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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Schifffahrtsvertrag mit England.
Stralsund. Statt der unbrauchbaren alten Schiffe wurden neue gebaut,
in geringerer Zahl, aber stärker und von größerer Tragfähigkeit; im Jahre
1830 zählte die Handelsflotte wieder 643 gute Schiffe mit 75,079 Last.
Immerhin blieb der Fortschritt sehr mühsam; von dem Schiffsverkehr der
preußischen Häfen kam (1828) nur die Hälfte auf die heimische Flagge,
mehr als ein Viertel der aus- und eingehenden Schiffe war englisch. --

So erfreulich dies langsame Erstarken war, Motz wußte wohl, daß
sein Staat weit Größeres leisten könnte, wenn er nur nicht überall durch
die mißgünstige Handelspolitik seiner zahllosen Nachbarn gehemmt würde.
Noch am günstigsten gestaltete sich, nach einigen Jahren der Feindseligkeit,
das Verhältniß zu England. Da das Inselreich an der Navigationsakte
Cromwell's hartnäckig festhielt und der Danziger Handel unter den eng-
lischen Schifffahrtsabgaben fast erlag, so griff Preußen zu Retorsionen
und belegte (20. Juni 1822) die Schiffe aller Nationen, welche nicht volle
Gegenseitigkeit gewährten, mit einem hohen Flaggengelde. Auf die Be-
schwerde des englischen Hofes gab man die kühle Antwort, in diese häus-
liche Angelegenheit habe sich das Ausland nicht zu mischen. Der preu-
ßische Gesandte erklärte: nach der Ansicht seines königlichen Herrn seien
gegenseitige Handelsbeschränkungen nur gegenseitiges Unrecht; Preußens
Politik gehe dahin, gegenseitige Erleichterungen an die Stelle der Be-
schränkungen zu setzen; jedoch der König verlange Reciprocität und werde
im Nothfall die Flaggengelder noch erhöhen. Huskisson, der Präsident
des Handelsamtes, bekannte, daß er der Sprache der Billigkeit nichts ent-
gegen zu setzen wisse. Er sah, was auf dem Spiele stand; die englische
Ausfuhr nach Preußen erreichte bereits einen Werth von mindestens
7 Mill. £., während Preußen kaum halb so viel nach England ausführte.

Das entschlossene Auftreten des Berliner Hofes bot dem klugen Manne
die erwünschte Handhabe, eine Reform der englischen Handelspolitik zu ver-
suchen. Wohl regte sich im Parlamente wieder der altenglische unwissende
Hochmuth; acht Jahre nachdem die Preußen das Heer Wellington's bei
Waterloo gerettet hatten, nannte ein Redner das preußische Flaggengelder-
gesetz "den anmaßenden Machtspruch eines kleinen deutschen Fürsten."
Huskisson selber ahnte kaum, welche Macht der preußische Staat in seinem
Inneren barg; er meinte herablassend, es stehe der Würde Englands übel
an, gegen den Schwachen ein anderes Recht als gegen den Starken anzu-
wenden. Der anmaßende kleine deutsche Fürst setzte endlich seinen Willen
durch. Das Parlament gab der Krone Vollmacht zu Reciprocitäts-Ver-
trägen, und am 2. April 1824 ward zuerst mit Preußen ein Schifffahrts-
vertrag abgeschlossen, welcher die Flaggen beider Theile vollkommen gleich-
stellte. Zwei Jahre darauf wurde diese Vergünstigung, welche England
in Europa bisher nur seinem Schützling Portugal zugestanden hatte, auch
dem preußischen Handel mit den Kolonien gewährt. Nachher folgten in
langer Reihe ähnliche Verträge mit anderen Handelsvölkern, die Naviga-

Schifffahrtsvertrag mit England.
Stralſund. Statt der unbrauchbaren alten Schiffe wurden neue gebaut,
in geringerer Zahl, aber ſtärker und von größerer Tragfähigkeit; im Jahre
1830 zählte die Handelsflotte wieder 643 gute Schiffe mit 75,079 Laſt.
Immerhin blieb der Fortſchritt ſehr mühſam; von dem Schiffsverkehr der
preußiſchen Häfen kam (1828) nur die Hälfte auf die heimiſche Flagge,
mehr als ein Viertel der aus- und eingehenden Schiffe war engliſch. —

So erfreulich dies langſame Erſtarken war, Motz wußte wohl, daß
ſein Staat weit Größeres leiſten könnte, wenn er nur nicht überall durch
die mißgünſtige Handelspolitik ſeiner zahlloſen Nachbarn gehemmt würde.
Noch am günſtigſten geſtaltete ſich, nach einigen Jahren der Feindſeligkeit,
das Verhältniß zu England. Da das Inſelreich an der Navigationsakte
Cromwell’s hartnäckig feſthielt und der Danziger Handel unter den eng-
liſchen Schifffahrtsabgaben faſt erlag, ſo griff Preußen zu Retorſionen
und belegte (20. Juni 1822) die Schiffe aller Nationen, welche nicht volle
Gegenſeitigkeit gewährten, mit einem hohen Flaggengelde. Auf die Be-
ſchwerde des engliſchen Hofes gab man die kühle Antwort, in dieſe häus-
liche Angelegenheit habe ſich das Ausland nicht zu miſchen. Der preu-
ßiſche Geſandte erklärte: nach der Anſicht ſeines königlichen Herrn ſeien
gegenſeitige Handelsbeſchränkungen nur gegenſeitiges Unrecht; Preußens
Politik gehe dahin, gegenſeitige Erleichterungen an die Stelle der Be-
ſchränkungen zu ſetzen; jedoch der König verlange Reciprocität und werde
im Nothfall die Flaggengelder noch erhöhen. Huskiſſon, der Präſident
des Handelsamtes, bekannte, daß er der Sprache der Billigkeit nichts ent-
gegen zu ſetzen wiſſe. Er ſah, was auf dem Spiele ſtand; die engliſche
Ausfuhr nach Preußen erreichte bereits einen Werth von mindeſtens
7 Mill. £., während Preußen kaum halb ſo viel nach England ausführte.

Das entſchloſſene Auftreten des Berliner Hofes bot dem klugen Manne
die erwünſchte Handhabe, eine Reform der engliſchen Handelspolitik zu ver-
ſuchen. Wohl regte ſich im Parlamente wieder der altengliſche unwiſſende
Hochmuth; acht Jahre nachdem die Preußen das Heer Wellington’s bei
Waterloo gerettet hatten, nannte ein Redner das preußiſche Flaggengelder-
geſetz „den anmaßenden Machtſpruch eines kleinen deutſchen Fürſten.“
Huskiſſon ſelber ahnte kaum, welche Macht der preußiſche Staat in ſeinem
Inneren barg; er meinte herablaſſend, es ſtehe der Würde Englands übel
an, gegen den Schwachen ein anderes Recht als gegen den Starken anzu-
wenden. Der anmaßende kleine deutſche Fürſt ſetzte endlich ſeinen Willen
durch. Das Parlament gab der Krone Vollmacht zu Reciprocitäts-Ver-
trägen, und am 2. April 1824 ward zuerſt mit Preußen ein Schifffahrts-
vertrag abgeſchloſſen, welcher die Flaggen beider Theile vollkommen gleich-
ſtellte. Zwei Jahre darauf wurde dieſe Vergünſtigung, welche England
in Europa bisher nur ſeinem Schützling Portugal zugeſtanden hatte, auch
dem preußiſchen Handel mit den Kolonien gewährt. Nachher folgten in
langer Reihe ähnliche Verträge mit anderen Handelsvölkern, die Naviga-

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[469/0485] Schifffahrtsvertrag mit England. Stralſund. Statt der unbrauchbaren alten Schiffe wurden neue gebaut, in geringerer Zahl, aber ſtärker und von größerer Tragfähigkeit; im Jahre 1830 zählte die Handelsflotte wieder 643 gute Schiffe mit 75,079 Laſt. Immerhin blieb der Fortſchritt ſehr mühſam; von dem Schiffsverkehr der preußiſchen Häfen kam (1828) nur die Hälfte auf die heimiſche Flagge, mehr als ein Viertel der aus- und eingehenden Schiffe war engliſch. — So erfreulich dies langſame Erſtarken war, Motz wußte wohl, daß ſein Staat weit Größeres leiſten könnte, wenn er nur nicht überall durch die mißgünſtige Handelspolitik ſeiner zahlloſen Nachbarn gehemmt würde. Noch am günſtigſten geſtaltete ſich, nach einigen Jahren der Feindſeligkeit, das Verhältniß zu England. Da das Inſelreich an der Navigationsakte Cromwell’s hartnäckig feſthielt und der Danziger Handel unter den eng- liſchen Schifffahrtsabgaben faſt erlag, ſo griff Preußen zu Retorſionen und belegte (20. Juni 1822) die Schiffe aller Nationen, welche nicht volle Gegenſeitigkeit gewährten, mit einem hohen Flaggengelde. Auf die Be- ſchwerde des engliſchen Hofes gab man die kühle Antwort, in dieſe häus- liche Angelegenheit habe ſich das Ausland nicht zu miſchen. Der preu- ßiſche Geſandte erklärte: nach der Anſicht ſeines königlichen Herrn ſeien gegenſeitige Handelsbeſchränkungen nur gegenſeitiges Unrecht; Preußens Politik gehe dahin, gegenſeitige Erleichterungen an die Stelle der Be- ſchränkungen zu ſetzen; jedoch der König verlange Reciprocität und werde im Nothfall die Flaggengelder noch erhöhen. Huskiſſon, der Präſident des Handelsamtes, bekannte, daß er der Sprache der Billigkeit nichts ent- gegen zu ſetzen wiſſe. Er ſah, was auf dem Spiele ſtand; die engliſche Ausfuhr nach Preußen erreichte bereits einen Werth von mindeſtens 7 Mill. £., während Preußen kaum halb ſo viel nach England ausführte. Das entſchloſſene Auftreten des Berliner Hofes bot dem klugen Manne die erwünſchte Handhabe, eine Reform der engliſchen Handelspolitik zu ver- ſuchen. Wohl regte ſich im Parlamente wieder der altengliſche unwiſſende Hochmuth; acht Jahre nachdem die Preußen das Heer Wellington’s bei Waterloo gerettet hatten, nannte ein Redner das preußiſche Flaggengelder- geſetz „den anmaßenden Machtſpruch eines kleinen deutſchen Fürſten.“ Huskiſſon ſelber ahnte kaum, welche Macht der preußiſche Staat in ſeinem Inneren barg; er meinte herablaſſend, es ſtehe der Würde Englands übel an, gegen den Schwachen ein anderes Recht als gegen den Starken anzu- wenden. Der anmaßende kleine deutſche Fürſt ſetzte endlich ſeinen Willen durch. Das Parlament gab der Krone Vollmacht zu Reciprocitäts-Ver- trägen, und am 2. April 1824 ward zuerſt mit Preußen ein Schifffahrts- vertrag abgeſchloſſen, welcher die Flaggen beider Theile vollkommen gleich- ſtellte. Zwei Jahre darauf wurde dieſe Vergünſtigung, welche England in Europa bisher nur ſeinem Schützling Portugal zugeſtanden hatte, auch dem preußiſchen Handel mit den Kolonien gewährt. Nachher folgten in langer Reihe ähnliche Verträge mit anderen Handelsvölkern, die Naviga-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 469. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/485>, abgerufen am 22.11.2024.