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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Entartung des Hauses Brabant.

Namenlos war der Jammer in dem entvölkerten Lande; Tag und
Nacht bewachten berittene Landjäger die Grenze um das Entweichen der Can-
tonspflichtigen zu verhindern. Zum Troste erließ der alte Landgraf seinem
Volke für die Dauer des amerikanischen Krieges einen winzigen Theil der
Abgaben, da er ja das Heer nicht mehr selbst bezahlte. Dem Erbprinzen
war selbst dies Opfer noch zu groß; er begnügte sich mit einem Steuer-
erlaß für die Eltern und die Eheweiber, denen er die Ernährer geraubt
hatte, und verkündete seinen getreuen Unterthanen, daß er sich "ein wesent-
liches Vergnügen daraus mache, ihnen ein solches Merkmal seiner Gnade
zufließen zu lassen." Die also erworbenen Blutgelder speicherte der Sohn
haushälterisch in seinem Schatze auf; der Vater verwendete sie zum Theil
für seine Casseler Neubauten, einen andern Theil verpraßte er in ge-
schmacklosen Festen mit den französischen Dirnen und Abenteurern, welche
seinen Hof beherrschten und die Sitten der Hauptstadt auf lange hinaus
verdarben. Trotz dieser Verschwendung hinterließ er ein fürstliches Haus-
vermögen, das in Deutschland nicht seinesgleichen hatte. Die früheren
Verdienste des Hauses standen aber noch in so gutem Andenken, daß die
getreuen Landstände diesem "Vater des Vaterlandes" noch bei Lebzeiten
auf seinem Friedrichsplatze ein Denkmal errichteten.

Als Wilhelm IX. nach dem Tode des Vaters in Cassel einzog, blieb
er den in Hanau erprobten Regierungsgrundsätzen treu. Der üppige
Prunk verschwand, peinlicher Geiz herrschte am Hofe wie im Staate, aber
die alte Unzucht verschwand nicht. Niemand vermochte die Zahl der fürst-
lichen Bastarde genau zu berechnen; nur die Grafen von Hessenstein und
die Gebrüder Haynau kannte Jedermann, und im Volke ging die Sage,
daß der Landgraf, sobald ihm wieder eine uneheliche Vaterfreude bescheert
wurde, den Preis des Scheffels Salz in den Staatsmagazinen um einen
Kreuzer zu erhöhen pflegte. Auch das Heer focht wieder seines alten
Ruhmes würdig in den rheinischen Feldzügen und wieder im englischen
Solde, aber diesmal doch für das deutsche Reich und für eine Sache, die
dem Fürsten heilig war, denn er fühlte sich ganz als Selbstherrscher und
verabscheute die Revolution. Wo sein Geiz nicht ins Spiel kam, war die
Verwaltung in diesen Jahren immerhin erträglich, und als er dann un-
rühmlich entthront wurde, ein Opfer seiner rechnenden Schlauheit, die
nicht zur rechten Zeit die einträglichere Partei zu ergreifen verstand, da
vergaß das treue Volk sofort aller vergangenen Unbill. Dreimal, in den
Jahren 1806 und 1809, versuchten die Hessen sich wider die Fremdherr-
schaft zu erheben. Der reiche Kurfürst aber begnügte sich in Böhmen ein
kleines schlecht bezahltes Freicorps zu bilden, er hatte kein Almosen für
die Unglücklichen, die um seinetwillen ins Elend ziehen mußten; den Ur-
heber des zweiten Aufstandsversuchs, den tapfern Oberst Dörnberg wollte
er mit 200 Thlr. ablohnen. Auch das ward vergessen. Bei seiner Heim-
kehr schwelgte alles althessische Land in patriotischer Begeisterung. Selbst

Entartung des Hauſes Brabant.

Namenlos war der Jammer in dem entvölkerten Lande; Tag und
Nacht bewachten berittene Landjäger die Grenze um das Entweichen der Can-
tonspflichtigen zu verhindern. Zum Troſte erließ der alte Landgraf ſeinem
Volke für die Dauer des amerikaniſchen Krieges einen winzigen Theil der
Abgaben, da er ja das Heer nicht mehr ſelbſt bezahlte. Dem Erbprinzen
war ſelbſt dies Opfer noch zu groß; er begnügte ſich mit einem Steuer-
erlaß für die Eltern und die Eheweiber, denen er die Ernährer geraubt
hatte, und verkündete ſeinen getreuen Unterthanen, daß er ſich „ein weſent-
liches Vergnügen daraus mache, ihnen ein ſolches Merkmal ſeiner Gnade
zufließen zu laſſen.“ Die alſo erworbenen Blutgelder ſpeicherte der Sohn
haushälteriſch in ſeinem Schatze auf; der Vater verwendete ſie zum Theil
für ſeine Caſſeler Neubauten, einen andern Theil verpraßte er in ge-
ſchmackloſen Feſten mit den franzöſiſchen Dirnen und Abenteurern, welche
ſeinen Hof beherrſchten und die Sitten der Hauptſtadt auf lange hinaus
verdarben. Trotz dieſer Verſchwendung hinterließ er ein fürſtliches Haus-
vermögen, das in Deutſchland nicht ſeinesgleichen hatte. Die früheren
Verdienſte des Hauſes ſtanden aber noch in ſo gutem Andenken, daß die
getreuen Landſtände dieſem „Vater des Vaterlandes“ noch bei Lebzeiten
auf ſeinem Friedrichsplatze ein Denkmal errichteten.

Als Wilhelm IX. nach dem Tode des Vaters in Caſſel einzog, blieb
er den in Hanau erprobten Regierungsgrundſätzen treu. Der üppige
Prunk verſchwand, peinlicher Geiz herrſchte am Hofe wie im Staate, aber
die alte Unzucht verſchwand nicht. Niemand vermochte die Zahl der fürſt-
lichen Baſtarde genau zu berechnen; nur die Grafen von Heſſenſtein und
die Gebrüder Haynau kannte Jedermann, und im Volke ging die Sage,
daß der Landgraf, ſobald ihm wieder eine uneheliche Vaterfreude beſcheert
wurde, den Preis des Scheffels Salz in den Staatsmagazinen um einen
Kreuzer zu erhöhen pflegte. Auch das Heer focht wieder ſeines alten
Ruhmes würdig in den rheiniſchen Feldzügen und wieder im engliſchen
Solde, aber diesmal doch für das deutſche Reich und für eine Sache, die
dem Fürſten heilig war, denn er fühlte ſich ganz als Selbſtherrſcher und
verabſcheute die Revolution. Wo ſein Geiz nicht ins Spiel kam, war die
Verwaltung in dieſen Jahren immerhin erträglich, und als er dann un-
rühmlich entthront wurde, ein Opfer ſeiner rechnenden Schlauheit, die
nicht zur rechten Zeit die einträglichere Partei zu ergreifen verſtand, da
vergaß das treue Volk ſofort aller vergangenen Unbill. Dreimal, in den
Jahren 1806 und 1809, verſuchten die Heſſen ſich wider die Fremdherr-
ſchaft zu erheben. Der reiche Kurfürſt aber begnügte ſich in Böhmen ein
kleines ſchlecht bezahltes Freicorps zu bilden, er hatte kein Almoſen für
die Unglücklichen, die um ſeinetwillen ins Elend ziehen mußten; den Ur-
heber des zweiten Aufſtandsverſuchs, den tapfern Oberſt Dörnberg wollte
er mit 200 Thlr. ablohnen. Auch das ward vergeſſen. Bei ſeiner Heim-
kehr ſchwelgte alles altheſſiſche Land in patriotiſcher Begeiſterung. Selbſt

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[521/0537] Entartung des Hauſes Brabant. Namenlos war der Jammer in dem entvölkerten Lande; Tag und Nacht bewachten berittene Landjäger die Grenze um das Entweichen der Can- tonspflichtigen zu verhindern. Zum Troſte erließ der alte Landgraf ſeinem Volke für die Dauer des amerikaniſchen Krieges einen winzigen Theil der Abgaben, da er ja das Heer nicht mehr ſelbſt bezahlte. Dem Erbprinzen war ſelbſt dies Opfer noch zu groß; er begnügte ſich mit einem Steuer- erlaß für die Eltern und die Eheweiber, denen er die Ernährer geraubt hatte, und verkündete ſeinen getreuen Unterthanen, daß er ſich „ein weſent- liches Vergnügen daraus mache, ihnen ein ſolches Merkmal ſeiner Gnade zufließen zu laſſen.“ Die alſo erworbenen Blutgelder ſpeicherte der Sohn haushälteriſch in ſeinem Schatze auf; der Vater verwendete ſie zum Theil für ſeine Caſſeler Neubauten, einen andern Theil verpraßte er in ge- ſchmackloſen Feſten mit den franzöſiſchen Dirnen und Abenteurern, welche ſeinen Hof beherrſchten und die Sitten der Hauptſtadt auf lange hinaus verdarben. Trotz dieſer Verſchwendung hinterließ er ein fürſtliches Haus- vermögen, das in Deutſchland nicht ſeinesgleichen hatte. Die früheren Verdienſte des Hauſes ſtanden aber noch in ſo gutem Andenken, daß die getreuen Landſtände dieſem „Vater des Vaterlandes“ noch bei Lebzeiten auf ſeinem Friedrichsplatze ein Denkmal errichteten. Als Wilhelm IX. nach dem Tode des Vaters in Caſſel einzog, blieb er den in Hanau erprobten Regierungsgrundſätzen treu. Der üppige Prunk verſchwand, peinlicher Geiz herrſchte am Hofe wie im Staate, aber die alte Unzucht verſchwand nicht. Niemand vermochte die Zahl der fürſt- lichen Baſtarde genau zu berechnen; nur die Grafen von Heſſenſtein und die Gebrüder Haynau kannte Jedermann, und im Volke ging die Sage, daß der Landgraf, ſobald ihm wieder eine uneheliche Vaterfreude beſcheert wurde, den Preis des Scheffels Salz in den Staatsmagazinen um einen Kreuzer zu erhöhen pflegte. Auch das Heer focht wieder ſeines alten Ruhmes würdig in den rheiniſchen Feldzügen und wieder im engliſchen Solde, aber diesmal doch für das deutſche Reich und für eine Sache, die dem Fürſten heilig war, denn er fühlte ſich ganz als Selbſtherrſcher und verabſcheute die Revolution. Wo ſein Geiz nicht ins Spiel kam, war die Verwaltung in dieſen Jahren immerhin erträglich, und als er dann un- rühmlich entthront wurde, ein Opfer ſeiner rechnenden Schlauheit, die nicht zur rechten Zeit die einträglichere Partei zu ergreifen verſtand, da vergaß das treue Volk ſofort aller vergangenen Unbill. Dreimal, in den Jahren 1806 und 1809, verſuchten die Heſſen ſich wider die Fremdherr- ſchaft zu erheben. Der reiche Kurfürſt aber begnügte ſich in Böhmen ein kleines ſchlecht bezahltes Freicorps zu bilden, er hatte kein Almoſen für die Unglücklichen, die um ſeinetwillen ins Elend ziehen mußten; den Ur- heber des zweiten Aufſtandsverſuchs, den tapfern Oberſt Dörnberg wollte er mit 200 Thlr. ablohnen. Auch das ward vergeſſen. Bei ſeiner Heim- kehr ſchwelgte alles altheſſiſche Land in patriotiſcher Begeiſterung. Selbſt

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 521. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/537>, abgerufen am 22.11.2024.