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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 6. Preußische Zustände nach Hardenberg's Tod.
pflichtet. Der Plan, die Grenzbewachung allein in Preußens Hände
zu legen, war mithin aufgegeben. Nur noch ein kleiner Schritt weiter,
und man mußte erkennen, daß auch die doppelte Vereidigung der Zoll-
beamten dem Dünkel der kleinen Höfe unerträglich sei, blos eine gegen-
seitige Controle der Zollverwaltung sich erlangen lasse. Preußen hatte
sein letztes Wort noch nicht gesprochen; die Denkschrift verhehlte nicht, daß
der Berliner Hof gefaßt sein müsse auf noch größere Zugeständnisse. "Wird
nur der Zweck erreicht -- die wirkliche Einführung des preußischen Zoll-
und Consumtionssteuer-Systems und die Verfolgung der Contraventionen
-- so kann man über Formalitäten, die durch öffentliche Unterordnung
der jenseitigen Souveränitätsrechte anstößig werden dürften, leichter hin-
weggehn." Zum Schluß wird ein wichtiger Gedanke entwickelt, den das
preußische Cabinet fortan getreulich festhielt und weiter verfolgte: Sollte
Kurhessen nur gegenseitige Eingangsbegünstigungen wünschen, so wäre dies
für Preußen, wegen unserer höheren Zölle, nicht blos kostspieliger, sondern
auch gefährlicher; die völlige Verschmelzung der beiden Zollsysteme bleibt
in jeder Hinsicht vorzuziehen. -- In der That, nicht die Höhe der Binnen-
zölle lähmte den deutschen Handel, sondern das Dasein der Binnen-
mauthen selber; jede Reform, die nicht an diese Wurzel des Uebels die
Axt legte, blieb ein Mißgriff.

Leider hatten diese verständigen Grundsätze für den Augenblick gar
keine Wirkung; denn die Verfasser der Denkschrift hielten sich noch buch-
stäblich an das Programm von 1819. Sie wollten in gerader Linie "von
Grenze zu Grenze" vorgehen, von dem nächsten Nachbar zu dem ent-
fernteren. Was schien auch einfacher als der Plan, zunächst die angren-
zenden Staaten zu gewinnen, die im unmittelbaren Bereiche der preu-
ßischen Macht lagen, und dann erst zu versuchen, ob das geeinte Nord-
deutschland vielleicht mit dem Süden sich verständigen könne? Und doch
war dieser gerade Weg ganz ungangbar. Die Denkschrift selber gesteht,
daß der allen Neuerungen abgeneigte Dresdner Hof sich, schon wegen der
Leipziger Messen, dem preußischen Zollwesen fernhalten werde. Hannover,
als ein Brückenkopf Englands, wird gar nicht erwähnt, ebenso wenig das
dänische Holstein. Thüringen "ist auf Preußen angewiesen", muß sich
aber, wie in einem besonderen Promemoria ausgeführt wird, zuvörderst
zu einem Vereine zusammenthun, der dem preußischen Zollsystem als
"Vorland und Deckwerk" dienen soll. Darmstadt "grenzt nicht an uns",
selbst sein Oberhessen kann nur in Betracht kommen, wenn Kurhessen
gleichzeitig beitritt. -- Nach Alledem blieb als nächstes erhebliches Ziel nur
der Beitritt von Kurhessen sammt Waldeck, und sogar dies war uner-
reichbar, denn der hessische Kurfürst zeigte, nachdem er es eine kurze Zeit
mit einem verständigen Zollsysteme versucht hatte, dem großen Nachbar-
staate bald wieder die alte Gehässigkeit. So lange in Berlin diese An-
sichten vorherrschten, die offenbar mit dem alten unseligen Gedanken der

III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod.
pflichtet. Der Plan, die Grenzbewachung allein in Preußens Hände
zu legen, war mithin aufgegeben. Nur noch ein kleiner Schritt weiter,
und man mußte erkennen, daß auch die doppelte Vereidigung der Zoll-
beamten dem Dünkel der kleinen Höfe unerträglich ſei, blos eine gegen-
ſeitige Controle der Zollverwaltung ſich erlangen laſſe. Preußen hatte
ſein letztes Wort noch nicht geſprochen; die Denkſchrift verhehlte nicht, daß
der Berliner Hof gefaßt ſein müſſe auf noch größere Zugeſtändniſſe. „Wird
nur der Zweck erreicht — die wirkliche Einführung des preußiſchen Zoll-
und Conſumtionsſteuer-Syſtems und die Verfolgung der Contraventionen
— ſo kann man über Formalitäten, die durch öffentliche Unterordnung
der jenſeitigen Souveränitätsrechte anſtößig werden dürften, leichter hin-
weggehn.“ Zum Schluß wird ein wichtiger Gedanke entwickelt, den das
preußiſche Cabinet fortan getreulich feſthielt und weiter verfolgte: Sollte
Kurheſſen nur gegenſeitige Eingangsbegünſtigungen wünſchen, ſo wäre dies
für Preußen, wegen unſerer höheren Zölle, nicht blos koſtſpieliger, ſondern
auch gefährlicher; die völlige Verſchmelzung der beiden Zollſyſteme bleibt
in jeder Hinſicht vorzuziehen. — In der That, nicht die Höhe der Binnen-
zölle lähmte den deutſchen Handel, ſondern das Daſein der Binnen-
mauthen ſelber; jede Reform, die nicht an dieſe Wurzel des Uebels die
Axt legte, blieb ein Mißgriff.

Leider hatten dieſe verſtändigen Grundſätze für den Augenblick gar
keine Wirkung; denn die Verfaſſer der Denkſchrift hielten ſich noch buch-
ſtäblich an das Programm von 1819. Sie wollten in gerader Linie „von
Grenze zu Grenze“ vorgehen, von dem nächſten Nachbar zu dem ent-
fernteren. Was ſchien auch einfacher als der Plan, zunächſt die angren-
zenden Staaten zu gewinnen, die im unmittelbaren Bereiche der preu-
ßiſchen Macht lagen, und dann erſt zu verſuchen, ob das geeinte Nord-
deutſchland vielleicht mit dem Süden ſich verſtändigen könne? Und doch
war dieſer gerade Weg ganz ungangbar. Die Denkſchrift ſelber geſteht,
daß der allen Neuerungen abgeneigte Dresdner Hof ſich, ſchon wegen der
Leipziger Meſſen, dem preußiſchen Zollweſen fernhalten werde. Hannover,
als ein Brückenkopf Englands, wird gar nicht erwähnt, ebenſo wenig das
däniſche Holſtein. Thüringen „iſt auf Preußen angewieſen“, muß ſich
aber, wie in einem beſonderen Promemoria ausgeführt wird, zuvörderſt
zu einem Vereine zuſammenthun, der dem preußiſchen Zollſyſtem als
„Vorland und Deckwerk“ dienen ſoll. Darmſtadt „grenzt nicht an uns“,
ſelbſt ſein Oberheſſen kann nur in Betracht kommen, wenn Kurheſſen
gleichzeitig beitritt. — Nach Alledem blieb als nächſtes erhebliches Ziel nur
der Beitritt von Kurheſſen ſammt Waldeck, und ſogar dies war uner-
reichbar, denn der heſſiſche Kurfürſt zeigte, nachdem er es eine kurze Zeit
mit einem verſtändigen Zollſyſteme verſucht hatte, dem großen Nachbar-
ſtaate bald wieder die alte Gehäſſigkeit. So lange in Berlin dieſe An-
ſichten vorherrſchten, die offenbar mit dem alten unſeligen Gedanken der

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[484/0500] III. 6. Preußiſche Zuſtände nach Hardenberg’s Tod. pflichtet. Der Plan, die Grenzbewachung allein in Preußens Hände zu legen, war mithin aufgegeben. Nur noch ein kleiner Schritt weiter, und man mußte erkennen, daß auch die doppelte Vereidigung der Zoll- beamten dem Dünkel der kleinen Höfe unerträglich ſei, blos eine gegen- ſeitige Controle der Zollverwaltung ſich erlangen laſſe. Preußen hatte ſein letztes Wort noch nicht geſprochen; die Denkſchrift verhehlte nicht, daß der Berliner Hof gefaßt ſein müſſe auf noch größere Zugeſtändniſſe. „Wird nur der Zweck erreicht — die wirkliche Einführung des preußiſchen Zoll- und Conſumtionsſteuer-Syſtems und die Verfolgung der Contraventionen — ſo kann man über Formalitäten, die durch öffentliche Unterordnung der jenſeitigen Souveränitätsrechte anſtößig werden dürften, leichter hin- weggehn.“ Zum Schluß wird ein wichtiger Gedanke entwickelt, den das preußiſche Cabinet fortan getreulich feſthielt und weiter verfolgte: Sollte Kurheſſen nur gegenſeitige Eingangsbegünſtigungen wünſchen, ſo wäre dies für Preußen, wegen unſerer höheren Zölle, nicht blos koſtſpieliger, ſondern auch gefährlicher; die völlige Verſchmelzung der beiden Zollſyſteme bleibt in jeder Hinſicht vorzuziehen. — In der That, nicht die Höhe der Binnen- zölle lähmte den deutſchen Handel, ſondern das Daſein der Binnen- mauthen ſelber; jede Reform, die nicht an dieſe Wurzel des Uebels die Axt legte, blieb ein Mißgriff. Leider hatten dieſe verſtändigen Grundſätze für den Augenblick gar keine Wirkung; denn die Verfaſſer der Denkſchrift hielten ſich noch buch- ſtäblich an das Programm von 1819. Sie wollten in gerader Linie „von Grenze zu Grenze“ vorgehen, von dem nächſten Nachbar zu dem ent- fernteren. Was ſchien auch einfacher als der Plan, zunächſt die angren- zenden Staaten zu gewinnen, die im unmittelbaren Bereiche der preu- ßiſchen Macht lagen, und dann erſt zu verſuchen, ob das geeinte Nord- deutſchland vielleicht mit dem Süden ſich verſtändigen könne? Und doch war dieſer gerade Weg ganz ungangbar. Die Denkſchrift ſelber geſteht, daß der allen Neuerungen abgeneigte Dresdner Hof ſich, ſchon wegen der Leipziger Meſſen, dem preußiſchen Zollweſen fernhalten werde. Hannover, als ein Brückenkopf Englands, wird gar nicht erwähnt, ebenſo wenig das däniſche Holſtein. Thüringen „iſt auf Preußen angewieſen“, muß ſich aber, wie in einem beſonderen Promemoria ausgeführt wird, zuvörderſt zu einem Vereine zuſammenthun, der dem preußiſchen Zollſyſtem als „Vorland und Deckwerk“ dienen ſoll. Darmſtadt „grenzt nicht an uns“, ſelbſt ſein Oberheſſen kann nur in Betracht kommen, wenn Kurheſſen gleichzeitig beitritt. — Nach Alledem blieb als nächſtes erhebliches Ziel nur der Beitritt von Kurheſſen ſammt Waldeck, und ſogar dies war uner- reichbar, denn der heſſiſche Kurfürſt zeigte, nachdem er es eine kurze Zeit mit einem verſtändigen Zollſyſteme verſucht hatte, dem großen Nachbar- ſtaate bald wieder die alte Gehäſſigkeit. So lange in Berlin dieſe An- ſichten vorherrſchten, die offenbar mit dem alten unſeligen Gedanken der

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/500>, abgerufen am 22.11.2024.