eingeborenen Rechtes" galten. Obwohl er nur als Alterthumsforscher, nicht als Staats- und Rechtslehrer schreiben wollte, so warfen doch seine Untersuchungen über die Mark und den Hammerwurf ein erklärendes Licht auf weite, noch unerforschte Epochen deutscher Staats- und Wirth- schaftsgeschichte, auf jene Zeiten namentlich, da die Germanen von der Viehzucht zum seßhaften Ackerbau übergingen und die tragende Habe die treibende zurückdrängte. Er zuerst entdeckte, daß bei der Vermischung ver- schiedener Nationen der Kern des Rechtes wie der Sprache noch lange unverändert bleibt, während die Proceßformen und die Formen der Wörter sich rascher verwandeln.
Einige Ergebnisse der germanischen Forschung wurden allmählich zum Gemeingut der Gebildeten, seit Karl Simrock die Nibelungen und dann auch andere mittelhochdeutsche Dichtungen übersetzte -- ein geistvoller, liebens- würdiger Rheinländer, dem der Schelm im Nacken saß, zugleich Dichter und Gelehrter, hochbegeistert für Deutschlands alte Größe und die Schönheit seines sagenreichen heimischen Stromes. Als Nachdichter wollte er nicht, wie die Uebersetzer aus fremden Sprachen, Alles in blankes, neues Deutsch übertragen; er begnügte sich, die dem heutigen Sprachgefühle ganz unver- ständlichen Worte schonend zu ersetzen und wahrte also jenen alterthüm- lichen Hauch, der an vaterländischen Dichtungen nicht befremdet, sondern anheimelt.
Nicht minder fruchtbar wurde dies Jahrzehnt für die Theologie. In seiner Glaubenslehre (1821) führte Schleiermacher die Grundgedanken der Reden über die Religion mit methodischer Strenge durch. Er zeigte, wie die Religion in der Einheit unseres inneren Lebens wurzelt, in dem unmittelbaren Selbstbewußtsein des Menschen, das alles Wollen und Denken beherrscht und durchdringt. Nicht in dem Führwahrhalten bestimmter Dogmen fand er das Wesen des Glaubens, sondern in der inneren Er- fahrung von der Erlösung. Dies innerlich Erlebte wollte er den Denkenden darlegen und also die wissenschaftliche Bildung des Jahrhunderts mit dem Glauben versöhnen. Das Unternehmen konnte nicht völlig ge- lingen; mehr denn einmal überschritt der große Dialektiker die Schranken des Erkennens und suchte zu erweisen was jenseits aller Beweise liegt. Aber ein mächtiger Geist sprach aus dieser seelenvollen Auffassung des Christenthums, eine weitherzige Liebe, die selbst den Gedanken der ewigen Verdammniß nicht fassen, an einer allgemeinen Wiederherstellung aller Seelen nicht verzweifeln wollte. Bald darauf (1828) eröffneten Ullmann und Umbreit in ihren "Studien und Kritiken" einen Sprechsaal für die Vermittlungstheologie, die sich von Paulus ebenso bestimmt abschied wie von Hengstenberg; die drei großen Richtungen der evangelischen Theologie erschienen nunmehr sämmtlich als fest geordnete Parteien.
Welch eine Wandlung seit jenen Tagen kirchlicher Stille, da Schleier- macher zuerst wieder die längst vergessene Wahrheit verkündigte, daß die
III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
eingeborenen Rechtes“ galten. Obwohl er nur als Alterthumsforſcher, nicht als Staats- und Rechtslehrer ſchreiben wollte, ſo warfen doch ſeine Unterſuchungen über die Mark und den Hammerwurf ein erklärendes Licht auf weite, noch unerforſchte Epochen deutſcher Staats- und Wirth- ſchaftsgeſchichte, auf jene Zeiten namentlich, da die Germanen von der Viehzucht zum ſeßhaften Ackerbau übergingen und die tragende Habe die treibende zurückdrängte. Er zuerſt entdeckte, daß bei der Vermiſchung ver- ſchiedener Nationen der Kern des Rechtes wie der Sprache noch lange unverändert bleibt, während die Proceßformen und die Formen der Wörter ſich raſcher verwandeln.
Einige Ergebniſſe der germaniſchen Forſchung wurden allmählich zum Gemeingut der Gebildeten, ſeit Karl Simrock die Nibelungen und dann auch andere mittelhochdeutſche Dichtungen überſetzte — ein geiſtvoller, liebens- würdiger Rheinländer, dem der Schelm im Nacken ſaß, zugleich Dichter und Gelehrter, hochbegeiſtert für Deutſchlands alte Größe und die Schönheit ſeines ſagenreichen heimiſchen Stromes. Als Nachdichter wollte er nicht, wie die Ueberſetzer aus fremden Sprachen, Alles in blankes, neues Deutſch übertragen; er begnügte ſich, die dem heutigen Sprachgefühle ganz unver- ſtändlichen Worte ſchonend zu erſetzen und wahrte alſo jenen alterthüm- lichen Hauch, der an vaterländiſchen Dichtungen nicht befremdet, ſondern anheimelt.
Nicht minder fruchtbar wurde dies Jahrzehnt für die Theologie. In ſeiner Glaubenslehre (1821) führte Schleiermacher die Grundgedanken der Reden über die Religion mit methodiſcher Strenge durch. Er zeigte, wie die Religion in der Einheit unſeres inneren Lebens wurzelt, in dem unmittelbaren Selbſtbewußtſein des Menſchen, das alles Wollen und Denken beherrſcht und durchdringt. Nicht in dem Führwahrhalten beſtimmter Dogmen fand er das Weſen des Glaubens, ſondern in der inneren Er- fahrung von der Erlöſung. Dies innerlich Erlebte wollte er den Denkenden darlegen und alſo die wiſſenſchaftliche Bildung des Jahrhunderts mit dem Glauben verſöhnen. Das Unternehmen konnte nicht völlig ge- lingen; mehr denn einmal überſchritt der große Dialektiker die Schranken des Erkennens und ſuchte zu erweiſen was jenſeits aller Beweiſe liegt. Aber ein mächtiger Geiſt ſprach aus dieſer ſeelenvollen Auffaſſung des Chriſtenthums, eine weitherzige Liebe, die ſelbſt den Gedanken der ewigen Verdammniß nicht faſſen, an einer allgemeinen Wiederherſtellung aller Seelen nicht verzweifeln wollte. Bald darauf (1828) eröffneten Ullmann und Umbreit in ihren „Studien und Kritiken“ einen Sprechſaal für die Vermittlungstheologie, die ſich von Paulus ebenſo beſtimmt abſchied wie von Hengſtenberg; die drei großen Richtungen der evangeliſchen Theologie erſchienen nunmehr ſämmtlich als feſt geordnete Parteien.
Welch eine Wandlung ſeit jenen Tagen kirchlicher Stille, da Schleier- macher zuerſt wieder die längſt vergeſſene Wahrheit verkündigte, daß die
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eingeborenen Rechtes“ galten. Obwohl er nur als Alterthumsforſcher,
nicht als Staats- und Rechtslehrer ſchreiben wollte, ſo warfen doch ſeine
Unterſuchungen über die Mark und den Hammerwurf ein erklärendes
Licht auf weite, noch unerforſchte Epochen deutſcher Staats- und Wirth-
ſchaftsgeſchichte, auf jene Zeiten namentlich, da die Germanen von der
Viehzucht zum ſeßhaften Ackerbau übergingen und die tragende Habe die
treibende zurückdrängte. Er zuerſt entdeckte, daß bei der Vermiſchung ver-
ſchiedener Nationen der Kern des Rechtes wie der Sprache noch lange
unverändert bleibt, während die Proceßformen und die Formen der Wörter
ſich raſcher verwandeln.
Einige Ergebniſſe der germaniſchen Forſchung wurden allmählich zum
Gemeingut der Gebildeten, ſeit Karl Simrock die Nibelungen und dann auch
andere mittelhochdeutſche Dichtungen überſetzte — ein geiſtvoller, liebens-
würdiger Rheinländer, dem der Schelm im Nacken ſaß, zugleich Dichter
und Gelehrter, hochbegeiſtert für Deutſchlands alte Größe und die Schönheit
ſeines ſagenreichen heimiſchen Stromes. Als Nachdichter wollte er nicht,
wie die Ueberſetzer aus fremden Sprachen, Alles in blankes, neues Deutſch
übertragen; er begnügte ſich, die dem heutigen Sprachgefühle ganz unver-
ſtändlichen Worte ſchonend zu erſetzen und wahrte alſo jenen alterthüm-
lichen Hauch, der an vaterländiſchen Dichtungen nicht befremdet, ſondern
anheimelt.
Nicht minder fruchtbar wurde dies Jahrzehnt für die Theologie.
In ſeiner Glaubenslehre (1821) führte Schleiermacher die Grundgedanken
der Reden über die Religion mit methodiſcher Strenge durch. Er zeigte,
wie die Religion in der Einheit unſeres inneren Lebens wurzelt, in dem
unmittelbaren Selbſtbewußtſein des Menſchen, das alles Wollen und Denken
beherrſcht und durchdringt. Nicht in dem Führwahrhalten beſtimmter
Dogmen fand er das Weſen des Glaubens, ſondern in der inneren Er-
fahrung von der Erlöſung. Dies innerlich Erlebte wollte er den Denkenden
darlegen und alſo die wiſſenſchaftliche Bildung des Jahrhunderts mit
dem Glauben verſöhnen. Das Unternehmen konnte nicht völlig ge-
lingen; mehr denn einmal überſchritt der große Dialektiker die Schranken
des Erkennens und ſuchte zu erweiſen was jenſeits aller Beweiſe liegt.
Aber ein mächtiger Geiſt ſprach aus dieſer ſeelenvollen Auffaſſung des
Chriſtenthums, eine weitherzige Liebe, die ſelbſt den Gedanken der ewigen
Verdammniß nicht faſſen, an einer allgemeinen Wiederherſtellung aller
Seelen nicht verzweifeln wollte. Bald darauf (1828) eröffneten Ullmann
und Umbreit in ihren „Studien und Kritiken“ einen Sprechſaal für die
Vermittlungstheologie, die ſich von Paulus ebenſo beſtimmt abſchied wie
von Hengſtenberg; die drei großen Richtungen der evangeliſchen Theologie
erſchienen nunmehr ſämmtlich als feſt geordnete Parteien.
Welch eine Wandlung ſeit jenen Tagen kirchlicher Stille, da Schleier-
macher zuerſt wieder die längſt vergeſſene Wahrheit verkündigte, daß die
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 700. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/716>, abgerufen am 22.11.2024.
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