Hegel die Geschichte als den Tempel des allgegenwärtigen Gottes ver- stehen und vergötterte den Staat, den sie einst mißachtet hatte. Zugleich erklangen die ersten Lärmstöße einer radikalen Literatur, welche durch und durch tendentiös, allein auf die augenblickliche Wirkung rechnend, an Allem was bestand mit übermüthigem Hohne rüttelte und dem Traumleben der Romantik die Fehde ansagte. Das Alles war erst im Werden, aber un- verkennbar stand die Nation im Begriff, mit der ästhetischen Weltan- schauung, die ihre unvergeßliche Zeit gehabt hatte, gänzlich zu brechen.
Goethe selbst, der in seiner Einsamkeit doch immer die Hand am Pulse des nationalen Lebens hielt, erkannte diesen realistischen Zug der Zeit und förderte ihn, indem er in Wilhelm Meister's Wanderjahren den Gedanken ausführte, welchen schon die Lehrjahre angedeutet hatten: der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt. Die Odyssee der allgemein menschlichen Bil- dung endete also mit der modernen Lehre der Arbeitstheilung: daß ein Jeder Eines recht wissen und ausüben, in sich selber einen Mittelpunkt, um den Alles kreise, finden solle:
Und Dein Streben, sei's in Liebe, Und Dein Leben sei die That.
Anfang und Schluß des Romans verhielten sich zu einander wie Jugend und Alter, wie Poesie und Prosa. Aber weil der Dichter fühlte, daß die nützliche Thätigkeit für die bürgerliche Gesellschaft an sich noch nicht poetisch ist, und weil er selber mit allen Fasern seines Wesens in der allseitigen Bil- dung des alten Jahrhunderts wurzelte, darum wollte und konnte er den Grundgedanken der Wanderjahre nicht künstlerisch ausgestalten, sondern nur symbolisch andeuten; er schilderte nicht, wie der thatenfrohe Mann im ein- seitigen Schaffen sich selber zugleich beschränkt und kräftig auslebt, sondern ließ seinen Helden in bewußter Entsagung die freie Lebenslust überwinden und sein Ich vergessen in einem nüchternen Berufe. Für einen Roman der bürgerlichen Arbeit war in Deutschland die Zeit noch nicht gekommen. Die heitere Anmuth der eingestreuten Novellen, die plastische Anschaulich- keit des Bildes der heiligen Familie und vieler anderen Schilderungen erinnerten an die schönsten Zeiten der Goethischen Muse. Auch die lehr- haften Abschnitte enthielten neben manchem seltsamen Gedankenspiele eine Fülle reifer und tiefer Wahrheiten. Wie fühlte sich der junge Ludwig Richter in tiefster Seele gepackt, als er hier die Mahnung las: große Gedanken und ein reines Herz, das ists was wir uns von Gott erbitten sollten. Wie scharf durchschaute der Dichter die schwerste sittliche Gefahr, welche dem heranwachsenden Geschlechte drohte, wenn er die Erziehung zur Ehrfurcht seiner pädagogischen Provinz zur Aufgabe stellte. Aber ein abgerundetes Kunstwerk gab er nicht; seine alte Neigung zum fragmen- tarischen Schaffen überwältigte ihn wieder, fast planlos reihte er Alles
III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
Hegel die Geſchichte als den Tempel des allgegenwärtigen Gottes ver- ſtehen und vergötterte den Staat, den ſie einſt mißachtet hatte. Zugleich erklangen die erſten Lärmſtöße einer radikalen Literatur, welche durch und durch tendentiös, allein auf die augenblickliche Wirkung rechnend, an Allem was beſtand mit übermüthigem Hohne rüttelte und dem Traumleben der Romantik die Fehde anſagte. Das Alles war erſt im Werden, aber un- verkennbar ſtand die Nation im Begriff, mit der äſthetiſchen Weltan- ſchauung, die ihre unvergeßliche Zeit gehabt hatte, gänzlich zu brechen.
Goethe ſelbſt, der in ſeiner Einſamkeit doch immer die Hand am Pulſe des nationalen Lebens hielt, erkannte dieſen realiſtiſchen Zug der Zeit und förderte ihn, indem er in Wilhelm Meiſter’s Wanderjahren den Gedanken ausführte, welchen ſchon die Lehrjahre angedeutet hatten: der Menſch iſt nicht eher glücklich, als bis ſein unbedingtes Streben ſich ſelbſt ſeine Begrenzung beſtimmt. Die Odyſſee der allgemein menſchlichen Bil- dung endete alſo mit der modernen Lehre der Arbeitstheilung: daß ein Jeder Eines recht wiſſen und ausüben, in ſich ſelber einen Mittelpunkt, um den Alles kreiſe, finden ſolle:
Und Dein Streben, ſei’s in Liebe, Und Dein Leben ſei die That.
Anfang und Schluß des Romans verhielten ſich zu einander wie Jugend und Alter, wie Poeſie und Proſa. Aber weil der Dichter fühlte, daß die nützliche Thätigkeit für die bürgerliche Geſellſchaft an ſich noch nicht poetiſch iſt, und weil er ſelber mit allen Faſern ſeines Weſens in der allſeitigen Bil- dung des alten Jahrhunderts wurzelte, darum wollte und konnte er den Grundgedanken der Wanderjahre nicht künſtleriſch ausgeſtalten, ſondern nur ſymboliſch andeuten; er ſchilderte nicht, wie der thatenfrohe Mann im ein- ſeitigen Schaffen ſich ſelber zugleich beſchränkt und kräftig auslebt, ſondern ließ ſeinen Helden in bewußter Entſagung die freie Lebensluſt überwinden und ſein Ich vergeſſen in einem nüchternen Berufe. Für einen Roman der bürgerlichen Arbeit war in Deutſchland die Zeit noch nicht gekommen. Die heitere Anmuth der eingeſtreuten Novellen, die plaſtiſche Anſchaulich- keit des Bildes der heiligen Familie und vieler anderen Schilderungen erinnerten an die ſchönſten Zeiten der Goethiſchen Muſe. Auch die lehr- haften Abſchnitte enthielten neben manchem ſeltſamen Gedankenſpiele eine Fülle reifer und tiefer Wahrheiten. Wie fühlte ſich der junge Ludwig Richter in tiefſter Seele gepackt, als er hier die Mahnung las: große Gedanken und ein reines Herz, das iſts was wir uns von Gott erbitten ſollten. Wie ſcharf durchſchaute der Dichter die ſchwerſte ſittliche Gefahr, welche dem heranwachſenden Geſchlechte drohte, wenn er die Erziehung zur Ehrfurcht ſeiner pädagogiſchen Provinz zur Aufgabe ſtellte. Aber ein abgerundetes Kunſtwerk gab er nicht; ſeine alte Neigung zum fragmen- tariſchen Schaffen überwältigte ihn wieder, faſt planlos reihte er Alles
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Hegel die Geſchichte als den Tempel des allgegenwärtigen Gottes ver-
ſtehen und vergötterte den Staat, den ſie einſt mißachtet hatte. Zugleich
erklangen die erſten Lärmſtöße einer radikalen Literatur, welche durch und
durch tendentiös, allein auf die augenblickliche Wirkung rechnend, an Allem
was beſtand mit übermüthigem Hohne rüttelte und dem Traumleben der
Romantik die Fehde anſagte. Das Alles war erſt im Werden, aber un-
verkennbar ſtand die Nation im Begriff, mit der äſthetiſchen Weltan-
ſchauung, die ihre unvergeßliche Zeit gehabt hatte, gänzlich zu brechen.
Goethe ſelbſt, der in ſeiner Einſamkeit doch immer die Hand am
Pulſe des nationalen Lebens hielt, erkannte dieſen realiſtiſchen Zug der
Zeit und förderte ihn, indem er in Wilhelm Meiſter’s Wanderjahren den
Gedanken ausführte, welchen ſchon die Lehrjahre angedeutet hatten: der
Menſch iſt nicht eher glücklich, als bis ſein unbedingtes Streben ſich ſelbſt
ſeine Begrenzung beſtimmt. Die Odyſſee der allgemein menſchlichen Bil-
dung endete alſo mit der modernen Lehre der Arbeitstheilung: daß ein
Jeder Eines recht wiſſen und ausüben, in ſich ſelber einen Mittelpunkt,
um den Alles kreiſe, finden ſolle:
Und Dein Streben, ſei’s in Liebe,
Und Dein Leben ſei die That.
Anfang und Schluß des Romans verhielten ſich zu einander wie Jugend
und Alter, wie Poeſie und Proſa. Aber weil der Dichter fühlte, daß die
nützliche Thätigkeit für die bürgerliche Geſellſchaft an ſich noch nicht poetiſch
iſt, und weil er ſelber mit allen Faſern ſeines Weſens in der allſeitigen Bil-
dung des alten Jahrhunderts wurzelte, darum wollte und konnte er den
Grundgedanken der Wanderjahre nicht künſtleriſch ausgeſtalten, ſondern nur
ſymboliſch andeuten; er ſchilderte nicht, wie der thatenfrohe Mann im ein-
ſeitigen Schaffen ſich ſelber zugleich beſchränkt und kräftig auslebt, ſondern
ließ ſeinen Helden in bewußter Entſagung die freie Lebensluſt überwinden
und ſein Ich vergeſſen in einem nüchternen Berufe. Für einen Roman
der bürgerlichen Arbeit war in Deutſchland die Zeit noch nicht gekommen.
Die heitere Anmuth der eingeſtreuten Novellen, die plaſtiſche Anſchaulich-
keit des Bildes der heiligen Familie und vieler anderen Schilderungen
erinnerten an die ſchönſten Zeiten der Goethiſchen Muſe. Auch die lehr-
haften Abſchnitte enthielten neben manchem ſeltſamen Gedankenſpiele eine
Fülle reifer und tiefer Wahrheiten. Wie fühlte ſich der junge Ludwig
Richter in tiefſter Seele gepackt, als er hier die Mahnung las: große
Gedanken und ein reines Herz, das iſts was wir uns von Gott erbitten
ſollten. Wie ſcharf durchſchaute der Dichter die ſchwerſte ſittliche Gefahr,
welche dem heranwachſenden Geſchlechte drohte, wenn er die Erziehung
zur Ehrfurcht ſeiner pädagogiſchen Provinz zur Aufgabe ſtellte. Aber ein
abgerundetes Kunſtwerk gab er nicht; ſeine alte Neigung zum fragmen-
tariſchen Schaffen überwältigte ihn wieder, faſt planlos reihte er Alles
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 684. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/700>, abgerufen am 21.11.2024.
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