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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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Das Manuscript aus Süddeutschland.
constitutionellen Leben erhoffte, die Verringerung der Steuerlasten wurde
dem Lande zu theil. In den größeren Verhältnissen Frankreichs und auch
in einigen der deutschen Mittelstaaten machte man sehr bald die Erfah-
rung, daß die politische Freiheit mit der Wohlfeilheit der Verwaltung
keineswegs Hand in Hand geht. Der constitutionelle Staat sah sich fast
überall gezwungen, den Umkreis seiner Thätigkeit beständig zu erweitern,
weil er den zahllosen Ansprüchen der bürgerlichen Gesellschaft, die jetzt in
den Kammern beredte Fürsprecher fanden, gerecht werden mußte; er leistete
mehr als der alte Absolutismus und war darum auch kostspieliger. Den
Württembergern blieb diese Enttäuschung vorläufig noch erspart, da der
unmäßige Aufwand des alten Hofes hinwegfiel und der König in allen
Zweigen der Verwaltung auf genaue Ordnung hielt. Das Land war
mit seinem gestrengen bureaukratischen Regimente und der Leidsamkeit
seines Landtags nicht unzufrieden.

Doch wie hätte der unstete Ehrgeiz König Wilhelms in den bescheidenen
Pflichten des landesfürstlichen Berufs seine Befriedigung finden können!
Die Niederlage, die er auf den Wiener Conferenzen erlitten, wurmte ihn
tief; eine Genugthuung mußte er sich verschaffen, und sei es auch mit ver-
schlossenem Visier. Vor Jahren, so lange Königin Katharina noch lebte,
hatte er wohl zuweilen in begehrlichen Träumen an die deutsche Königskrone
gedacht. So verwegene Hoffnungen bethörten ihn längst nicht mehr. Aber
jener Bund im Bunde, den ihm Wangenheim und Trott so verführerisch
zu schildern wußten, schien jetzt doch möglich, da ein Theil der Mittelstaaten
soeben mit dem römischen Stuhle gemeinsam verhandelte und die große
Darmstädter Berathung über den süddeutschen Zollverein nahe bevorstand.

Seit dem September 1820 wurde eine angeblich in London erschienene
Schrift "Manuscript aus Süddeutschland von George Erichson" von
Stuttgart aus geschäftig verbreitet. Es war das Programm der Trias-
politik. Alle die boshaften Schmähungen, mit denen einst die Münchener
Alemannia ihre bairischen Leser gegen die Norddeutschen aufgestachelt hatte,
kehrten hier wieder, nur minder plump und darum gefährlicher: Berlin
hat die besten Schneider, Augsburg die besten Silberarbeiter; der schlaue,
unzuverlässige Norddeutsche ist im Felde nur als Husar und Freibeuter
zu verwenden, die stämmigen Bauern des Südens bilden den Kern der
deutschen Heere; eine politische Verbindung zwischen den beweglichen Han-
delsleuten des Nordens und dem seßhaften Volke des Oberlandes mag
in Jahrhunderten vielleicht möglich werden, heutzutage ist sie ebenso un-
haltbar wie die Vereinigung der Engländer und der Schotten zur Zeit
Eduards I. Aber während Aretin und Hörmann ihre partikularistischen
Absichten nie verhehlt hatten, erhob dieser neue Zwietrachtprediger den
Anspruch, der nationalen Politik die Bahnen zu weisen. Eine polnische
Theilung, so führte er aus, hat sich unbemerkt an Deutschland vollzogen,
von den neunundzwanzig Millionen Einwohnern des Deutschen Bundes

Das Manuſcript aus Süddeutſchland.
conſtitutionellen Leben erhoffte, die Verringerung der Steuerlaſten wurde
dem Lande zu theil. In den größeren Verhältniſſen Frankreichs und auch
in einigen der deutſchen Mittelſtaaten machte man ſehr bald die Erfah-
rung, daß die politiſche Freiheit mit der Wohlfeilheit der Verwaltung
keineswegs Hand in Hand geht. Der conſtitutionelle Staat ſah ſich faſt
überall gezwungen, den Umkreis ſeiner Thätigkeit beſtändig zu erweitern,
weil er den zahlloſen Anſprüchen der bürgerlichen Geſellſchaft, die jetzt in
den Kammern beredte Fürſprecher fanden, gerecht werden mußte; er leiſtete
mehr als der alte Abſolutismus und war darum auch koſtſpieliger. Den
Württembergern blieb dieſe Enttäuſchung vorläufig noch erſpart, da der
unmäßige Aufwand des alten Hofes hinwegfiel und der König in allen
Zweigen der Verwaltung auf genaue Ordnung hielt. Das Land war
mit ſeinem geſtrengen bureaukratiſchen Regimente und der Leidſamkeit
ſeines Landtags nicht unzufrieden.

Doch wie hätte der unſtete Ehrgeiz König Wilhelms in den beſcheidenen
Pflichten des landesfürſtlichen Berufs ſeine Befriedigung finden können!
Die Niederlage, die er auf den Wiener Conferenzen erlitten, wurmte ihn
tief; eine Genugthuung mußte er ſich verſchaffen, und ſei es auch mit ver-
ſchloſſenem Viſier. Vor Jahren, ſo lange Königin Katharina noch lebte,
hatte er wohl zuweilen in begehrlichen Träumen an die deutſche Königskrone
gedacht. So verwegene Hoffnungen bethörten ihn längſt nicht mehr. Aber
jener Bund im Bunde, den ihm Wangenheim und Trott ſo verführeriſch
zu ſchildern wußten, ſchien jetzt doch möglich, da ein Theil der Mittelſtaaten
ſoeben mit dem römiſchen Stuhle gemeinſam verhandelte und die große
Darmſtädter Berathung über den ſüddeutſchen Zollverein nahe bevorſtand.

Seit dem September 1820 wurde eine angeblich in London erſchienene
Schrift „Manuſcript aus Süddeutſchland von George Erichſon“ von
Stuttgart aus geſchäftig verbreitet. Es war das Programm der Trias-
politik. Alle die boshaften Schmähungen, mit denen einſt die Münchener
Alemannia ihre bairiſchen Leſer gegen die Norddeutſchen aufgeſtachelt hatte,
kehrten hier wieder, nur minder plump und darum gefährlicher: Berlin
hat die beſten Schneider, Augsburg die beſten Silberarbeiter; der ſchlaue,
unzuverläſſige Norddeutſche iſt im Felde nur als Huſar und Freibeuter
zu verwenden, die ſtämmigen Bauern des Südens bilden den Kern der
deutſchen Heere; eine politiſche Verbindung zwiſchen den beweglichen Han-
delsleuten des Nordens und dem ſeßhaften Volke des Oberlandes mag
in Jahrhunderten vielleicht möglich werden, heutzutage iſt ſie ebenſo un-
haltbar wie die Vereinigung der Engländer und der Schotten zur Zeit
Eduards I. Aber während Aretin und Hörmann ihre partikulariſtiſchen
Abſichten nie verhehlt hatten, erhob dieſer neue Zwietrachtprediger den
Anſpruch, der nationalen Politik die Bahnen zu weiſen. Eine polniſche
Theilung, ſo führte er aus, hat ſich unbemerkt an Deutſchland vollzogen,
von den neunundzwanzig Millionen Einwohnern des Deutſchen Bundes

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[55/0071] Das Manuſcript aus Süddeutſchland. conſtitutionellen Leben erhoffte, die Verringerung der Steuerlaſten wurde dem Lande zu theil. In den größeren Verhältniſſen Frankreichs und auch in einigen der deutſchen Mittelſtaaten machte man ſehr bald die Erfah- rung, daß die politiſche Freiheit mit der Wohlfeilheit der Verwaltung keineswegs Hand in Hand geht. Der conſtitutionelle Staat ſah ſich faſt überall gezwungen, den Umkreis ſeiner Thätigkeit beſtändig zu erweitern, weil er den zahlloſen Anſprüchen der bürgerlichen Geſellſchaft, die jetzt in den Kammern beredte Fürſprecher fanden, gerecht werden mußte; er leiſtete mehr als der alte Abſolutismus und war darum auch koſtſpieliger. Den Württembergern blieb dieſe Enttäuſchung vorläufig noch erſpart, da der unmäßige Aufwand des alten Hofes hinwegfiel und der König in allen Zweigen der Verwaltung auf genaue Ordnung hielt. Das Land war mit ſeinem geſtrengen bureaukratiſchen Regimente und der Leidſamkeit ſeines Landtags nicht unzufrieden. Doch wie hätte der unſtete Ehrgeiz König Wilhelms in den beſcheidenen Pflichten des landesfürſtlichen Berufs ſeine Befriedigung finden können! Die Niederlage, die er auf den Wiener Conferenzen erlitten, wurmte ihn tief; eine Genugthuung mußte er ſich verſchaffen, und ſei es auch mit ver- ſchloſſenem Viſier. Vor Jahren, ſo lange Königin Katharina noch lebte, hatte er wohl zuweilen in begehrlichen Träumen an die deutſche Königskrone gedacht. So verwegene Hoffnungen bethörten ihn längſt nicht mehr. Aber jener Bund im Bunde, den ihm Wangenheim und Trott ſo verführeriſch zu ſchildern wußten, ſchien jetzt doch möglich, da ein Theil der Mittelſtaaten ſoeben mit dem römiſchen Stuhle gemeinſam verhandelte und die große Darmſtädter Berathung über den ſüddeutſchen Zollverein nahe bevorſtand. Seit dem September 1820 wurde eine angeblich in London erſchienene Schrift „Manuſcript aus Süddeutſchland von George Erichſon“ von Stuttgart aus geſchäftig verbreitet. Es war das Programm der Trias- politik. Alle die boshaften Schmähungen, mit denen einſt die Münchener Alemannia ihre bairiſchen Leſer gegen die Norddeutſchen aufgeſtachelt hatte, kehrten hier wieder, nur minder plump und darum gefährlicher: Berlin hat die beſten Schneider, Augsburg die beſten Silberarbeiter; der ſchlaue, unzuverläſſige Norddeutſche iſt im Felde nur als Huſar und Freibeuter zu verwenden, die ſtämmigen Bauern des Südens bilden den Kern der deutſchen Heere; eine politiſche Verbindung zwiſchen den beweglichen Han- delsleuten des Nordens und dem ſeßhaften Volke des Oberlandes mag in Jahrhunderten vielleicht möglich werden, heutzutage iſt ſie ebenſo un- haltbar wie die Vereinigung der Engländer und der Schotten zur Zeit Eduards I. Aber während Aretin und Hörmann ihre partikulariſtiſchen Abſichten nie verhehlt hatten, erhob dieſer neue Zwietrachtprediger den Anſpruch, der nationalen Politik die Bahnen zu weiſen. Eine polniſche Theilung, ſo führte er aus, hat ſich unbemerkt an Deutſchland vollzogen, von den neunundzwanzig Millionen Einwohnern des Deutſchen Bundes

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/71>, abgerufen am 21.11.2024.