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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Württemberg gegen das Veroneser Rundschreiben.
Ladung sehr unhöflich ablehnte. Wenn König Wilhelm in einem Augen-
blicke da kein Interesse seines Ländchens unmittelbar gefährdet war, den
großen Mächten den Handschuh hinwarf, so trieb ihn lediglich die ge-
reizte Eitelkeit und jener den Mittelstaaten eigenthümliche zwecklose Tha-
tendrang, der immer von Neuem zeigen mußte, daß die Kleinen auch noch
auf der Welt seien.

Wintzingerode gab, wie gewöhnlich, kopfschüttelnd dem Willen seines
Gebieters nach und sendete am 2. Januar 1823 an die württembergi-
schen Gesandtschaften ein Rundschreiben, das lebhaft an die Fabel vom
Adler und vom Zaunkönig erinnerte. Geschützt durch seine Winzigkeit
meinte der kleine Vogel die Könige der Lüfte durch schmähendes Gezwit-
scher ungestraft beleidigen zu dürfen. Alle die Vorwürfe, welche der Stutt-
garter Hof einst in ironischer Umschreibung gegen den Troppauer Con-
greß gerichtet hatte*), wiederholte er jetzt in der Form einer offenen An-
klage. Dieser König von Napoleon's Gnaden nannte die Mächte, welche
den Imperator gestürzt hatten, kurzweg "Erben des Einflusses, den Napo-
leon sich in Europa angemaßt", was um so schwerer kränken mußte, da
der Vorwurf ein Körnlein Wahrheit enthielt. Dann fuhr die Depesche
fort: "Verträge abgeschlossen, Congresse zusammenberufen im Interesse der
europäischen Völkerfamilie, ohne daß es den Staaten des zweiten Ranges
gestattet ist ihre Ansichten geltend zu machen, ihre besonderen Interessen
zu wahren; die Formen selbst, unter welchen man sie zu den Verträgen
zuläßt und ihnen die Beschlüsse der überwiegenden Mächte zu erkennen
giebt; die Erwartung der Großmächte, daß sie bei keinem ihrer Verbün-
deten einer Meinungsverschiedenheit begegnen würden -- diese verschie-
denen Neuerungen in der Diplomatie rechtfertigen wenigstens einen aus-
drücklichen Vorbehalt zu Gunsten der Rechte, welche jedem unabhängigen
Staate unveräußerlich zustehen." Zum Schluß beschwerte sich Wintzinge-
rode über die Ausschließung Württembergs vom Congresse und namentlich
über die Ausschließung des Deutschen Bundes, der doch nur zu den
Mächten ersten Ranges gezählt werden und als Ganzes seinen Theilen,
den beiden deutschen Großmächten, nimmermehr nachgestellt werden dürfe!
Ungeschickter konnte der Kampf gegen die Vormundschaft der Pentarchie
nicht eingeleitet werden; denn was hatte Württemberg mit den Angelegen-
heiten Spaniens, Italiens, Griechenlands, die in Verona allein behan-
delt worden waren, gemein? Und welch' ein phantastischer Machtdünkel
mußte die staatsmännischen Köpfe der Triaspolitik verblenden, wenn sie
nicht begriffen, daß Oesterreich und Preußen nicht bloß Theile des Deut-
schen Bundes waren und der Bund ohne sie, Dank seiner musterhaften
Kriegsverfassung, unzweifelhaft höchstens zu den Mächten zweiten Ranges
gehörte!

*) S. o. III. 125.

Württemberg gegen das Veroneſer Rundſchreiben.
Ladung ſehr unhöflich ablehnte. Wenn König Wilhelm in einem Augen-
blicke da kein Intereſſe ſeines Ländchens unmittelbar gefährdet war, den
großen Mächten den Handſchuh hinwarf, ſo trieb ihn lediglich die ge-
reizte Eitelkeit und jener den Mittelſtaaten eigenthümliche zweckloſe Tha-
tendrang, der immer von Neuem zeigen mußte, daß die Kleinen auch noch
auf der Welt ſeien.

Wintzingerode gab, wie gewöhnlich, kopfſchüttelnd dem Willen ſeines
Gebieters nach und ſendete am 2. Januar 1823 an die württembergi-
ſchen Geſandtſchaften ein Rundſchreiben, das lebhaft an die Fabel vom
Adler und vom Zaunkönig erinnerte. Geſchützt durch ſeine Winzigkeit
meinte der kleine Vogel die Könige der Lüfte durch ſchmähendes Gezwit-
ſcher ungeſtraft beleidigen zu dürfen. Alle die Vorwürfe, welche der Stutt-
garter Hof einſt in ironiſcher Umſchreibung gegen den Troppauer Con-
greß gerichtet hatte*), wiederholte er jetzt in der Form einer offenen An-
klage. Dieſer König von Napoleon’s Gnaden nannte die Mächte, welche
den Imperator geſtürzt hatten, kurzweg „Erben des Einfluſſes, den Napo-
leon ſich in Europa angemaßt“, was um ſo ſchwerer kränken mußte, da
der Vorwurf ein Körnlein Wahrheit enthielt. Dann fuhr die Depeſche
fort: „Verträge abgeſchloſſen, Congreſſe zuſammenberufen im Intereſſe der
europäiſchen Völkerfamilie, ohne daß es den Staaten des zweiten Ranges
geſtattet iſt ihre Anſichten geltend zu machen, ihre beſonderen Intereſſen
zu wahren; die Formen ſelbſt, unter welchen man ſie zu den Verträgen
zuläßt und ihnen die Beſchlüſſe der überwiegenden Mächte zu erkennen
giebt; die Erwartung der Großmächte, daß ſie bei keinem ihrer Verbün-
deten einer Meinungsverſchiedenheit begegnen würden — dieſe verſchie-
denen Neuerungen in der Diplomatie rechtfertigen wenigſtens einen aus-
drücklichen Vorbehalt zu Gunſten der Rechte, welche jedem unabhängigen
Staate unveräußerlich zuſtehen.“ Zum Schluß beſchwerte ſich Wintzinge-
rode über die Ausſchließung Württembergs vom Congreſſe und namentlich
über die Ausſchließung des Deutſchen Bundes, der doch nur zu den
Mächten erſten Ranges gezählt werden und als Ganzes ſeinen Theilen,
den beiden deutſchen Großmächten, nimmermehr nachgeſtellt werden dürfe!
Ungeſchickter konnte der Kampf gegen die Vormundſchaft der Pentarchie
nicht eingeleitet werden; denn was hatte Württemberg mit den Angelegen-
heiten Spaniens, Italiens, Griechenlands, die in Verona allein behan-
delt worden waren, gemein? Und welch’ ein phantaſtiſcher Machtdünkel
mußte die ſtaatsmänniſchen Köpfe der Triaspolitik verblenden, wenn ſie
nicht begriffen, daß Oeſterreich und Preußen nicht bloß Theile des Deut-
ſchen Bundes waren und der Bund ohne ſie, Dank ſeiner muſterhaften
Kriegsverfaſſung, unzweifelhaft höchſtens zu den Mächten zweiten Ranges
gehörte!

*) S. o. III. 125.
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[313/0329] Württemberg gegen das Veroneſer Rundſchreiben. Ladung ſehr unhöflich ablehnte. Wenn König Wilhelm in einem Augen- blicke da kein Intereſſe ſeines Ländchens unmittelbar gefährdet war, den großen Mächten den Handſchuh hinwarf, ſo trieb ihn lediglich die ge- reizte Eitelkeit und jener den Mittelſtaaten eigenthümliche zweckloſe Tha- tendrang, der immer von Neuem zeigen mußte, daß die Kleinen auch noch auf der Welt ſeien. Wintzingerode gab, wie gewöhnlich, kopfſchüttelnd dem Willen ſeines Gebieters nach und ſendete am 2. Januar 1823 an die württembergi- ſchen Geſandtſchaften ein Rundſchreiben, das lebhaft an die Fabel vom Adler und vom Zaunkönig erinnerte. Geſchützt durch ſeine Winzigkeit meinte der kleine Vogel die Könige der Lüfte durch ſchmähendes Gezwit- ſcher ungeſtraft beleidigen zu dürfen. Alle die Vorwürfe, welche der Stutt- garter Hof einſt in ironiſcher Umſchreibung gegen den Troppauer Con- greß gerichtet hatte *), wiederholte er jetzt in der Form einer offenen An- klage. Dieſer König von Napoleon’s Gnaden nannte die Mächte, welche den Imperator geſtürzt hatten, kurzweg „Erben des Einfluſſes, den Napo- leon ſich in Europa angemaßt“, was um ſo ſchwerer kränken mußte, da der Vorwurf ein Körnlein Wahrheit enthielt. Dann fuhr die Depeſche fort: „Verträge abgeſchloſſen, Congreſſe zuſammenberufen im Intereſſe der europäiſchen Völkerfamilie, ohne daß es den Staaten des zweiten Ranges geſtattet iſt ihre Anſichten geltend zu machen, ihre beſonderen Intereſſen zu wahren; die Formen ſelbſt, unter welchen man ſie zu den Verträgen zuläßt und ihnen die Beſchlüſſe der überwiegenden Mächte zu erkennen giebt; die Erwartung der Großmächte, daß ſie bei keinem ihrer Verbün- deten einer Meinungsverſchiedenheit begegnen würden — dieſe verſchie- denen Neuerungen in der Diplomatie rechtfertigen wenigſtens einen aus- drücklichen Vorbehalt zu Gunſten der Rechte, welche jedem unabhängigen Staate unveräußerlich zuſtehen.“ Zum Schluß beſchwerte ſich Wintzinge- rode über die Ausſchließung Württembergs vom Congreſſe und namentlich über die Ausſchließung des Deutſchen Bundes, der doch nur zu den Mächten erſten Ranges gezählt werden und als Ganzes ſeinen Theilen, den beiden deutſchen Großmächten, nimmermehr nachgeſtellt werden dürfe! Ungeſchickter konnte der Kampf gegen die Vormundſchaft der Pentarchie nicht eingeleitet werden; denn was hatte Württemberg mit den Angelegen- heiten Spaniens, Italiens, Griechenlands, die in Verona allein behan- delt worden waren, gemein? Und welch’ ein phantaſtiſcher Machtdünkel mußte die ſtaatsmänniſchen Köpfe der Triaspolitik verblenden, wenn ſie nicht begriffen, daß Oeſterreich und Preußen nicht bloß Theile des Deut- ſchen Bundes waren und der Bund ohne ſie, Dank ſeiner muſterhaften Kriegsverfaſſung, unzweifelhaft höchſtens zu den Mächten zweiten Ranges gehörte! *) S. o. III. 125.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/329>, abgerufen am 22.11.2024.