der Mainzer Franz Bopp, ganz unabhängig von ihnen, bereits den Grund-
ſtein gelegt für die neue Wiſſenſchaft der Sprachvergleichung. Seit vielen
Jahren ſchon lebte Wilhelm Humboldt des Glaubens, daß Sprachphilo-
ſophie und Geſchichtsphiloſophie in den letzten Tiefen der Menſchheit ſich
begegnen müßten. Wie oft hatte er in ſeinen Briefen an Schiller aus-
geführt, die Sprache ſei ein lebendiger Organismus, mit der Perſönlich-
keit des Sprechenden eng verwachſen. Er wußte längſt, daß der eigen-
thümliche Charakter der einzelnen Sprachen ſich vornehmlich an ihrem
grammatiſchen Bau erkennen laſſe; nur die Geſchäftslaſt ſeines diplomati-
ſchen Berufs verhinderte ihn noch dieſe Ideen weiter auszuſpinnen. Von
ähnlichen Ahnungen erfüllt hatte der junge Bopp ſich ſchon früh die
Kenntniß der claſſiſchen und der meiſten neu-europäiſchen Sprachen ange-
eignet; er hoffte die in dem Sprachenreichthum unſeres Geſchlechts ver-
borgene Harmonie zu entdecken. Es galt zunächſt den genealogiſchen Zu-
ſammenhang mehrerer Sprachen unzweifelhaft ſicherzuſtellen, und dies ließ
ſich nur nachweiſen durch genaue Prüfung einer ſehr alten Sprache, welche
den Charakter der verlorenen Urſprache ziemlich rein bewahrt hatte, alſo
zur Noth ſtatt der Urſprache ſelbſt gelten konnte.
Bopp beſchloß daher von dem Sanskrit auszugehen; denn das
hohe Alter der indiſchen Literatur ſtand außer Zweifel, und ſeit Friedrich
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/85>, abgerufen am 17.02.2025.
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