IV. 2. Die constitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
schweiger nie ganz verwinden. Nur die Macht der Verhältnisse riß den Widerstrebenden vorwärts, und kein Wunder, daß der wohlmeinende, aber unerfahrene, bildungslose und wenig scharfblickende Fürst, überwältigt durch den seltsamen Anblick der aufgeregten Stadt, die Stärke dieser kleinbürgerlichen Volksbewegung überschätzte.
Der junge Welfe fühlte, daß er eines Rückhalts bedurfte, und blieb daher mit seinem Gönner Wittgenstein in ununterbrochenem Briefwechsel. Auf des Herzogs Bitten ließ der König von Preußen zwei im Braun- schweigischen wohlbekannte Grundherren aus der Nachbarschaft, v. Wulffen und v. Alvensleben, das Ländchen bereisen. Beide berichteten der Wahr- heit gemäß, daß der landflüchtige Fürst von Allen aufgegeben sei und Jedermann das Verbleiben des Herzogs Wilhelm wünsche.*) Unterdessen war Graf Veltheim in Berlin eingetroffen. Er legte jenes schwarze Buch vor, worin Herzog Karl seine frevelhaften Regierungsgrundsätze aufge- zeichnet hatte, und bat gradezu, der König möge den jüngeren Bruder zur förmlichen Uebernahme der Statthalterschaft veranlassen. Bernstorff hörte den Grafen an; jedoch auf Verhandlungen mit dem landständischen Abgesandten, der noch dazu als persönlicher Feind des vertriebenen Her- zogs bekannt war, wollte er sich nicht einlassen. Preußen, so berichtete er dem Könige, müsse "selbst den Schein der Nachsicht in der Beurtheilung eines Aufstandes vermeiden" und in so ernster Zeit den Nachbarn, ins- besondere dem nächstbetheiligten hannoverschen Hofe keinen Anlaß zum Mißtrauen geben; dem Bunde allein gebühre die Entscheidung. Demnach wurde Nagler beauftragt, in Frankfurt die ungesäumte Absendung eines Bundescommissärs zu verlangen; dem jungen Herzog aber befahl Bernstorff im Namen des Königs: bis der Bund gesprochen habe, solle er in seiner "unbestimmten, aber sehr wohlthätigen Stellung" ausharren.**) Der König wußte, daß die Rückkehr des Vertriebenen, bei der allgemeinen Aufregung im deutschen Norden, hochbedenklich, ja unmöglich war; doch so lange sich noch hoffen ließ, daß die Bundesversammlung ihre Pflicht erfüllen würde, wollte er den Boden des Bundesrechts nicht verlassen.
Fast noch vorsichtiger verfuhren die allezeit bedachtsamen hannoverschen Minister. Sie weigerten sich, mit dem Grafen Oberg, dem Bevollmäch- tigten der braunschweigischen Stände, amtliche Verhandlungen anzuknüpfen, baten den Berliner Hof um seinen Rath und legten zugleich in einer langen Denkschrift ihrem Könige die Frage vor, ob er nicht als Haupt des Braun- schweigischen Hauses versuchen wolle, den flüchtigen Herzog zur Abdankung zu bewegen um also den schlimmen Handel in Frieden aus der Welt zu
*) H. Wilhelm v. Braunschweig an Wittgenstein, 11. 15. 19. 21. Sept. Wulffen's Bericht, 21. Sept. 1830.
**) Bernstorff, Bericht an den König 20. Sept., an Herzog Wilhelm 25. Sept., Weisung an Nagler, 27. Sept. 1830.
IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
ſchweiger nie ganz verwinden. Nur die Macht der Verhältniſſe riß den Widerſtrebenden vorwärts, und kein Wunder, daß der wohlmeinende, aber unerfahrene, bildungsloſe und wenig ſcharfblickende Fürſt, überwältigt durch den ſeltſamen Anblick der aufgeregten Stadt, die Stärke dieſer kleinbürgerlichen Volksbewegung überſchätzte.
Der junge Welfe fühlte, daß er eines Rückhalts bedurfte, und blieb daher mit ſeinem Gönner Wittgenſtein in ununterbrochenem Briefwechſel. Auf des Herzogs Bitten ließ der König von Preußen zwei im Braun- ſchweigiſchen wohlbekannte Grundherren aus der Nachbarſchaft, v. Wulffen und v. Alvensleben, das Ländchen bereiſen. Beide berichteten der Wahr- heit gemäß, daß der landflüchtige Fürſt von Allen aufgegeben ſei und Jedermann das Verbleiben des Herzogs Wilhelm wünſche.*) Unterdeſſen war Graf Veltheim in Berlin eingetroffen. Er legte jenes ſchwarze Buch vor, worin Herzog Karl ſeine frevelhaften Regierungsgrundſätze aufge- zeichnet hatte, und bat gradezu, der König möge den jüngeren Bruder zur förmlichen Uebernahme der Statthalterſchaft veranlaſſen. Bernſtorff hörte den Grafen an; jedoch auf Verhandlungen mit dem landſtändiſchen Abgeſandten, der noch dazu als perſönlicher Feind des vertriebenen Her- zogs bekannt war, wollte er ſich nicht einlaſſen. Preußen, ſo berichtete er dem Könige, müſſe „ſelbſt den Schein der Nachſicht in der Beurtheilung eines Aufſtandes vermeiden“ und in ſo ernſter Zeit den Nachbarn, ins- beſondere dem nächſtbetheiligten hannoverſchen Hofe keinen Anlaß zum Mißtrauen geben; dem Bunde allein gebühre die Entſcheidung. Demnach wurde Nagler beauftragt, in Frankfurt die ungeſäumte Abſendung eines Bundescommiſſärs zu verlangen; dem jungen Herzog aber befahl Bernſtorff im Namen des Königs: bis der Bund geſprochen habe, ſolle er in ſeiner „unbeſtimmten, aber ſehr wohlthätigen Stellung“ ausharren.**) Der König wußte, daß die Rückkehr des Vertriebenen, bei der allgemeinen Aufregung im deutſchen Norden, hochbedenklich, ja unmöglich war; doch ſo lange ſich noch hoffen ließ, daß die Bundesverſammlung ihre Pflicht erfüllen würde, wollte er den Boden des Bundesrechts nicht verlaſſen.
Faſt noch vorſichtiger verfuhren die allezeit bedachtſamen hannoverſchen Miniſter. Sie weigerten ſich, mit dem Grafen Oberg, dem Bevollmäch- tigten der braunſchweigiſchen Stände, amtliche Verhandlungen anzuknüpfen, baten den Berliner Hof um ſeinen Rath und legten zugleich in einer langen Denkſchrift ihrem Könige die Frage vor, ob er nicht als Haupt des Braun- ſchweigiſchen Hauſes verſuchen wolle, den flüchtigen Herzog zur Abdankung zu bewegen um alſo den ſchlimmen Handel in Frieden aus der Welt zu
*) H. Wilhelm v. Braunſchweig an Wittgenſtein, 11. 15. 19. 21. Sept. Wulffen’s Bericht, 21. Sept. 1830.
**) Bernſtorff, Bericht an den König 20. Sept., an Herzog Wilhelm 25. Sept., Weiſung an Nagler, 27. Sept. 1830.
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IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
ſchweiger nie ganz verwinden. Nur die Macht der Verhältniſſe riß den
Widerſtrebenden vorwärts, und kein Wunder, daß der wohlmeinende, aber
unerfahrene, bildungsloſe und wenig ſcharfblickende Fürſt, überwältigt
durch den ſeltſamen Anblick der aufgeregten Stadt, die Stärke dieſer
kleinbürgerlichen Volksbewegung überſchätzte.
Der junge Welfe fühlte, daß er eines Rückhalts bedurfte, und blieb
daher mit ſeinem Gönner Wittgenſtein in ununterbrochenem Briefwechſel.
Auf des Herzogs Bitten ließ der König von Preußen zwei im Braun-
ſchweigiſchen wohlbekannte Grundherren aus der Nachbarſchaft, v. Wulffen
und v. Alvensleben, das Ländchen bereiſen. Beide berichteten der Wahr-
heit gemäß, daß der landflüchtige Fürſt von Allen aufgegeben ſei und
Jedermann das Verbleiben des Herzogs Wilhelm wünſche. *) Unterdeſſen
war Graf Veltheim in Berlin eingetroffen. Er legte jenes ſchwarze Buch
vor, worin Herzog Karl ſeine frevelhaften Regierungsgrundſätze aufge-
zeichnet hatte, und bat gradezu, der König möge den jüngeren Bruder
zur förmlichen Uebernahme der Statthalterſchaft veranlaſſen. Bernſtorff
hörte den Grafen an; jedoch auf Verhandlungen mit dem landſtändiſchen
Abgeſandten, der noch dazu als perſönlicher Feind des vertriebenen Her-
zogs bekannt war, wollte er ſich nicht einlaſſen. Preußen, ſo berichtete
er dem Könige, müſſe „ſelbſt den Schein der Nachſicht in der Beurtheilung
eines Aufſtandes vermeiden“ und in ſo ernſter Zeit den Nachbarn, ins-
beſondere dem nächſtbetheiligten hannoverſchen Hofe keinen Anlaß zum
Mißtrauen geben; dem Bunde allein gebühre die Entſcheidung. Demnach
wurde Nagler beauftragt, in Frankfurt die ungeſäumte Abſendung eines
Bundescommiſſärs zu verlangen; dem jungen Herzog aber befahl Bernſtorff
im Namen des Königs: bis der Bund geſprochen habe, ſolle er in ſeiner
„unbeſtimmten, aber ſehr wohlthätigen Stellung“ ausharren. **) Der König
wußte, daß die Rückkehr des Vertriebenen, bei der allgemeinen Aufregung
im deutſchen Norden, hochbedenklich, ja unmöglich war; doch ſo lange ſich
noch hoffen ließ, daß die Bundesverſammlung ihre Pflicht erfüllen würde,
wollte er den Boden des Bundesrechts nicht verlaſſen.
Faſt noch vorſichtiger verfuhren die allezeit bedachtſamen hannoverſchen
Miniſter. Sie weigerten ſich, mit dem Grafen Oberg, dem Bevollmäch-
tigten der braunſchweigiſchen Stände, amtliche Verhandlungen anzuknüpfen,
baten den Berliner Hof um ſeinen Rath und legten zugleich in einer langen
Denkſchrift ihrem Könige die Frage vor, ob er nicht als Haupt des Braun-
ſchweigiſchen Hauſes verſuchen wolle, den flüchtigen Herzog zur Abdankung
zu bewegen um alſo den ſchlimmen Handel in Frieden aus der Welt zu
*) H. Wilhelm v. Braunſchweig an Wittgenſtein, 11. 15. 19. 21. Sept. Wulffen’s
Bericht, 21. Sept. 1830.
**) Bernſtorff, Bericht an den König 20. Sept., an Herzog Wilhelm 25. Sept.,
Weiſung an Nagler, 27. Sept. 1830.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/118>, abgerufen am 27.09.2024.
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