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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
Neander hielten nicht für gerathen ihn über Alles zu unterrichten. So
wurden denn für den guten Zweck zuweilen auch Mittel angewendet,
welche der Simonie nahe kamen. Mitten im bildungsstolzen neunzehnten
Jahrhundert wiederholten sich, minder gewaltsam, aber kaum minder ge-
hässig, die Gewissensbedrängnisse jenes traurigen Zeitalters der Concor-
dienformeln, da die kursächsische Pfarrerin zu ihrem Gatten sagte: schreibet,
lieber Herre, schreibt, daß Ihr bei der Pfarre bleibt! Eine Cabinetsordre
legte den Pfarrern den Wunsch des Monarchen ans Herz und versprach:
"die Geistlichen, die was noth thut richtig auffassen", würden im Ge-
dächtniß des Königs bleiben. Manche der Nachgiebigen erhielten den
rothen Adlerorden -- non propter acta, sed propter agenda, wie
Schleiermacher spottete -- und Jedem, der sich widerspänstig zeigte, wurde
die bei Amtsjubelfesten übliche Auszeichnung grundsätzlich vorenthalten.
Der Direktor des brandenburgischen Consistoriums Keßler, ein trefflicher,
keineswegs streng confessionell gesinnter Beamter, ließ sich ins Finanz-
ministerium versetzen, weil er den kleinlichen Jammer dieses Agendestreits
nicht mehr ansehen konnte. Und ein Jammer war es doch, wenn Eylert
als königlicher Commissar in dem Fräuleinstifte zum Heiligen Grabe er-
schien um die frommen Seelen der alten Klosterdamen zu besänftigen,
oder wenn gar der Oberpräsident von Sachsen persönlich die lutherischen
Bauern im Dorfe Bergwitz bereden mußte, daß sie ihre Zustimmung zu
dem gefürchteten "schwarzen Buche" nicht wieder zurücknähmen.

Mit Kummer bemerkte der Kronprinz, wie viel Niederträchtigkeit dieser
Streit zu Tage brachte: feige Liebedienerei auf der einen, lieblosen Starr-
sinn auf der anderen Seite. In den Kleinstaaten aber, wo man alle
preußischen Sünden schadenfroh willkommen hieß, haftete fortan ein Makel
an dem Namen der Union, und jeder weitere Fortschritt der Kirchenver-
einigung über Preußens Grenzen hinaus ward unmöglich.*) Im Jahre
1827 hatten sich schon fast sechs Siebentel der evangelischen Gemeinden der
Monarchie für die Annahme der Agende erklärt. Inzwischen war der König
durch Schleiermacher's Widerspruch auf das Grundgebrechen seines Werkes
aufmerksam geworden, und vielleicht noch tiefer berührte ihn der Wider-
spruch des Königsberger Superintendenten Kähler, der in einer muthigen
Schrift, ohne die Agende selbst zu bekämpfen, doch die aufgebotenen poli-
tischen Machtmittel entschieden verwarf. Friedrich Wilhelm bemühte sich
jetzt redlich, die strenge Einförmigkeit der gegebenen Regel zu mildern. Er
berieth sich wiederholt mit namhaften Theologen und ließ sodann durch
Bischof Neander's geschickte Hand Nachträge zur Agende ausarbeiten, welche

*) Das Buch von Wangemann, die kirchliche Kabinetspolitik Friedr. Wilh. III.
(Berlin 1884) bringt zwar manche dankenswerthe neue Mittheilungen; ich kann aber
nicht finden, daß dem Verfasser die Rechtfertigung des Verfahrens der Regierung ge-
lungen wäre.

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
Neander hielten nicht für gerathen ihn über Alles zu unterrichten. So
wurden denn für den guten Zweck zuweilen auch Mittel angewendet,
welche der Simonie nahe kamen. Mitten im bildungsſtolzen neunzehnten
Jahrhundert wiederholten ſich, minder gewaltſam, aber kaum minder ge-
häſſig, die Gewiſſensbedrängniſſe jenes traurigen Zeitalters der Concor-
dienformeln, da die kurſächſiſche Pfarrerin zu ihrem Gatten ſagte: ſchreibet,
lieber Herre, ſchreibt, daß Ihr bei der Pfarre bleibt! Eine Cabinetsordre
legte den Pfarrern den Wunſch des Monarchen ans Herz und verſprach:
„die Geiſtlichen, die was noth thut richtig auffaſſen“, würden im Ge-
dächtniß des Königs bleiben. Manche der Nachgiebigen erhielten den
rothen Adlerorden — non propter acta, sed propter agenda, wie
Schleiermacher ſpottete — und Jedem, der ſich widerſpänſtig zeigte, wurde
die bei Amtsjubelfeſten übliche Auszeichnung grundſätzlich vorenthalten.
Der Direktor des brandenburgiſchen Conſiſtoriums Keßler, ein trefflicher,
keineswegs ſtreng confeſſionell geſinnter Beamter, ließ ſich ins Finanz-
miniſterium verſetzen, weil er den kleinlichen Jammer dieſes Agendeſtreits
nicht mehr anſehen konnte. Und ein Jammer war es doch, wenn Eylert
als königlicher Commiſſar in dem Fräuleinſtifte zum Heiligen Grabe er-
ſchien um die frommen Seelen der alten Kloſterdamen zu beſänftigen,
oder wenn gar der Oberpräſident von Sachſen perſönlich die lutheriſchen
Bauern im Dorfe Bergwitz bereden mußte, daß ſie ihre Zuſtimmung zu
dem gefürchteten „ſchwarzen Buche“ nicht wieder zurücknähmen.

Mit Kummer bemerkte der Kronprinz, wie viel Niederträchtigkeit dieſer
Streit zu Tage brachte: feige Liebedienerei auf der einen, liebloſen Starr-
ſinn auf der anderen Seite. In den Kleinſtaaten aber, wo man alle
preußiſchen Sünden ſchadenfroh willkommen hieß, haftete fortan ein Makel
an dem Namen der Union, und jeder weitere Fortſchritt der Kirchenver-
einigung über Preußens Grenzen hinaus ward unmöglich.*) Im Jahre
1827 hatten ſich ſchon faſt ſechs Siebentel der evangeliſchen Gemeinden der
Monarchie für die Annahme der Agende erklärt. Inzwiſchen war der König
durch Schleiermacher’s Widerſpruch auf das Grundgebrechen ſeines Werkes
aufmerkſam geworden, und vielleicht noch tiefer berührte ihn der Wider-
ſpruch des Königsberger Superintendenten Kähler, der in einer muthigen
Schrift, ohne die Agende ſelbſt zu bekämpfen, doch die aufgebotenen poli-
tiſchen Machtmittel entſchieden verwarf. Friedrich Wilhelm bemühte ſich
jetzt redlich, die ſtrenge Einförmigkeit der gegebenen Regel zu mildern. Er
berieth ſich wiederholt mit namhaften Theologen und ließ ſodann durch
Biſchof Neander’s geſchickte Hand Nachträge zur Agende ausarbeiten, welche

*) Das Buch von Wangemann, die kirchliche Kabinetspolitik Friedr. Wilh. III.
(Berlin 1884) bringt zwar manche dankenswerthe neue Mittheilungen; ich kann aber
nicht finden, daß dem Verfaſſer die Rechtfertigung des Verfahrens der Regierung ge-
lungen wäre.
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[402/0418] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. Neander hielten nicht für gerathen ihn über Alles zu unterrichten. So wurden denn für den guten Zweck zuweilen auch Mittel angewendet, welche der Simonie nahe kamen. Mitten im bildungsſtolzen neunzehnten Jahrhundert wiederholten ſich, minder gewaltſam, aber kaum minder ge- häſſig, die Gewiſſensbedrängniſſe jenes traurigen Zeitalters der Concor- dienformeln, da die kurſächſiſche Pfarrerin zu ihrem Gatten ſagte: ſchreibet, lieber Herre, ſchreibt, daß Ihr bei der Pfarre bleibt! Eine Cabinetsordre legte den Pfarrern den Wunſch des Monarchen ans Herz und verſprach: „die Geiſtlichen, die was noth thut richtig auffaſſen“, würden im Ge- dächtniß des Königs bleiben. Manche der Nachgiebigen erhielten den rothen Adlerorden — non propter acta, sed propter agenda, wie Schleiermacher ſpottete — und Jedem, der ſich widerſpänſtig zeigte, wurde die bei Amtsjubelfeſten übliche Auszeichnung grundſätzlich vorenthalten. Der Direktor des brandenburgiſchen Conſiſtoriums Keßler, ein trefflicher, keineswegs ſtreng confeſſionell geſinnter Beamter, ließ ſich ins Finanz- miniſterium verſetzen, weil er den kleinlichen Jammer dieſes Agendeſtreits nicht mehr anſehen konnte. Und ein Jammer war es doch, wenn Eylert als königlicher Commiſſar in dem Fräuleinſtifte zum Heiligen Grabe er- ſchien um die frommen Seelen der alten Kloſterdamen zu beſänftigen, oder wenn gar der Oberpräſident von Sachſen perſönlich die lutheriſchen Bauern im Dorfe Bergwitz bereden mußte, daß ſie ihre Zuſtimmung zu dem gefürchteten „ſchwarzen Buche“ nicht wieder zurücknähmen. Mit Kummer bemerkte der Kronprinz, wie viel Niederträchtigkeit dieſer Streit zu Tage brachte: feige Liebedienerei auf der einen, liebloſen Starr- ſinn auf der anderen Seite. In den Kleinſtaaten aber, wo man alle preußiſchen Sünden ſchadenfroh willkommen hieß, haftete fortan ein Makel an dem Namen der Union, und jeder weitere Fortſchritt der Kirchenver- einigung über Preußens Grenzen hinaus ward unmöglich. *) Im Jahre 1827 hatten ſich ſchon faſt ſechs Siebentel der evangeliſchen Gemeinden der Monarchie für die Annahme der Agende erklärt. Inzwiſchen war der König durch Schleiermacher’s Widerſpruch auf das Grundgebrechen ſeines Werkes aufmerkſam geworden, und vielleicht noch tiefer berührte ihn der Wider- ſpruch des Königsberger Superintendenten Kähler, der in einer muthigen Schrift, ohne die Agende ſelbſt zu bekämpfen, doch die aufgebotenen poli- tiſchen Machtmittel entſchieden verwarf. Friedrich Wilhelm bemühte ſich jetzt redlich, die ſtrenge Einförmigkeit der gegebenen Regel zu mildern. Er berieth ſich wiederholt mit namhaften Theologen und ließ ſodann durch Biſchof Neander’s geſchickte Hand Nachträge zur Agende ausarbeiten, welche *) Das Buch von Wangemann, die kirchliche Kabinetspolitik Friedr. Wilh. III. (Berlin 1884) bringt zwar manche dankenswerthe neue Mittheilungen; ich kann aber nicht finden, daß dem Verfaſſer die Rechtfertigung des Verfahrens der Regierung ge- lungen wäre.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/418>, abgerufen am 24.11.2024.