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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
werden konnte; Niemand hatte über die Lebensbedingungen einer selbstän-
digen Unionskirche schon so gründlich und besonnen nachgedacht, wie dieser
Meister der praktischen Theologie, dessen organisatorische Gaben das Kir-
chenregiment leider nicht zu benutzen verstand. --

Da die namhaften Widersacher der Agende so über Erwarten schnell
verstummten, so fühlte sich Altenstein wieder vollkommen sicher und
rechnete auf eine lange Zeit ungestörten kirchlichen Friedens. Aber seine
Hoffnung erwies sich nur zu bald als irrig. Erst nachdem die Agende in
der Landeskirche fast überall eingeführt war, versammelten sich die Altluthe-
raner Schlesiens zu verzweifeltem Widerstande, und fast noch ein Jahr-
zehnt hindurch sollte der Minister mit diesen Unversöhnlichen zu ringen
haben. Mittlerweile erhob sich im Schooße der Unionskirche selbst eine
Parteibewegung, welche mit der Zeit den Bestand der Union, den weit-
herzigen, duldsamen Geist der preußischen Landeskirche zu gefährden drohte.
Im Jahre 1827 gründete der Westphale Wilhelm Hengstenberg, erst fünf-
undzwanzigjährig, in Berlin die Evangelische Kirchenzeitung, ein Anhänger
der unbedingten Autorität in Staat und Kirche, als Gelehrter wenig be-
deutend, aber wie geschaffen zum unermüdlichen Führer einer pfäffischen
Partei, hartherzig, herrschsüchtig, weltklug, aus demselben Holze geschnitzt
wie einst die Ketzerrichter Hogstraten und Torquemada. Als Reformirter
erzogen und in seiner Jugend durchaus weltlich gesinnt, hatte er sich dann
in Basel plötzlich einem strengen Bibelglauben zugewendet, und verdammte
fortan Jeden, der von diesen Glaubensformeln nur um eines Nagels
Breite abwich, mit dem Bannfluch "christliche Wahrheit hat er nicht."
Was er christliche Wahrheit nannte, war lediglich eine moderne Form
jener alten Orthodoxie, welche im siebzehnten Jahrhundert das Luther-
thum so tief herabgebracht hatte, versetzt mit einigen pietistischen Ideen,
nur daß die Gemüthsinnigkeit des Pietismus, der ja einst aus dem
Kampfe gegen den Buchstabenglauben erwachsen war, der trockenen Natur
Hengstenberg's nie recht zusagte. Er hatte soeben die Verordnung Alten-
stein's gegen die Separatisten und Mystiker eifrig vertheidigt -- in einem
seltsamen Büchlein, das immer wieder auf den Satz zurückkam, die Ratio-
nalisten seien noch weit unchristlicher als jene verworfenen Sektirer, -- und
trat nachher auch gegen die Altlutheraner auf, weil sie die oberstbischöf-
liche Gewalt des Landesherrn bestritten; aber früher oder später mußte
eine Partei, welche schlechterdings keine andere Richtung neben sich dulden
wollte, selber zur Feindin der Union werden.

Zunächst galt es den Rationalismus zu vernichten, und er war in
der That längst reif zum Untergange. Nur in Halle behauptete er noch
die Alleinherrschaft, in Berlin und Bonn ging ihm der Nachwuchs aus,
da die jungen Talente sich allesammt den Lehren Schleiermacher's und
Nitzsch's zuwendeten. Von allen Seiten her schritten seine Gegner zum
Angriff vor, seit der Leipziger Theolog Hahn zuerst die Behauptung ge-

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
werden konnte; Niemand hatte über die Lebensbedingungen einer ſelbſtän-
digen Unionskirche ſchon ſo gründlich und beſonnen nachgedacht, wie dieſer
Meiſter der praktiſchen Theologie, deſſen organiſatoriſche Gaben das Kir-
chenregiment leider nicht zu benutzen verſtand. —

Da die namhaften Widerſacher der Agende ſo über Erwarten ſchnell
verſtummten, ſo fühlte ſich Altenſtein wieder vollkommen ſicher und
rechnete auf eine lange Zeit ungeſtörten kirchlichen Friedens. Aber ſeine
Hoffnung erwies ſich nur zu bald als irrig. Erſt nachdem die Agende in
der Landeskirche faſt überall eingeführt war, verſammelten ſich die Altluthe-
raner Schleſiens zu verzweifeltem Widerſtande, und faſt noch ein Jahr-
zehnt hindurch ſollte der Miniſter mit dieſen Unverſöhnlichen zu ringen
haben. Mittlerweile erhob ſich im Schooße der Unionskirche ſelbſt eine
Parteibewegung, welche mit der Zeit den Beſtand der Union, den weit-
herzigen, duldſamen Geiſt der preußiſchen Landeskirche zu gefährden drohte.
Im Jahre 1827 gründete der Weſtphale Wilhelm Hengſtenberg, erſt fünf-
undzwanzigjährig, in Berlin die Evangeliſche Kirchenzeitung, ein Anhänger
der unbedingten Autorität in Staat und Kirche, als Gelehrter wenig be-
deutend, aber wie geſchaffen zum unermüdlichen Führer einer pfäffiſchen
Partei, hartherzig, herrſchſüchtig, weltklug, aus demſelben Holze geſchnitzt
wie einſt die Ketzerrichter Hogſtraten und Torquemada. Als Reformirter
erzogen und in ſeiner Jugend durchaus weltlich geſinnt, hatte er ſich dann
in Baſel plötzlich einem ſtrengen Bibelglauben zugewendet, und verdammte
fortan Jeden, der von dieſen Glaubensformeln nur um eines Nagels
Breite abwich, mit dem Bannfluch „chriſtliche Wahrheit hat er nicht.“
Was er chriſtliche Wahrheit nannte, war lediglich eine moderne Form
jener alten Orthodoxie, welche im ſiebzehnten Jahrhundert das Luther-
thum ſo tief herabgebracht hatte, verſetzt mit einigen pietiſtiſchen Ideen,
nur daß die Gemüthsinnigkeit des Pietismus, der ja einſt aus dem
Kampfe gegen den Buchſtabenglauben erwachſen war, der trockenen Natur
Hengſtenberg’s nie recht zuſagte. Er hatte ſoeben die Verordnung Alten-
ſtein’s gegen die Separatiſten und Myſtiker eifrig vertheidigt — in einem
ſeltſamen Büchlein, das immer wieder auf den Satz zurückkam, die Ratio-
naliſten ſeien noch weit unchriſtlicher als jene verworfenen Sektirer, — und
trat nachher auch gegen die Altlutheraner auf, weil ſie die oberſtbiſchöf-
liche Gewalt des Landesherrn beſtritten; aber früher oder ſpäter mußte
eine Partei, welche ſchlechterdings keine andere Richtung neben ſich dulden
wollte, ſelber zur Feindin der Union werden.

Zunächſt galt es den Rationalismus zu vernichten, und er war in
der That längſt reif zum Untergange. Nur in Halle behauptete er noch
die Alleinherrſchaft, in Berlin und Bonn ging ihm der Nachwuchs aus,
da die jungen Talente ſich alleſammt den Lehren Schleiermacher’s und
Nitzſch’s zuwendeten. Von allen Seiten her ſchritten ſeine Gegner zum
Angriff vor, ſeit der Leipziger Theolog Hahn zuerſt die Behauptung ge-

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[404/0420] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. werden konnte; Niemand hatte über die Lebensbedingungen einer ſelbſtän- digen Unionskirche ſchon ſo gründlich und beſonnen nachgedacht, wie dieſer Meiſter der praktiſchen Theologie, deſſen organiſatoriſche Gaben das Kir- chenregiment leider nicht zu benutzen verſtand. — Da die namhaften Widerſacher der Agende ſo über Erwarten ſchnell verſtummten, ſo fühlte ſich Altenſtein wieder vollkommen ſicher und rechnete auf eine lange Zeit ungeſtörten kirchlichen Friedens. Aber ſeine Hoffnung erwies ſich nur zu bald als irrig. Erſt nachdem die Agende in der Landeskirche faſt überall eingeführt war, verſammelten ſich die Altluthe- raner Schleſiens zu verzweifeltem Widerſtande, und faſt noch ein Jahr- zehnt hindurch ſollte der Miniſter mit dieſen Unverſöhnlichen zu ringen haben. Mittlerweile erhob ſich im Schooße der Unionskirche ſelbſt eine Parteibewegung, welche mit der Zeit den Beſtand der Union, den weit- herzigen, duldſamen Geiſt der preußiſchen Landeskirche zu gefährden drohte. Im Jahre 1827 gründete der Weſtphale Wilhelm Hengſtenberg, erſt fünf- undzwanzigjährig, in Berlin die Evangeliſche Kirchenzeitung, ein Anhänger der unbedingten Autorität in Staat und Kirche, als Gelehrter wenig be- deutend, aber wie geſchaffen zum unermüdlichen Führer einer pfäffiſchen Partei, hartherzig, herrſchſüchtig, weltklug, aus demſelben Holze geſchnitzt wie einſt die Ketzerrichter Hogſtraten und Torquemada. Als Reformirter erzogen und in ſeiner Jugend durchaus weltlich geſinnt, hatte er ſich dann in Baſel plötzlich einem ſtrengen Bibelglauben zugewendet, und verdammte fortan Jeden, der von dieſen Glaubensformeln nur um eines Nagels Breite abwich, mit dem Bannfluch „chriſtliche Wahrheit hat er nicht.“ Was er chriſtliche Wahrheit nannte, war lediglich eine moderne Form jener alten Orthodoxie, welche im ſiebzehnten Jahrhundert das Luther- thum ſo tief herabgebracht hatte, verſetzt mit einigen pietiſtiſchen Ideen, nur daß die Gemüthsinnigkeit des Pietismus, der ja einſt aus dem Kampfe gegen den Buchſtabenglauben erwachſen war, der trockenen Natur Hengſtenberg’s nie recht zuſagte. Er hatte ſoeben die Verordnung Alten- ſtein’s gegen die Separatiſten und Myſtiker eifrig vertheidigt — in einem ſeltſamen Büchlein, das immer wieder auf den Satz zurückkam, die Ratio- naliſten ſeien noch weit unchriſtlicher als jene verworfenen Sektirer, — und trat nachher auch gegen die Altlutheraner auf, weil ſie die oberſtbiſchöf- liche Gewalt des Landesherrn beſtritten; aber früher oder ſpäter mußte eine Partei, welche ſchlechterdings keine andere Richtung neben ſich dulden wollte, ſelber zur Feindin der Union werden. Zunächſt galt es den Rationalismus zu vernichten, und er war in der That längſt reif zum Untergange. Nur in Halle behauptete er noch die Alleinherrſchaft, in Berlin und Bonn ging ihm der Nachwuchs aus, da die jungen Talente ſich alleſammt den Lehren Schleiermacher’s und Nitzſch’s zuwendeten. Von allen Seiten her ſchritten ſeine Gegner zum Angriff vor, ſeit der Leipziger Theolog Hahn zuerſt die Behauptung ge-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/420>, abgerufen am 24.11.2024.