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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885.

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III. 9. Literarische Vorboten einer neuen Zeit.
da Rückert den Deutschen geweissagt hatte, hier in der alten Reichsstadt
werde und müsse dereinst ein deutsches Fürstenschloß sich erheben! Dieser
neue Prediger deutscher Freiheit schrieb aus Paris: "mich fröstelte nicht
mehr unter Fischen, ich war nicht mehr in Deutschland!" Er war nicht
ganz ohne Sinn für die Größe seines Vaterlandes, in guten Stunden
fühlte er wohl die Nichtigkeit der "koketten Gloire", die Ueberlegenheit der
deutschen Sprache, ja selbst der deutschen Gedankenfreiheit. Aber nach
solchen Aufwallungen deutschen Gefühles fiel er stets wieder in jüdisch-
französische Phrasen zurück, deren Bombast nur Victor Hugo übertroffen
hat: "Paris ist der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroskop der Ge-
genwart und das Fernrohr der Zukunft!" Er ward nicht müde den
deutschen "Stückmenschen" das leuchtende Bild der französischen "Total-
menschen" vorzuhalten; ohne den lächerlichen Widerspruch zu bemerken
empfahl er uns dann insbesondere die harte Einseitigkeit französischer Partei-
gesinnung: "Der Franzose lobt und begünstigt Jeden, der auf seiner Seite,
und tadelt und beschädigt Jeden, der ihm gegenübersteht; darum erreichen
die Franzosen Alles, und wir bringen es zu nichts". Als er von der
Vendomesäule auf Paris hinabschaute, meinte er: "Dieser Anblick würde
einem Deutschen wohlthun, wenn es die Binse größer und stärker machte,
daß der Sturm die Eiche niederwarf." Nur sieben Jahre nach dem
zweiten Einzuge der deutschen Heere in Paris hatte er also schon ver-
gessen, daß wir selber der Sturm waren, der die Eiche niederwarf. Die
französische Eitelkeit gefiel sich schon längst in dem Wahne, die Ueber-
macht der großen Nation sei nur durch eine räthselhafte Schicksalstücke,
ohne Zuthun der Deutschen gebrochen worden; jetzt begannen die Sieger
schon die Märchen der Geschlagenen gläubig nachzusprechen.

Durch Börne's Bücher wurden die Blicke der deutschen Jugend wieder
nach Paris gelenkt. Wie vormals die höfische Geselligkeit so lockte jetzt
der parlamentarische Kampf nach der Seine. Bald ward es zur Regel,
daß jeder junge radicale Schriftsteller eine Pilgerfahrt nach dem Mekka
der Freiheit unternehmen mußte um sich den wahren politischen Glauben
anzueignen. Auf Börne folgte Eduard Gans, ein ungleich schärferer poli-
tischer Kopf, dem die Gebrechen des französischen Staatslebens nicht ent-
gingen. Aber auch er ließ sich von dem theatralischen Lärm dieser Partei-
kämpfe bezaubern; er meinte "den Herzschlag Frankreichs" zu hören, als
bei einem Preßprozesse die Beifallssalven des liberalen Publicums durch
den Saal dröhnten; neben der politisch erregten Pariser Jugend erschien
ihm die deutsche äußerlich und frivol. So ging es fort: immer wieder
zogen deutsche Literaten über den Rhein, denen schon auf der Kehler Brücke
das Herz höher zu schlagen begann; sie brachten sämmtlich schon den Vor-
satz mit, alles Wälsche zu bewundern, und da sie nur Paris kennen lernten,
und auch dort nur einen kleinen Kreis radicaler Journalisten, so versorgten
sie die deutschen Zeitungen mit völlig falschen Berichten. Die preußischen

III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit.
da Rückert den Deutſchen geweiſſagt hatte, hier in der alten Reichsſtadt
werde und müſſe dereinſt ein deutſches Fürſtenſchloß ſich erheben! Dieſer
neue Prediger deutſcher Freiheit ſchrieb aus Paris: „mich fröſtelte nicht
mehr unter Fiſchen, ich war nicht mehr in Deutſchland!“ Er war nicht
ganz ohne Sinn für die Größe ſeines Vaterlandes, in guten Stunden
fühlte er wohl die Nichtigkeit der „koketten Gloire“, die Ueberlegenheit der
deutſchen Sprache, ja ſelbſt der deutſchen Gedankenfreiheit. Aber nach
ſolchen Aufwallungen deutſchen Gefühles fiel er ſtets wieder in jüdiſch-
franzöſiſche Phraſen zurück, deren Bombaſt nur Victor Hugo übertroffen
hat: „Paris iſt der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroſkop der Ge-
genwart und das Fernrohr der Zukunft!“ Er ward nicht müde den
deutſchen „Stückmenſchen“ das leuchtende Bild der franzöſiſchen „Total-
menſchen“ vorzuhalten; ohne den lächerlichen Widerſpruch zu bemerken
empfahl er uns dann insbeſondere die harte Einſeitigkeit franzöſiſcher Partei-
geſinnung: „Der Franzoſe lobt und begünſtigt Jeden, der auf ſeiner Seite,
und tadelt und beſchädigt Jeden, der ihm gegenüberſteht; darum erreichen
die Franzoſen Alles, und wir bringen es zu nichts“. Als er von der
Vendomeſäule auf Paris hinabſchaute, meinte er: „Dieſer Anblick würde
einem Deutſchen wohlthun, wenn es die Binſe größer und ſtärker machte,
daß der Sturm die Eiche niederwarf.“ Nur ſieben Jahre nach dem
zweiten Einzuge der deutſchen Heere in Paris hatte er alſo ſchon ver-
geſſen, daß wir ſelber der Sturm waren, der die Eiche niederwarf. Die
franzöſiſche Eitelkeit gefiel ſich ſchon längſt in dem Wahne, die Ueber-
macht der großen Nation ſei nur durch eine räthſelhafte Schickſalstücke,
ohne Zuthun der Deutſchen gebrochen worden; jetzt begannen die Sieger
ſchon die Märchen der Geſchlagenen gläubig nachzuſprechen.

Durch Börne’s Bücher wurden die Blicke der deutſchen Jugend wieder
nach Paris gelenkt. Wie vormals die höfiſche Geſelligkeit ſo lockte jetzt
der parlamentariſche Kampf nach der Seine. Bald ward es zur Regel,
daß jeder junge radicale Schriftſteller eine Pilgerfahrt nach dem Mekka
der Freiheit unternehmen mußte um ſich den wahren politiſchen Glauben
anzueignen. Auf Börne folgte Eduard Gans, ein ungleich ſchärferer poli-
tiſcher Kopf, dem die Gebrechen des franzöſiſchen Staatslebens nicht ent-
gingen. Aber auch er ließ ſich von dem theatraliſchen Lärm dieſer Partei-
kämpfe bezaubern; er meinte „den Herzſchlag Frankreichs“ zu hören, als
bei einem Preßprozeſſe die Beifallsſalven des liberalen Publicums durch
den Saal dröhnten; neben der politiſch erregten Pariſer Jugend erſchien
ihm die deutſche äußerlich und frivol. So ging es fort: immer wieder
zogen deutſche Literaten über den Rhein, denen ſchon auf der Kehler Brücke
das Herz höher zu ſchlagen begann; ſie brachten ſämmtlich ſchon den Vor-
ſatz mit, alles Wälſche zu bewundern, und da ſie nur Paris kennen lernten,
und auch dort nur einen kleinen Kreis radicaler Journaliſten, ſo verſorgten
ſie die deutſchen Zeitungen mit völlig falſchen Berichten. Die preußiſchen

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[708/0724] III. 9. Literariſche Vorboten einer neuen Zeit. da Rückert den Deutſchen geweiſſagt hatte, hier in der alten Reichsſtadt werde und müſſe dereinſt ein deutſches Fürſtenſchloß ſich erheben! Dieſer neue Prediger deutſcher Freiheit ſchrieb aus Paris: „mich fröſtelte nicht mehr unter Fiſchen, ich war nicht mehr in Deutſchland!“ Er war nicht ganz ohne Sinn für die Größe ſeines Vaterlandes, in guten Stunden fühlte er wohl die Nichtigkeit der „koketten Gloire“, die Ueberlegenheit der deutſchen Sprache, ja ſelbſt der deutſchen Gedankenfreiheit. Aber nach ſolchen Aufwallungen deutſchen Gefühles fiel er ſtets wieder in jüdiſch- franzöſiſche Phraſen zurück, deren Bombaſt nur Victor Hugo übertroffen hat: „Paris iſt der Telegraph der Vergangenheit, das Mikroſkop der Ge- genwart und das Fernrohr der Zukunft!“ Er ward nicht müde den deutſchen „Stückmenſchen“ das leuchtende Bild der franzöſiſchen „Total- menſchen“ vorzuhalten; ohne den lächerlichen Widerſpruch zu bemerken empfahl er uns dann insbeſondere die harte Einſeitigkeit franzöſiſcher Partei- geſinnung: „Der Franzoſe lobt und begünſtigt Jeden, der auf ſeiner Seite, und tadelt und beſchädigt Jeden, der ihm gegenüberſteht; darum erreichen die Franzoſen Alles, und wir bringen es zu nichts“. Als er von der Vendomeſäule auf Paris hinabſchaute, meinte er: „Dieſer Anblick würde einem Deutſchen wohlthun, wenn es die Binſe größer und ſtärker machte, daß der Sturm die Eiche niederwarf.“ Nur ſieben Jahre nach dem zweiten Einzuge der deutſchen Heere in Paris hatte er alſo ſchon ver- geſſen, daß wir ſelber der Sturm waren, der die Eiche niederwarf. Die franzöſiſche Eitelkeit gefiel ſich ſchon längſt in dem Wahne, die Ueber- macht der großen Nation ſei nur durch eine räthſelhafte Schickſalstücke, ohne Zuthun der Deutſchen gebrochen worden; jetzt begannen die Sieger ſchon die Märchen der Geſchlagenen gläubig nachzuſprechen. Durch Börne’s Bücher wurden die Blicke der deutſchen Jugend wieder nach Paris gelenkt. Wie vormals die höfiſche Geſelligkeit ſo lockte jetzt der parlamentariſche Kampf nach der Seine. Bald ward es zur Regel, daß jeder junge radicale Schriftſteller eine Pilgerfahrt nach dem Mekka der Freiheit unternehmen mußte um ſich den wahren politiſchen Glauben anzueignen. Auf Börne folgte Eduard Gans, ein ungleich ſchärferer poli- tiſcher Kopf, dem die Gebrechen des franzöſiſchen Staatslebens nicht ent- gingen. Aber auch er ließ ſich von dem theatraliſchen Lärm dieſer Partei- kämpfe bezaubern; er meinte „den Herzſchlag Frankreichs“ zu hören, als bei einem Preßprozeſſe die Beifallsſalven des liberalen Publicums durch den Saal dröhnten; neben der politiſch erregten Pariſer Jugend erſchien ihm die deutſche äußerlich und frivol. So ging es fort: immer wieder zogen deutſche Literaten über den Rhein, denen ſchon auf der Kehler Brücke das Herz höher zu ſchlagen begann; ſie brachten ſämmtlich ſchon den Vor- ſatz mit, alles Wälſche zu bewundern, und da ſie nur Paris kennen lernten, und auch dort nur einen kleinen Kreis radicaler Journaliſten, ſo verſorgten ſie die deutſchen Zeitungen mit völlig falſchen Berichten. Die preußiſchen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Bis zur Juli-Revolution. Leipzig, 1885, S. 708. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte03_1885/724>, abgerufen am 22.11.2024.