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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 7. Altständisches Stillleben in Norddeutschland.
Ehren seiner ersehnten und doch niemals errungenen Kattenkönigskrone
begann der Kurfürst noch den Bau der Kattenburg -- mit ungeheuerem
Aufwande, der zuweilen in einer Woche bis auf 10,000 Thlr. stieg; das
riesige, wie für ein Kaisergeschlecht bestimmte Schloß wurde aber im Lande
als ein widerwärtiges Denkmal kleinfürstlicher Selbstüberhebung mit Un-
muth betrachtet.

Wenige Tage vor dem Tode des Kurfürsten hielt ihm ein aus Hessen
gebürtiger preußischer Beamter seine Frevel vor, mit einem schonungslosen
Freimuthe, der an den kleinen Höfen unfaßbar schien. Es war Motz, damals
Präsident in Erfurt. Der hatte sich für seinen Oheim, einen alten, willkür-
lich der Pension beraubten General, verwendet, und als er die übliche Ant-
wort empfing, die sieben Jahre der westphälischen Herrschaft würden nicht
anerkannt, da scheute er sich nicht, dem alten Herrn den Namen des Sieben-
schläfers, der im Lande überall umlief, ins Gesicht zu schleudern. Die Unter-
thanen und die Diener des Kurfürsten, so schrieb er, wären sehr glücklich
zu preisen, wenn sie dasselbe von sich sagen könnten, "wenn sie mit Frau
und Kindern in einen siebenjährigen Schlaf verfallen und auf diese Weise
nur zu neuen Dienstleistungen für Ew. K. Hoheit erstarkt, unter den ver-
änderten Verhältnissen hätten wieder erwachen können." Dann fuhr er fort:
"Ew. K. H. sind reich, Ihre Diener und Unterthanen arm" und forderte
den alten Sünder auf, noch am Abend seines Lebens einen würdigen Ge-
brauch zu machen von seinen reichen Glücksgütern und die Noth des treuen
Hessenvolks zu lindern, bevor er erscheinen müsse "vor dem Herrn über
uns Alle, der auch den Mächtigen der Erde den Stuhl bereitet."*) So
urtheilte der größte politische Kopf, den Kurhessen zur Zeit besaß, über das
Treiben dieses Fürsten. Als Wilhelm I. bald nachher, im Februar 1821,
starb, fand sich in seinem Nachlaß ein politisches Testament, das den Thron-
folger ermahnte, immerdar als ein wahrer Selbstherrscher zu regieren. --

Die Mahnung war kaum nöthig. Noch fester als bisher verketteten
sich unter der neuen Regierung die Schicksale des Landes mit den per-
sönlichen Verhältnissen des Fürstenhauses. Kurfürst Wilhelm II. war von
Natur weder dumm noch bösartig, aber schlecht erzogen, ohne Sinn für
geistiges Leben, unfähig sein wildes Blut zu zügeln, ein gewöhnlicher Lebe-
mann und Paradesoldat. Nun wollte sein Unstern, daß er noch bei Leb-
zeiten des Vaters unter die Herrschaft eines gemeinen Weibes, Emilie
Ortlöpp aus Berlin, gerieth und um ihretwillen seine edle Gemahlin
Auguste, eine Schwester des Königs von Preußen roh beleidigte. Mit
seiner Thronbesteigung begann ein Dirnenregiment, beispiellos in der Ge-
schichte des neuen Jahrhunderts. Kaum hatte ein prunkender Leichenzug,
der schwarze Ritter des Hauses Hessen voran, den Sarg des alten Herrn
auf die Löwenburg hinaufgeführt, so erfolgte die erste befreiende That der

*) Motz an Kurfürst Wilhelm, 22. Jan. 1821. S. Beilage 14.

III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland.
Ehren ſeiner erſehnten und doch niemals errungenen Kattenkönigskrone
begann der Kurfürſt noch den Bau der Kattenburg — mit ungeheuerem
Aufwande, der zuweilen in einer Woche bis auf 10,000 Thlr. ſtieg; das
rieſige, wie für ein Kaiſergeſchlecht beſtimmte Schloß wurde aber im Lande
als ein widerwärtiges Denkmal kleinfürſtlicher Selbſtüberhebung mit Un-
muth betrachtet.

Wenige Tage vor dem Tode des Kurfürſten hielt ihm ein aus Heſſen
gebürtiger preußiſcher Beamter ſeine Frevel vor, mit einem ſchonungsloſen
Freimuthe, der an den kleinen Höfen unfaßbar ſchien. Es war Motz, damals
Präſident in Erfurt. Der hatte ſich für ſeinen Oheim, einen alten, willkür-
lich der Penſion beraubten General, verwendet, und als er die übliche Ant-
wort empfing, die ſieben Jahre der weſtphäliſchen Herrſchaft würden nicht
anerkannt, da ſcheute er ſich nicht, dem alten Herrn den Namen des Sieben-
ſchläfers, der im Lande überall umlief, ins Geſicht zu ſchleudern. Die Unter-
thanen und die Diener des Kurfürſten, ſo ſchrieb er, wären ſehr glücklich
zu preiſen, wenn ſie daſſelbe von ſich ſagen könnten, „wenn ſie mit Frau
und Kindern in einen ſiebenjährigen Schlaf verfallen und auf dieſe Weiſe
nur zu neuen Dienſtleiſtungen für Ew. K. Hoheit erſtarkt, unter den ver-
änderten Verhältniſſen hätten wieder erwachen können.“ Dann fuhr er fort:
„Ew. K. H. ſind reich, Ihre Diener und Unterthanen arm“ und forderte
den alten Sünder auf, noch am Abend ſeines Lebens einen würdigen Ge-
brauch zu machen von ſeinen reichen Glücksgütern und die Noth des treuen
Heſſenvolks zu lindern, bevor er erſcheinen müſſe „vor dem Herrn über
uns Alle, der auch den Mächtigen der Erde den Stuhl bereitet.“*) So
urtheilte der größte politiſche Kopf, den Kurheſſen zur Zeit beſaß, über das
Treiben dieſes Fürſten. Als Wilhelm I. bald nachher, im Februar 1821,
ſtarb, fand ſich in ſeinem Nachlaß ein politiſches Teſtament, das den Thron-
folger ermahnte, immerdar als ein wahrer Selbſtherrſcher zu regieren. —

Die Mahnung war kaum nöthig. Noch feſter als bisher verketteten
ſich unter der neuen Regierung die Schickſale des Landes mit den per-
ſönlichen Verhältniſſen des Fürſtenhauſes. Kurfürſt Wilhelm II. war von
Natur weder dumm noch bösartig, aber ſchlecht erzogen, ohne Sinn für
geiſtiges Leben, unfähig ſein wildes Blut zu zügeln, ein gewöhnlicher Lebe-
mann und Paradeſoldat. Nun wollte ſein Unſtern, daß er noch bei Leb-
zeiten des Vaters unter die Herrſchaft eines gemeinen Weibes, Emilie
Ortlöpp aus Berlin, gerieth und um ihretwillen ſeine edle Gemahlin
Auguſte, eine Schweſter des Königs von Preußen roh beleidigte. Mit
ſeiner Thronbeſteigung begann ein Dirnenregiment, beiſpiellos in der Ge-
ſchichte des neuen Jahrhunderts. Kaum hatte ein prunkender Leichenzug,
der ſchwarze Ritter des Hauſes Heſſen voran, den Sarg des alten Herrn
auf die Löwenburg hinaufgeführt, ſo erfolgte die erſte befreiende That der

*) Motz an Kurfürſt Wilhelm, 22. Jan. 1821. S. Beilage 14.
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[530/0546] III. 7. Altſtändiſches Stillleben in Norddeutſchland. Ehren ſeiner erſehnten und doch niemals errungenen Kattenkönigskrone begann der Kurfürſt noch den Bau der Kattenburg — mit ungeheuerem Aufwande, der zuweilen in einer Woche bis auf 10,000 Thlr. ſtieg; das rieſige, wie für ein Kaiſergeſchlecht beſtimmte Schloß wurde aber im Lande als ein widerwärtiges Denkmal kleinfürſtlicher Selbſtüberhebung mit Un- muth betrachtet. Wenige Tage vor dem Tode des Kurfürſten hielt ihm ein aus Heſſen gebürtiger preußiſcher Beamter ſeine Frevel vor, mit einem ſchonungsloſen Freimuthe, der an den kleinen Höfen unfaßbar ſchien. Es war Motz, damals Präſident in Erfurt. Der hatte ſich für ſeinen Oheim, einen alten, willkür- lich der Penſion beraubten General, verwendet, und als er die übliche Ant- wort empfing, die ſieben Jahre der weſtphäliſchen Herrſchaft würden nicht anerkannt, da ſcheute er ſich nicht, dem alten Herrn den Namen des Sieben- ſchläfers, der im Lande überall umlief, ins Geſicht zu ſchleudern. Die Unter- thanen und die Diener des Kurfürſten, ſo ſchrieb er, wären ſehr glücklich zu preiſen, wenn ſie daſſelbe von ſich ſagen könnten, „wenn ſie mit Frau und Kindern in einen ſiebenjährigen Schlaf verfallen und auf dieſe Weiſe nur zu neuen Dienſtleiſtungen für Ew. K. Hoheit erſtarkt, unter den ver- änderten Verhältniſſen hätten wieder erwachen können.“ Dann fuhr er fort: „Ew. K. H. ſind reich, Ihre Diener und Unterthanen arm“ und forderte den alten Sünder auf, noch am Abend ſeines Lebens einen würdigen Ge- brauch zu machen von ſeinen reichen Glücksgütern und die Noth des treuen Heſſenvolks zu lindern, bevor er erſcheinen müſſe „vor dem Herrn über uns Alle, der auch den Mächtigen der Erde den Stuhl bereitet.“ *) So urtheilte der größte politiſche Kopf, den Kurheſſen zur Zeit beſaß, über das Treiben dieſes Fürſten. Als Wilhelm I. bald nachher, im Februar 1821, ſtarb, fand ſich in ſeinem Nachlaß ein politiſches Teſtament, das den Thron- folger ermahnte, immerdar als ein wahrer Selbſtherrſcher zu regieren. — Die Mahnung war kaum nöthig. Noch feſter als bisher verketteten ſich unter der neuen Regierung die Schickſale des Landes mit den per- ſönlichen Verhältniſſen des Fürſtenhauſes. Kurfürſt Wilhelm II. war von Natur weder dumm noch bösartig, aber ſchlecht erzogen, ohne Sinn für geiſtiges Leben, unfähig ſein wildes Blut zu zügeln, ein gewöhnlicher Lebe- mann und Paradeſoldat. Nun wollte ſein Unſtern, daß er noch bei Leb- zeiten des Vaters unter die Herrſchaft eines gemeinen Weibes, Emilie Ortlöpp aus Berlin, gerieth und um ihretwillen ſeine edle Gemahlin Auguſte, eine Schweſter des Königs von Preußen roh beleidigte. Mit ſeiner Thronbeſteigung begann ein Dirnenregiment, beiſpiellos in der Ge- ſchichte des neuen Jahrhunderts. Kaum hatte ein prunkender Leichenzug, der ſchwarze Ritter des Hauſes Heſſen voran, den Sarg des alten Herrn auf die Löwenburg hinaufgeführt, ſo erfolgte die erſte befreiende That der *) Motz an Kurfürſt Wilhelm, 22. Jan. 1821. S. Beilage 14.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/546>, abgerufen am 22.11.2024.