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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Geschichte des Menschengeschlechts einwirkt. Als Ritter im Jahre 1817
diesen neuen Gedanken in dem ersten Bande seiner Vergleichenden Erd-
kunde zuerst aussprach, erhob er die Geographie zu einer selbständigen
Wissenschaft. In ihm arbeitete der nämliche Drang nach Erkenntniß der
gesetzmäßigen Nothwendigkeit des historischen Lebens, der aus Savignys
und Bopps Werken sprach, und wie diese Beiden erinnerte er sich bei
seinen Unternehmungen oft an das Vorbild der vergleichenden Anatomie.
Die Formen der Erde beseelten sich vor seinen Augen wie die Wortformen
vor Jakob Grimms Forscherblick. Er sah in den Welttheilen die großen
Individuen der Erde und lehrte, jedes Land vertrete eine sittliche Kraft,
übernehme die Erziehung seiner Bewohner, erlebe seine nothwendige Ge-
schichte. Mit ungeheurem Fleiße trug er Alles zusammen was jemals
Naturforscher, Reisende, Historiker über Land und Leute berichtet hatten,
um zunächst an Asien die ewige Wechselwirkung von Natur und Geschichte
zu erweisen. Kam sein Werk zum Ziele -- und er selber nannte noch
im hohen Alter die Geographie bescheiden eine erst werdende Wissenschaft
-- so war der ganze Entwicklungsgang der Menschheit als eine örtlich
bedingte Naturerscheinung dargethan. Schwächere Köpfe konnten auf so
schwierigem Wege leicht in eine materialistische Geschichtsanschauung hinein-
gerathen; für Ritter war diese Versuchung nicht vorhanden. Denn er
blieb noch als Mann in seinem Herzen ein einfältiges frommes Kind,
wie vormals da er in Schnepfenthal zu den Füßen des guten Salzmann
saß. Nicht blinde Naturgesetze, sondern den Willen des lebendigen Gottes
hoffte er durch sein Forschen zu erkennen; heilige Andacht durchschauerte
ihn so oft ihm eine Ahnung von dem tiefen Sinne der unbegreiflich
hohen Werke aufging, und oft nannte er sein Buch "mein Lobgesang
des Herrn".

Wenige Wissenschaften hängen mit der Macht und dem Reichthum
der Völker so innig zusammen, wie die Erdkunde; sie folgt in den An-
fängen der Geschichte immer den Spuren des Eroberers und des wagenden
Kaufmanns, auch in gesitteten Zeiten bedarf sie königlicher Mittel um
Neues zu finden. Nur den Deutschen ist es gelungen, sich zweimal
allein durch die Kraft ihres Geistes eine führende Stellung in der geo-
graphischen Wissenschaft zu erzwingen. Als die Spanier und Portugiesen
sich in die Herrschaft beider Indien theilten und Deutschlands alte Han-
delsgröße zusammenbrach, da trat Copernicus dem Columbus ebenbürtig
an die Seite. Wie viele Weltumsegler und Entdecker hatten seitdem bei
den Staatsgewalten Englands, Frankreichs, ja selbst Rußlands freigebige
Unterstützung gefunden. In Deutschland, dem Lande ohne Colonien und
fast ohne Welthandel, geschah nichts dergleichen; die Nation und ihre Re-
gierungen blickten noch kaum hinaus über die armselige Beschränktheit
ihres binnenländischen Stilllebens. Auf eigene Kosten mußten Alexander
v. Humboldt und Leopold v. Buch ihre kühnen Reisen unternehmen.

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Geſchichte des Menſchengeſchlechts einwirkt. Als Ritter im Jahre 1817
dieſen neuen Gedanken in dem erſten Bande ſeiner Vergleichenden Erd-
kunde zuerſt ausſprach, erhob er die Geographie zu einer ſelbſtändigen
Wiſſenſchaft. In ihm arbeitete der nämliche Drang nach Erkenntniß der
geſetzmäßigen Nothwendigkeit des hiſtoriſchen Lebens, der aus Savignys
und Bopps Werken ſprach, und wie dieſe Beiden erinnerte er ſich bei
ſeinen Unternehmungen oft an das Vorbild der vergleichenden Anatomie.
Die Formen der Erde beſeelten ſich vor ſeinen Augen wie die Wortformen
vor Jakob Grimms Forſcherblick. Er ſah in den Welttheilen die großen
Individuen der Erde und lehrte, jedes Land vertrete eine ſittliche Kraft,
übernehme die Erziehung ſeiner Bewohner, erlebe ſeine nothwendige Ge-
ſchichte. Mit ungeheurem Fleiße trug er Alles zuſammen was jemals
Naturforſcher, Reiſende, Hiſtoriker über Land und Leute berichtet hatten,
um zunächſt an Aſien die ewige Wechſelwirkung von Natur und Geſchichte
zu erweiſen. Kam ſein Werk zum Ziele — und er ſelber nannte noch
im hohen Alter die Geographie beſcheiden eine erſt werdende Wiſſenſchaft
— ſo war der ganze Entwicklungsgang der Menſchheit als eine örtlich
bedingte Naturerſcheinung dargethan. Schwächere Köpfe konnten auf ſo
ſchwierigem Wege leicht in eine materialiſtiſche Geſchichtsanſchauung hinein-
gerathen; für Ritter war dieſe Verſuchung nicht vorhanden. Denn er
blieb noch als Mann in ſeinem Herzen ein einfältiges frommes Kind,
wie vormals da er in Schnepfenthal zu den Füßen des guten Salzmann
ſaß. Nicht blinde Naturgeſetze, ſondern den Willen des lebendigen Gottes
hoffte er durch ſein Forſchen zu erkennen; heilige Andacht durchſchauerte
ihn ſo oft ihm eine Ahnung von dem tiefen Sinne der unbegreiflich
hohen Werke aufging, und oft nannte er ſein Buch „mein Lobgeſang
des Herrn“.

Wenige Wiſſenſchaften hängen mit der Macht und dem Reichthum
der Völker ſo innig zuſammen, wie die Erdkunde; ſie folgt in den An-
fängen der Geſchichte immer den Spuren des Eroberers und des wagenden
Kaufmanns, auch in geſitteten Zeiten bedarf ſie königlicher Mittel um
Neues zu finden. Nur den Deutſchen iſt es gelungen, ſich zweimal
allein durch die Kraft ihres Geiſtes eine führende Stellung in der geo-
graphiſchen Wiſſenſchaft zu erzwingen. Als die Spanier und Portugieſen
ſich in die Herrſchaft beider Indien theilten und Deutſchlands alte Han-
delsgröße zuſammenbrach, da trat Copernicus dem Columbus ebenbürtig
an die Seite. Wie viele Weltumſegler und Entdecker hatten ſeitdem bei
den Staatsgewalten Englands, Frankreichs, ja ſelbſt Rußlands freigebige
Unterſtützung gefunden. In Deutſchland, dem Lande ohne Colonien und
faſt ohne Welthandel, geſchah nichts dergleichen; die Nation und ihre Re-
gierungen blickten noch kaum hinaus über die armſelige Beſchränktheit
ihres binnenländiſchen Stilllebens. Auf eigene Koſten mußten Alexander
v. Humboldt und Leopold v. Buch ihre kühnen Reiſen unternehmen.

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[76/0090] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. Geſchichte des Menſchengeſchlechts einwirkt. Als Ritter im Jahre 1817 dieſen neuen Gedanken in dem erſten Bande ſeiner Vergleichenden Erd- kunde zuerſt ausſprach, erhob er die Geographie zu einer ſelbſtändigen Wiſſenſchaft. In ihm arbeitete der nämliche Drang nach Erkenntniß der geſetzmäßigen Nothwendigkeit des hiſtoriſchen Lebens, der aus Savignys und Bopps Werken ſprach, und wie dieſe Beiden erinnerte er ſich bei ſeinen Unternehmungen oft an das Vorbild der vergleichenden Anatomie. Die Formen der Erde beſeelten ſich vor ſeinen Augen wie die Wortformen vor Jakob Grimms Forſcherblick. Er ſah in den Welttheilen die großen Individuen der Erde und lehrte, jedes Land vertrete eine ſittliche Kraft, übernehme die Erziehung ſeiner Bewohner, erlebe ſeine nothwendige Ge- ſchichte. Mit ungeheurem Fleiße trug er Alles zuſammen was jemals Naturforſcher, Reiſende, Hiſtoriker über Land und Leute berichtet hatten, um zunächſt an Aſien die ewige Wechſelwirkung von Natur und Geſchichte zu erweiſen. Kam ſein Werk zum Ziele — und er ſelber nannte noch im hohen Alter die Geographie beſcheiden eine erſt werdende Wiſſenſchaft — ſo war der ganze Entwicklungsgang der Menſchheit als eine örtlich bedingte Naturerſcheinung dargethan. Schwächere Köpfe konnten auf ſo ſchwierigem Wege leicht in eine materialiſtiſche Geſchichtsanſchauung hinein- gerathen; für Ritter war dieſe Verſuchung nicht vorhanden. Denn er blieb noch als Mann in ſeinem Herzen ein einfältiges frommes Kind, wie vormals da er in Schnepfenthal zu den Füßen des guten Salzmann ſaß. Nicht blinde Naturgeſetze, ſondern den Willen des lebendigen Gottes hoffte er durch ſein Forſchen zu erkennen; heilige Andacht durchſchauerte ihn ſo oft ihm eine Ahnung von dem tiefen Sinne der unbegreiflich hohen Werke aufging, und oft nannte er ſein Buch „mein Lobgeſang des Herrn“. Wenige Wiſſenſchaften hängen mit der Macht und dem Reichthum der Völker ſo innig zuſammen, wie die Erdkunde; ſie folgt in den An- fängen der Geſchichte immer den Spuren des Eroberers und des wagenden Kaufmanns, auch in geſitteten Zeiten bedarf ſie königlicher Mittel um Neues zu finden. Nur den Deutſchen iſt es gelungen, ſich zweimal allein durch die Kraft ihres Geiſtes eine führende Stellung in der geo- graphiſchen Wiſſenſchaft zu erzwingen. Als die Spanier und Portugieſen ſich in die Herrſchaft beider Indien theilten und Deutſchlands alte Han- delsgröße zuſammenbrach, da trat Copernicus dem Columbus ebenbürtig an die Seite. Wie viele Weltumſegler und Entdecker hatten ſeitdem bei den Staatsgewalten Englands, Frankreichs, ja ſelbſt Rußlands freigebige Unterſtützung gefunden. In Deutſchland, dem Lande ohne Colonien und faſt ohne Welthandel, geſchah nichts dergleichen; die Nation und ihre Re- gierungen blickten noch kaum hinaus über die armſelige Beſchränktheit ihres binnenländiſchen Stilllebens. Auf eigene Koſten mußten Alexander v. Humboldt und Leopold v. Buch ihre kühnen Reiſen unternehmen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/90>, abgerufen am 23.11.2024.