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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
Wissenschaft, ja selbst der Redlichkeit unseres Volkes noch hochgefährlich
werden sollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überschritt die Philosophie
bald die festen Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; sie ver-
schmähte sich suchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu bethätigen,
wie die Alten von ihr verlangten, sondern behauptete schlechthin eines zu
sein mit ihrem Gegenstande, dem Urwissen selbst, eines auch mit der Sitt-
lichkeit, eines sogar mit der Poesie, von der sie einst ausgegangen und
zu der sie einst wieder zurückkehren werde. Wer sich zu der Idee des
Universums erhoben hatte, bedurfte nicht mehr jener Beweise, welche der
atomistische Gelehrte mühsam aus den Schachten der empirischen Welt
emporgrub; er gewann aus der Anschauung jener Idee selbst unmittelbar
die Kraft, die Natur zu schaffen, ihren Mechanismus mit Freiheit zu beleben.

Während seines Aufenthalts in Jena hatte sich Schelling lange allein
dem Ausbau seines naturphilosophischen Systems gewidmet. Erst in den
geistvollen Vorlesungen über das akademische Studium (1803) wandte er
sich jener zweiten Offenbarung Gottes, der Welt der Geschichte zu. Ein
glücklicher Instinkt hielt ihn im Einklang mit der allgemeinen Bewegung der
Zeit. Er erkannte jetzt, "daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Le-
ben im Staate der Punkt sei, um welchen sich Alles bewegt", und arbeitete
dann in Würzburg, Erlangen, München an der Begründung seiner "ge-
schichtlichen Philosophie". Die Naturphilosophie blieb fortan seinen Schü-
lern überlassen und verfiel bald gänzlich in mystische und magische
Spielerei; der Wundermann Ennemoser sah schon die Zeit kommen, da
die Priester, im glücklichen Alleinbesitze der magnetischen Heilkunde, wieder
Leib und Seele der Völker beherrschen würden. Der Meister selbst aber
gelangte, da er in die historische Welt einkehrte, zu den fruchtbarsten und
gesundesten Gedanken seines Lebens; seinem Künstlergeiste kamen wirklich
Augenblicke der Erleuchtung, die ihm das Wesen der Dinge unmittelbar
vor die Augen führten.

Aus der Anschauung der ewigen Entwicklung des historischen Lebens
ergab sich ihm mit Bestimmtheit was Herder doch nur geahnt hatte: die
Erkenntniß, daß Recht und Religion als Offenbarungen der weltbauenden
Vernunft und darum als nothwendig werdend zu verstehen seien. Die voll-
endete Welt der Geschichte fand er in dem Staate, dem großen Kunstwerke,
das, hoch erhaben über dem Willen der einzelnen Menschen, sich selber
Zweck sei und die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in dem
äußeren Leben der Menschheit verwirkliche. Manche köstliche Aussprüche
ließen erkennen, wie tief er in das innerste Leben der Geschichte einge-
drungen war; seinem bildungsstolzen Jahrhundert rief er die Warnung zu:
"ein aufgeklärtes Volk, das Alles in Gedanken auflöst, verliert mit dem
Dunkel auch die Stärke und jenes barbarische Princip, das die Grundlage
aller Größe und Schönheit ist." Jedoch zum Abschluß gelangte seine Ge-
schichtsphilosophie niemals. Der früh erworbene Ruhm hatte den Jüng-

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
Wiſſenſchaft, ja ſelbſt der Redlichkeit unſeres Volkes noch hochgefährlich
werden ſollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überſchritt die Philoſophie
bald die feſten Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; ſie ver-
ſchmähte ſich ſuchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu bethätigen,
wie die Alten von ihr verlangten, ſondern behauptete ſchlechthin eines zu
ſein mit ihrem Gegenſtande, dem Urwiſſen ſelbſt, eines auch mit der Sitt-
lichkeit, eines ſogar mit der Poeſie, von der ſie einſt ausgegangen und
zu der ſie einſt wieder zurückkehren werde. Wer ſich zu der Idee des
Univerſums erhoben hatte, bedurfte nicht mehr jener Beweiſe, welche der
atomiſtiſche Gelehrte mühſam aus den Schachten der empiriſchen Welt
emporgrub; er gewann aus der Anſchauung jener Idee ſelbſt unmittelbar
die Kraft, die Natur zu ſchaffen, ihren Mechanismus mit Freiheit zu beleben.

Während ſeines Aufenthalts in Jena hatte ſich Schelling lange allein
dem Ausbau ſeines naturphiloſophiſchen Syſtems gewidmet. Erſt in den
geiſtvollen Vorleſungen über das akademiſche Studium (1803) wandte er
ſich jener zweiten Offenbarung Gottes, der Welt der Geſchichte zu. Ein
glücklicher Inſtinkt hielt ihn im Einklang mit der allgemeinen Bewegung der
Zeit. Er erkannte jetzt, „daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Le-
ben im Staate der Punkt ſei, um welchen ſich Alles bewegt“, und arbeitete
dann in Würzburg, Erlangen, München an der Begründung ſeiner „ge-
ſchichtlichen Philoſophie“. Die Naturphiloſophie blieb fortan ſeinen Schü-
lern überlaſſen und verfiel bald gänzlich in myſtiſche und magiſche
Spielerei; der Wundermann Ennemoſer ſah ſchon die Zeit kommen, da
die Prieſter, im glücklichen Alleinbeſitze der magnetiſchen Heilkunde, wieder
Leib und Seele der Völker beherrſchen würden. Der Meiſter ſelbſt aber
gelangte, da er in die hiſtoriſche Welt einkehrte, zu den fruchtbarſten und
geſundeſten Gedanken ſeines Lebens; ſeinem Künſtlergeiſte kamen wirklich
Augenblicke der Erleuchtung, die ihm das Weſen der Dinge unmittelbar
vor die Augen führten.

Aus der Anſchauung der ewigen Entwicklung des hiſtoriſchen Lebens
ergab ſich ihm mit Beſtimmtheit was Herder doch nur geahnt hatte: die
Erkenntniß, daß Recht und Religion als Offenbarungen der weltbauenden
Vernunft und darum als nothwendig werdend zu verſtehen ſeien. Die voll-
endete Welt der Geſchichte fand er in dem Staate, dem großen Kunſtwerke,
das, hoch erhaben über dem Willen der einzelnen Menſchen, ſich ſelber
Zweck ſei und die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in dem
äußeren Leben der Menſchheit verwirkliche. Manche köſtliche Ausſprüche
ließen erkennen, wie tief er in das innerſte Leben der Geſchichte einge-
drungen war; ſeinem bildungsſtolzen Jahrhundert rief er die Warnung zu:
„ein aufgeklärtes Volk, das Alles in Gedanken auflöſt, verliert mit dem
Dunkel auch die Stärke und jenes barbariſche Princip, das die Grundlage
aller Größe und Schönheit iſt.“ Jedoch zum Abſchluß gelangte ſeine Ge-
ſchichtsphiloſophie niemals. Der früh erworbene Ruhm hatte den Jüng-

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[84/0098] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. Wiſſenſchaft, ja ſelbſt der Redlichkeit unſeres Volkes noch hochgefährlich werden ſollte. Froh ihrer blendenden Erfolge überſchritt die Philoſophie bald die feſten Grenzen, welche ihr Kants Kritik gezogen hatte; ſie ver- ſchmähte ſich ſuchend und prüfend als Liebe zur Weisheit zu bethätigen, wie die Alten von ihr verlangten, ſondern behauptete ſchlechthin eines zu ſein mit ihrem Gegenſtande, dem Urwiſſen ſelbſt, eines auch mit der Sitt- lichkeit, eines ſogar mit der Poeſie, von der ſie einſt ausgegangen und zu der ſie einſt wieder zurückkehren werde. Wer ſich zu der Idee des Univerſums erhoben hatte, bedurfte nicht mehr jener Beweiſe, welche der atomiſtiſche Gelehrte mühſam aus den Schachten der empiriſchen Welt emporgrub; er gewann aus der Anſchauung jener Idee ſelbſt unmittelbar die Kraft, die Natur zu ſchaffen, ihren Mechanismus mit Freiheit zu beleben. Während ſeines Aufenthalts in Jena hatte ſich Schelling lange allein dem Ausbau ſeines naturphiloſophiſchen Syſtems gewidmet. Erſt in den geiſtvollen Vorleſungen über das akademiſche Studium (1803) wandte er ſich jener zweiten Offenbarung Gottes, der Welt der Geſchichte zu. Ein glücklicher Inſtinkt hielt ihn im Einklang mit der allgemeinen Bewegung der Zeit. Er erkannte jetzt, „daß die Religion, der öffentliche Glaube, das Le- ben im Staate der Punkt ſei, um welchen ſich Alles bewegt“, und arbeitete dann in Würzburg, Erlangen, München an der Begründung ſeiner „ge- ſchichtlichen Philoſophie“. Die Naturphiloſophie blieb fortan ſeinen Schü- lern überlaſſen und verfiel bald gänzlich in myſtiſche und magiſche Spielerei; der Wundermann Ennemoſer ſah ſchon die Zeit kommen, da die Prieſter, im glücklichen Alleinbeſitze der magnetiſchen Heilkunde, wieder Leib und Seele der Völker beherrſchen würden. Der Meiſter ſelbſt aber gelangte, da er in die hiſtoriſche Welt einkehrte, zu den fruchtbarſten und geſundeſten Gedanken ſeines Lebens; ſeinem Künſtlergeiſte kamen wirklich Augenblicke der Erleuchtung, die ihm das Weſen der Dinge unmittelbar vor die Augen führten. Aus der Anſchauung der ewigen Entwicklung des hiſtoriſchen Lebens ergab ſich ihm mit Beſtimmtheit was Herder doch nur geahnt hatte: die Erkenntniß, daß Recht und Religion als Offenbarungen der weltbauenden Vernunft und darum als nothwendig werdend zu verſtehen ſeien. Die voll- endete Welt der Geſchichte fand er in dem Staate, dem großen Kunſtwerke, das, hoch erhaben über dem Willen der einzelnen Menſchen, ſich ſelber Zweck ſei und die Harmonie von Nothwendigkeit und Freiheit in dem äußeren Leben der Menſchheit verwirkliche. Manche köſtliche Ausſprüche ließen erkennen, wie tief er in das innerſte Leben der Geſchichte einge- drungen war; ſeinem bildungsſtolzen Jahrhundert rief er die Warnung zu: „ein aufgeklärtes Volk, das Alles in Gedanken auflöſt, verliert mit dem Dunkel auch die Stärke und jenes barbariſche Princip, das die Grundlage aller Größe und Schönheit iſt.“ Jedoch zum Abſchluß gelangte ſeine Ge- ſchichtsphiloſophie niemals. Der früh erworbene Ruhm hatte den Jüng-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/98>, abgerufen am 27.11.2024.