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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit.
verdünnt und verflacht, längst in das Bürgerthum eingedrungen, und in
dem gedrückten politischen Leben dieser Tage fühlte sich Jeder im Herzen
erleichtert, wenn die Sünden der Mächtigen der Erde von einem rücksichts-
los ehrlichen Manne gründlich abgestraft wurden. Durch die Geschichte
des achtzehnten Jahrhunderts errang diese moralisirende Geschichtschreibung
ihren ersten großen Erfolg, aber erst im folgenden Jahrzehnt, als Schlosser
den ersten Entwurf dieses Buches breiter ausführte, wurde er eine an-
erkannte Macht im deutschen Bürgerthum.

Bescheiden und fest, einer großen Zukunft sicher, erklärte Leopold Ranke
schon in seiner Erstlingsschrift, den Geschichten der romanischen und ger-
manischen Völker (1824), daß er sich des Amtes, die Vergangenheit zu
richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, nicht
unterwinde. Er wolle "blos zeigen, wie es eigentlich gewesen". Ver-
traut mit der Philosophie Fichter's und Hegel's, beabsichtigte er durch dies
tiefsinnige Wort keineswegs, dem Historiker die Darstellung des Ideen-
gehaltes der Geschichte zu verbieten, aber in der genauen Ergründung
des Thatbestandes sah er das Nächste, was der noch ganz verwahrlosten
neuen Geschichte noth that; und der Quellenkritik dieses Zeitraums brach
der junge Meister sogleich selbst die Bahn, indem er in einer classischen
Untersuchung die Unglaubwürdigkeit der berühmten Historiker des Cin-
quecento darlegte, die Berichte, die Briefe, die Tagebücher der unmittelbar
Betheiligten als die allein probehaltigen Zeugnisse empfahl. In dem
Werke über die Fürsten und Völker Südeuropas, das großentheils aus
den unvergleichlichen Gesandtschaftsberichten der Venetianer geschöpft war,
trat der Charakter dieser neuen diplomatischen Geschichtschreibung bereits
schärfer hervor. Wesentlich politisch, betrachtete sie den Staat stets von
oben. Sie suchte die Beweggründe und Absichten der Handelnden, der
Herrschenden zu verstehen und gelangte also zu einer vornehmen Zurück-
haltung, welche die Thatsachen meist für sich selber reden ließ; durch die
vollständige Beherrschung des Stoffs gewann die Erzählung die ruhige
Schönheit des Kunstwerks. Wohl lag die Gefahr nahe, daß die Stimme
des Gewissens, die in Schlosser's Schriften nur zu oft und lärmend sprach,
in den Werken der diplomatischen Historiker ganz verstummte, daß der
breite Unterbau der Gesellschaft, die Masse des Volks mit ihrer Noth
und Sorge, mit ihrer Tapferkeit und ihren dunklen Instinkten nicht
genugsam beachtet würde, und auch die Kräfte des Gemüths, deren jede
lebenswahre Schilderung des Menschendaseins bedarf, die Liebe und der
Humor nicht ganz zu ihrem Rechte kämen. Aber der feste Grund war
gelegt, auf dem sich die deutsche Geschichtsforschung zur Höhe einer ge-
sicherten Fachwissenschaft erheben konnte, und die Zeit sollte noch kommen,
da die anfangs nur von kleinen Kreisen beachtete Schule Ranke's die
volksbeliebten Schlosser'schen Werke gänzlich aus dem Felde schlug.

Nach allen Seiten hin entfaltete sich frisch und kerngesund das

III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
verdünnt und verflacht, längſt in das Bürgerthum eingedrungen, und in
dem gedrückten politiſchen Leben dieſer Tage fühlte ſich Jeder im Herzen
erleichtert, wenn die Sünden der Mächtigen der Erde von einem rückſichts-
los ehrlichen Manne gründlich abgeſtraft wurden. Durch die Geſchichte
des achtzehnten Jahrhunderts errang dieſe moraliſirende Geſchichtſchreibung
ihren erſten großen Erfolg, aber erſt im folgenden Jahrzehnt, als Schloſſer
den erſten Entwurf dieſes Buches breiter ausführte, wurde er eine an-
erkannte Macht im deutſchen Bürgerthum.

Beſcheiden und feſt, einer großen Zukunft ſicher, erklärte Leopold Ranke
ſchon in ſeiner Erſtlingsſchrift, den Geſchichten der romaniſchen und ger-
maniſchen Völker (1824), daß er ſich des Amtes, die Vergangenheit zu
richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, nicht
unterwinde. Er wolle „blos zeigen, wie es eigentlich geweſen“. Ver-
traut mit der Philoſophie Fichter’s und Hegel’s, beabſichtigte er durch dies
tiefſinnige Wort keineswegs, dem Hiſtoriker die Darſtellung des Ideen-
gehaltes der Geſchichte zu verbieten, aber in der genauen Ergründung
des Thatbeſtandes ſah er das Nächſte, was der noch ganz verwahrloſten
neuen Geſchichte noth that; und der Quellenkritik dieſes Zeitraums brach
der junge Meiſter ſogleich ſelbſt die Bahn, indem er in einer claſſiſchen
Unterſuchung die Unglaubwürdigkeit der berühmten Hiſtoriker des Cin-
quecento darlegte, die Berichte, die Briefe, die Tagebücher der unmittelbar
Betheiligten als die allein probehaltigen Zeugniſſe empfahl. In dem
Werke über die Fürſten und Völker Südeuropas, das großentheils aus
den unvergleichlichen Geſandtſchaftsberichten der Venetianer geſchöpft war,
trat der Charakter dieſer neuen diplomatiſchen Geſchichtſchreibung bereits
ſchärfer hervor. Weſentlich politiſch, betrachtete ſie den Staat ſtets von
oben. Sie ſuchte die Beweggründe und Abſichten der Handelnden, der
Herrſchenden zu verſtehen und gelangte alſo zu einer vornehmen Zurück-
haltung, welche die Thatſachen meiſt für ſich ſelber reden ließ; durch die
vollſtändige Beherrſchung des Stoffs gewann die Erzählung die ruhige
Schönheit des Kunſtwerks. Wohl lag die Gefahr nahe, daß die Stimme
des Gewiſſens, die in Schloſſer’s Schriften nur zu oft und lärmend ſprach,
in den Werken der diplomatiſchen Hiſtoriker ganz verſtummte, daß der
breite Unterbau der Geſellſchaft, die Maſſe des Volks mit ihrer Noth
und Sorge, mit ihrer Tapferkeit und ihren dunklen Inſtinkten nicht
genugſam beachtet würde, und auch die Kräfte des Gemüths, deren jede
lebenswahre Schilderung des Menſchendaſeins bedarf, die Liebe und der
Humor nicht ganz zu ihrem Rechte kämen. Aber der feſte Grund war
gelegt, auf dem ſich die deutſche Geſchichtsforſchung zur Höhe einer ge-
ſicherten Fachwiſſenſchaft erheben konnte, und die Zeit ſollte noch kommen,
da die anfangs nur von kleinen Kreiſen beachtete Schule Ranke’s die
volksbeliebten Schloſſer’ſchen Werke gänzlich aus dem Felde ſchlug.

Nach allen Seiten hin entfaltete ſich friſch und kerngeſund das

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[698/0714] III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit. verdünnt und verflacht, längſt in das Bürgerthum eingedrungen, und in dem gedrückten politiſchen Leben dieſer Tage fühlte ſich Jeder im Herzen erleichtert, wenn die Sünden der Mächtigen der Erde von einem rückſichts- los ehrlichen Manne gründlich abgeſtraft wurden. Durch die Geſchichte des achtzehnten Jahrhunderts errang dieſe moraliſirende Geſchichtſchreibung ihren erſten großen Erfolg, aber erſt im folgenden Jahrzehnt, als Schloſſer den erſten Entwurf dieſes Buches breiter ausführte, wurde er eine an- erkannte Macht im deutſchen Bürgerthum. Beſcheiden und feſt, einer großen Zukunft ſicher, erklärte Leopold Ranke ſchon in ſeiner Erſtlingsſchrift, den Geſchichten der romaniſchen und ger- maniſchen Völker (1824), daß er ſich des Amtes, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, nicht unterwinde. Er wolle „blos zeigen, wie es eigentlich geweſen“. Ver- traut mit der Philoſophie Fichter’s und Hegel’s, beabſichtigte er durch dies tiefſinnige Wort keineswegs, dem Hiſtoriker die Darſtellung des Ideen- gehaltes der Geſchichte zu verbieten, aber in der genauen Ergründung des Thatbeſtandes ſah er das Nächſte, was der noch ganz verwahrloſten neuen Geſchichte noth that; und der Quellenkritik dieſes Zeitraums brach der junge Meiſter ſogleich ſelbſt die Bahn, indem er in einer claſſiſchen Unterſuchung die Unglaubwürdigkeit der berühmten Hiſtoriker des Cin- quecento darlegte, die Berichte, die Briefe, die Tagebücher der unmittelbar Betheiligten als die allein probehaltigen Zeugniſſe empfahl. In dem Werke über die Fürſten und Völker Südeuropas, das großentheils aus den unvergleichlichen Geſandtſchaftsberichten der Venetianer geſchöpft war, trat der Charakter dieſer neuen diplomatiſchen Geſchichtſchreibung bereits ſchärfer hervor. Weſentlich politiſch, betrachtete ſie den Staat ſtets von oben. Sie ſuchte die Beweggründe und Abſichten der Handelnden, der Herrſchenden zu verſtehen und gelangte alſo zu einer vornehmen Zurück- haltung, welche die Thatſachen meiſt für ſich ſelber reden ließ; durch die vollſtändige Beherrſchung des Stoffs gewann die Erzählung die ruhige Schönheit des Kunſtwerks. Wohl lag die Gefahr nahe, daß die Stimme des Gewiſſens, die in Schloſſer’s Schriften nur zu oft und lärmend ſprach, in den Werken der diplomatiſchen Hiſtoriker ganz verſtummte, daß der breite Unterbau der Geſellſchaft, die Maſſe des Volks mit ihrer Noth und Sorge, mit ihrer Tapferkeit und ihren dunklen Inſtinkten nicht genugſam beachtet würde, und auch die Kräfte des Gemüths, deren jede lebenswahre Schilderung des Menſchendaſeins bedarf, die Liebe und der Humor nicht ganz zu ihrem Rechte kämen. Aber der feſte Grund war gelegt, auf dem ſich die deutſche Geſchichtsforſchung zur Höhe einer ge- ſicherten Fachwiſſenſchaft erheben konnte, und die Zeit ſollte noch kommen, da die anfangs nur von kleinen Kreiſen beachtete Schule Ranke’s die volksbeliebten Schloſſer’ſchen Werke gänzlich aus dem Felde ſchlug. Nach allen Seiten hin entfaltete ſich friſch und kerngeſund das

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 698. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/714>, abgerufen am 22.11.2024.