III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
Verhältnissen Kursachsens bei Weitem nicht so tief herab wie in Altwürt- temberg, sie war noch immer so stark, daß sich Johann Georg III. ein stehendes Heer schaffen konnte; doch zur Beschützung der Bauern wider den Adel, zu durchgreifenden Neuerungen besaß sie weder die Kraft noch den Willen. Fast unbeweglich verharrten Gesetzgebung und Verwaltung in den Formen, die sie durch Kurfürst August empfangen hatten. Derselbe starr conservative Geist beherrschte auch die Leipziger Universität, welche jetzt, das verfallene Wittenberg überstrahlend, für die anerkannt erste der deut- schen Hochschulen, im Auslande für die Hauptstadt deutscher Wissenschaft galt. Schwer gelehrt und vornehm erwies sie sich bei allen großen Um- wälzungen unserer Bildung als eine Macht des Beharrens. Wie sie in den ersten Jahren der Reformation die Lehren Luther's bekämpft hatte, so war sie nunmehr die Hochburg der verhärteten lutherischen Theologie und jener correcten Staatsrechtsdoktrinen, welche das heilige Reich als die vierte Monarchie Danielis verherrlichten. Im Kampfe mit den Excellentien der Leipziger Theologenfacultät vertrat Calixtus den Gedanken der christlichen Union, im Kampfe mit ihnen begründete Pufendorf eine weltliche Staats- lehre; unter den Klängen des Armensünderglöckleins mußte Thomasius das Athen an der Pleiße verlassen, und als ein Trutz-Leipzig entstand dann in Halle die neue Universität, die Freistätte des Pietismus und des Naturrechts.
Unverwüstlich aber bewahrte das Volk bei diesem Niedergange seines Staates die alte fröhliche Arbeitskraft. Der seltsame Gegensatz von so- cialer Rührigkeit und politischer Erstarrung blieb fortan lange der unter- scheidende Charakterzug der kursächsischen Geschichte. Erstaunlich schnell erholte sich das fleißige Land von den entsetzlichen Plünderungen der Hol- kischen Jäger und der schwedischen Dragoner, trotz der Verschwendung des Hofes und trotz der schwerfälligen Verwaltung. Ein unschätzbarer Gewinn erwuchs ihm aus der Einwanderung der böhmischen Lutheraner, denen Johann Georg I. die Waffenhilfe versagte, aber nach der Niederlage eine Zuflucht gewährte; an 150,000 Exulanten strömten über das Erzgebirge hinüber, tapfere, thätige, in aller Noth frohmuthige Menschen, das Mark der Volkskraft Böhmens. Und welch eine stolze Schaar glänzender Talente sendete Kursachsen jetzt in das verödete deutsche Leben hinaus. Die drei reformatorischen Denker der Epoche, Pufendorf, Leibniz, Thomasius ge- hörten allesammt der Mark Meißen an. Nie zuvor hatte dieser Stamm so entscheidend eingegriffen in den Gang der nationalen Bildung; sein verfallender Staat wußte freilich mit den hellen Köpfen nichts anzufangen und verdrängte sie alle aus der Heimath.
Mit unerschütterlicher Treue hing das Volk an seinem Rautenkranze, obwohl das Bündniß mit dem katholischen Erzhause zuweilen Unmuth er- regte und der Name der vier Hans Jörgen im Munde des gemeinen Mannes einen wenig schmeichelhaften Nebensinn erhielt. Diese dynastische
III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Verhältniſſen Kurſachſens bei Weitem nicht ſo tief herab wie in Altwürt- temberg, ſie war noch immer ſo ſtark, daß ſich Johann Georg III. ein ſtehendes Heer ſchaffen konnte; doch zur Beſchützung der Bauern wider den Adel, zu durchgreifenden Neuerungen beſaß ſie weder die Kraft noch den Willen. Faſt unbeweglich verharrten Geſetzgebung und Verwaltung in den Formen, die ſie durch Kurfürſt Auguſt empfangen hatten. Derſelbe ſtarr conſervative Geiſt beherrſchte auch die Leipziger Univerſität, welche jetzt, das verfallene Wittenberg überſtrahlend, für die anerkannt erſte der deut- ſchen Hochſchulen, im Auslande für die Hauptſtadt deutſcher Wiſſenſchaft galt. Schwer gelehrt und vornehm erwies ſie ſich bei allen großen Um- wälzungen unſerer Bildung als eine Macht des Beharrens. Wie ſie in den erſten Jahren der Reformation die Lehren Luther’s bekämpft hatte, ſo war ſie nunmehr die Hochburg der verhärteten lutheriſchen Theologie und jener correcten Staatsrechtsdoktrinen, welche das heilige Reich als die vierte Monarchie Danielis verherrlichten. Im Kampfe mit den Excellentien der Leipziger Theologenfacultät vertrat Calixtus den Gedanken der chriſtlichen Union, im Kampfe mit ihnen begründete Pufendorf eine weltliche Staats- lehre; unter den Klängen des Armenſünderglöckleins mußte Thomaſius das Athen an der Pleiße verlaſſen, und als ein Trutz-Leipzig entſtand dann in Halle die neue Univerſität, die Freiſtätte des Pietismus und des Naturrechts.
Unverwüſtlich aber bewahrte das Volk bei dieſem Niedergange ſeines Staates die alte fröhliche Arbeitskraft. Der ſeltſame Gegenſatz von ſo- cialer Rührigkeit und politiſcher Erſtarrung blieb fortan lange der unter- ſcheidende Charakterzug der kurſächſiſchen Geſchichte. Erſtaunlich ſchnell erholte ſich das fleißige Land von den entſetzlichen Plünderungen der Hol- kiſchen Jäger und der ſchwediſchen Dragoner, trotz der Verſchwendung des Hofes und trotz der ſchwerfälligen Verwaltung. Ein unſchätzbarer Gewinn erwuchs ihm aus der Einwanderung der böhmiſchen Lutheraner, denen Johann Georg I. die Waffenhilfe verſagte, aber nach der Niederlage eine Zuflucht gewährte; an 150,000 Exulanten ſtrömten über das Erzgebirge hinüber, tapfere, thätige, in aller Noth frohmuthige Menſchen, das Mark der Volkskraft Böhmens. Und welch eine ſtolze Schaar glänzender Talente ſendete Kurſachſen jetzt in das verödete deutſche Leben hinaus. Die drei reformatoriſchen Denker der Epoche, Pufendorf, Leibniz, Thomaſius ge- hörten alleſammt der Mark Meißen an. Nie zuvor hatte dieſer Stamm ſo entſcheidend eingegriffen in den Gang der nationalen Bildung; ſein verfallender Staat wußte freilich mit den hellen Köpfen nichts anzufangen und verdrängte ſie alle aus der Heimath.
Mit unerſchütterlicher Treue hing das Volk an ſeinem Rautenkranze, obwohl das Bündniß mit dem katholiſchen Erzhauſe zuweilen Unmuth er- regte und der Name der vier Hans Jörgen im Munde des gemeinen Mannes einen wenig ſchmeichelhaften Nebenſinn erhielt. Dieſe dynaſtiſche
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III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Verhältniſſen Kurſachſens bei Weitem nicht ſo tief herab wie in Altwürt-
temberg, ſie war noch immer ſo ſtark, daß ſich Johann Georg III. ein
ſtehendes Heer ſchaffen konnte; doch zur Beſchützung der Bauern wider
den Adel, zu durchgreifenden Neuerungen beſaß ſie weder die Kraft noch den
Willen. Faſt unbeweglich verharrten Geſetzgebung und Verwaltung in den
Formen, die ſie durch Kurfürſt Auguſt empfangen hatten. Derſelbe ſtarr
conſervative Geiſt beherrſchte auch die Leipziger Univerſität, welche jetzt,
das verfallene Wittenberg überſtrahlend, für die anerkannt erſte der deut-
ſchen Hochſchulen, im Auslande für die Hauptſtadt deutſcher Wiſſenſchaft
galt. Schwer gelehrt und vornehm erwies ſie ſich bei allen großen Um-
wälzungen unſerer Bildung als eine Macht des Beharrens. Wie ſie in den
erſten Jahren der Reformation die Lehren Luther’s bekämpft hatte, ſo war
ſie nunmehr die Hochburg der verhärteten lutheriſchen Theologie und jener
correcten Staatsrechtsdoktrinen, welche das heilige Reich als die vierte
Monarchie Danielis verherrlichten. Im Kampfe mit den Excellentien der
Leipziger Theologenfacultät vertrat Calixtus den Gedanken der chriſtlichen
Union, im Kampfe mit ihnen begründete Pufendorf eine weltliche Staats-
lehre; unter den Klängen des Armenſünderglöckleins mußte Thomaſius
das Athen an der Pleiße verlaſſen, und als ein Trutz-Leipzig entſtand
dann in Halle die neue Univerſität, die Freiſtätte des Pietismus und des
Naturrechts.
Unverwüſtlich aber bewahrte das Volk bei dieſem Niedergange ſeines
Staates die alte fröhliche Arbeitskraft. Der ſeltſame Gegenſatz von ſo-
cialer Rührigkeit und politiſcher Erſtarrung blieb fortan lange der unter-
ſcheidende Charakterzug der kurſächſiſchen Geſchichte. Erſtaunlich ſchnell
erholte ſich das fleißige Land von den entſetzlichen Plünderungen der Hol-
kiſchen Jäger und der ſchwediſchen Dragoner, trotz der Verſchwendung des
Hofes und trotz der ſchwerfälligen Verwaltung. Ein unſchätzbarer Gewinn
erwuchs ihm aus der Einwanderung der böhmiſchen Lutheraner, denen
Johann Georg I. die Waffenhilfe verſagte, aber nach der Niederlage eine
Zuflucht gewährte; an 150,000 Exulanten ſtrömten über das Erzgebirge
hinüber, tapfere, thätige, in aller Noth frohmuthige Menſchen, das Mark
der Volkskraft Böhmens. Und welch eine ſtolze Schaar glänzender Talente
ſendete Kurſachſen jetzt in das verödete deutſche Leben hinaus. Die drei
reformatoriſchen Denker der Epoche, Pufendorf, Leibniz, Thomaſius ge-
hörten alleſammt der Mark Meißen an. Nie zuvor hatte dieſer Stamm
ſo entſcheidend eingegriffen in den Gang der nationalen Bildung; ſein
verfallender Staat wußte freilich mit den hellen Köpfen nichts anzufangen
und verdrängte ſie alle aus der Heimath.
Mit unerſchütterlicher Treue hing das Volk an ſeinem Rautenkranze,
obwohl das Bündniß mit dem katholiſchen Erzhauſe zuweilen Unmuth er-
regte und der Name der vier Hans Jörgen im Munde des gemeinen
Mannes einen wenig ſchmeichelhaften Nebenſinn erhielt. Dieſe dynaſtiſche
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/508>, abgerufen am 16.07.2024.
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