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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 2. Die constitutionelle Bewegung in Norddeutschland.
eine Schmähschrift "Anklage des Ministeriums Münster vor der öffentlichen
Meinung" unter der Hand verbreitet wurde, bald nachher auch gedruckt
erschien -- ein schwülstiges Machwerk aus der Feder des jungen Advo-
katen König in Osterode. "Münster, Münster, Münster heißt der Alp,
der uns drückt" -- darauf lief Alles hinaus. Der allmächtige Minister
wurde mit Attila, Nero, Pizarro, mit dem Hausmeier Pipin verglichen,
weil er die befreiende sociale Gesetzgebung des Königreichs Westphalen
aufgehoben, das Volk "schmählicherweise in die Leibeigenschaft zurückge-
worfen" und "dies in den Jahren 1808--1813 schön und herrlich auf-
gerichtete Staatsgebäude mit ungeweihter Hand in einem Augenblicke
wieder niedergerissen" habe. Und so stark war schon die Erbitterung
gegen den Starrsinn der welfischen Restaurationspolitik: dies Lob der
einst tödlich verhaßten Fremdherrschaft machte jetzt tiefen Eindruck auf
die kleinen Leute, zumal da der Libellist nur gegen die schrankenlose Ge-
walt ministerieller Willkür eiferte und ehrfurchtsvoll betheuerte: "Wilhelm
unser Bürgerkönig weiß nichts davon."

Am 5. Januar 1831 unternahmen König's Landsleute in Osterode,
einen revolutionären Gemeinderath und eine Communalgarde zu errichten;
sie wollten dann "dem Bürgerkönig die unter allen nichtbeamteten Staats-
bürgern herrschende Noth" nachdrücklich vorstellen und verkündeten in einem
Manifeste neufranzösischen Stiles: "Möge unseren Enkeln und Urenkeln
der 5. Januar als ein heiliges Geschenk ihrer edlen Väter und Urväter
erhalten werden!" Der kleine Aufruhr ward sogleich unterdrückt. Da
zeigte sich plötzlich, daß die stürmische Zeit auch an dem gelehrten Still-
leben der Georgia Augusta nicht spurlos vorübergegangen war. Ein Heiß-
sporn der feudalen Partei, der in Göttingen lebte, Frhr. v. d. Knesebeck
hatte kürzlich in einer "Deutschlands erlauchten Souveränen" gewidmeten
Flugschrift alle Herzensgeheimnisse des welfischen Junkerthums ausge-
plaudert. Die Schrift trug das napoleonische Motto: "Wenn die Ca-
naille die Oberhand gewinnt, so hört sie auf Canaille zu heißen, man
nennt sie alsdann Nation;" sie erklärte den Adel für die erste Stütze des
Thrones, die durch ein Landesheroldsamt gesichert werden müsse, sie ver-
langte ein Ordenszeichen für die Freunde der Legitimität, einen politischen
Katechismus, der in den Schulen eingeprägt, von allen Staatsdienern
beschworen werden sollte -- kurz, es war nicht wunderbar, daß die akade-
mische Jugend eines Abends ihren Unwillen an den Fensterscheiben des legi-
timistischen Freiherrn ausließ und ihn zu schleuniger Abreise nöthigte. Neue
Aufregung unter den jugendlichen Gelehrten, als der Dekan der Juristen,
der alte, den Zeitungsschreibern schon längst durch seine tiefe Gelehrsamkeit
verdächtige Hugo, einer mehr liberalen als geistreichen Dissertation des
Dr. Ahrens über den Deutschen Bund das Imprimatur verweigerte.

In den Kreisen dieser jungen Docenten und Advokaten entstand nun
der tolle Plan, hier auf dem denkbar ungünstigsten Boden eine Revolution

IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland.
eine Schmähſchrift „Anklage des Miniſteriums Münſter vor der öffentlichen
Meinung“ unter der Hand verbreitet wurde, bald nachher auch gedruckt
erſchien — ein ſchwülſtiges Machwerk aus der Feder des jungen Advo-
katen König in Oſterode. „Münſter, Münſter, Münſter heißt der Alp,
der uns drückt“ — darauf lief Alles hinaus. Der allmächtige Miniſter
wurde mit Attila, Nero, Pizarro, mit dem Hausmeier Pipin verglichen,
weil er die befreiende ſociale Geſetzgebung des Königreichs Weſtphalen
aufgehoben, das Volk „ſchmählicherweiſe in die Leibeigenſchaft zurückge-
worfen“ und „dies in den Jahren 1808—1813 ſchön und herrlich auf-
gerichtete Staatsgebäude mit ungeweihter Hand in einem Augenblicke
wieder niedergeriſſen“ habe. Und ſo ſtark war ſchon die Erbitterung
gegen den Starrſinn der welfiſchen Reſtaurationspolitik: dies Lob der
einſt tödlich verhaßten Fremdherrſchaft machte jetzt tiefen Eindruck auf
die kleinen Leute, zumal da der Libelliſt nur gegen die ſchrankenloſe Ge-
walt miniſterieller Willkür eiferte und ehrfurchtsvoll betheuerte: „Wilhelm
unſer Bürgerkönig weiß nichts davon.“

Am 5. Januar 1831 unternahmen König’s Landsleute in Oſterode,
einen revolutionären Gemeinderath und eine Communalgarde zu errichten;
ſie wollten dann „dem Bürgerkönig die unter allen nichtbeamteten Staats-
bürgern herrſchende Noth“ nachdrücklich vorſtellen und verkündeten in einem
Manifeſte neufranzöſiſchen Stiles: „Möge unſeren Enkeln und Urenkeln
der 5. Januar als ein heiliges Geſchenk ihrer edlen Väter und Urväter
erhalten werden!“ Der kleine Aufruhr ward ſogleich unterdrückt. Da
zeigte ſich plötzlich, daß die ſtürmiſche Zeit auch an dem gelehrten Still-
leben der Georgia Auguſta nicht ſpurlos vorübergegangen war. Ein Heiß-
ſporn der feudalen Partei, der in Göttingen lebte, Frhr. v. d. Kneſebeck
hatte kürzlich in einer „Deutſchlands erlauchten Souveränen“ gewidmeten
Flugſchrift alle Herzensgeheimniſſe des welfiſchen Junkerthums ausge-
plaudert. Die Schrift trug das napoleoniſche Motto: „Wenn die Ca-
naille die Oberhand gewinnt, ſo hört ſie auf Canaille zu heißen, man
nennt ſie alsdann Nation;“ ſie erklärte den Adel für die erſte Stütze des
Thrones, die durch ein Landesheroldsamt geſichert werden müſſe, ſie ver-
langte ein Ordenszeichen für die Freunde der Legitimität, einen politiſchen
Katechismus, der in den Schulen eingeprägt, von allen Staatsdienern
beſchworen werden ſollte — kurz, es war nicht wunderbar, daß die akade-
miſche Jugend eines Abends ihren Unwillen an den Fenſterſcheiben des legi-
timiſtiſchen Freiherrn ausließ und ihn zu ſchleuniger Abreiſe nöthigte. Neue
Aufregung unter den jugendlichen Gelehrten, als der Dekan der Juriſten,
der alte, den Zeitungsſchreibern ſchon längſt durch ſeine tiefe Gelehrſamkeit
verdächtige Hugo, einer mehr liberalen als geiſtreichen Diſſertation des
Dr. Ahrens über den Deutſchen Bund das Imprimatur verweigerte.

In den Kreiſen dieſer jungen Docenten und Advokaten entſtand nun
der tolle Plan, hier auf dem denkbar ungünſtigſten Boden eine Revolution

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[154/0168] IV. 2. Die conſtitutionelle Bewegung in Norddeutſchland. eine Schmähſchrift „Anklage des Miniſteriums Münſter vor der öffentlichen Meinung“ unter der Hand verbreitet wurde, bald nachher auch gedruckt erſchien — ein ſchwülſtiges Machwerk aus der Feder des jungen Advo- katen König in Oſterode. „Münſter, Münſter, Münſter heißt der Alp, der uns drückt“ — darauf lief Alles hinaus. Der allmächtige Miniſter wurde mit Attila, Nero, Pizarro, mit dem Hausmeier Pipin verglichen, weil er die befreiende ſociale Geſetzgebung des Königreichs Weſtphalen aufgehoben, das Volk „ſchmählicherweiſe in die Leibeigenſchaft zurückge- worfen“ und „dies in den Jahren 1808—1813 ſchön und herrlich auf- gerichtete Staatsgebäude mit ungeweihter Hand in einem Augenblicke wieder niedergeriſſen“ habe. Und ſo ſtark war ſchon die Erbitterung gegen den Starrſinn der welfiſchen Reſtaurationspolitik: dies Lob der einſt tödlich verhaßten Fremdherrſchaft machte jetzt tiefen Eindruck auf die kleinen Leute, zumal da der Libelliſt nur gegen die ſchrankenloſe Ge- walt miniſterieller Willkür eiferte und ehrfurchtsvoll betheuerte: „Wilhelm unſer Bürgerkönig weiß nichts davon.“ Am 5. Januar 1831 unternahmen König’s Landsleute in Oſterode, einen revolutionären Gemeinderath und eine Communalgarde zu errichten; ſie wollten dann „dem Bürgerkönig die unter allen nichtbeamteten Staats- bürgern herrſchende Noth“ nachdrücklich vorſtellen und verkündeten in einem Manifeſte neufranzöſiſchen Stiles: „Möge unſeren Enkeln und Urenkeln der 5. Januar als ein heiliges Geſchenk ihrer edlen Väter und Urväter erhalten werden!“ Der kleine Aufruhr ward ſogleich unterdrückt. Da zeigte ſich plötzlich, daß die ſtürmiſche Zeit auch an dem gelehrten Still- leben der Georgia Auguſta nicht ſpurlos vorübergegangen war. Ein Heiß- ſporn der feudalen Partei, der in Göttingen lebte, Frhr. v. d. Kneſebeck hatte kürzlich in einer „Deutſchlands erlauchten Souveränen“ gewidmeten Flugſchrift alle Herzensgeheimniſſe des welfiſchen Junkerthums ausge- plaudert. Die Schrift trug das napoleoniſche Motto: „Wenn die Ca- naille die Oberhand gewinnt, ſo hört ſie auf Canaille zu heißen, man nennt ſie alsdann Nation;“ ſie erklärte den Adel für die erſte Stütze des Thrones, die durch ein Landesheroldsamt geſichert werden müſſe, ſie ver- langte ein Ordenszeichen für die Freunde der Legitimität, einen politiſchen Katechismus, der in den Schulen eingeprägt, von allen Staatsdienern beſchworen werden ſollte — kurz, es war nicht wunderbar, daß die akade- miſche Jugend eines Abends ihren Unwillen an den Fenſterſcheiben des legi- timiſtiſchen Freiherrn ausließ und ihn zu ſchleuniger Abreiſe nöthigte. Neue Aufregung unter den jugendlichen Gelehrten, als der Dekan der Juriſten, der alte, den Zeitungsſchreibern ſchon längſt durch ſeine tiefe Gelehrſamkeit verdächtige Hugo, einer mehr liberalen als geiſtreichen Diſſertation des Dr. Ahrens über den Deutſchen Bund das Imprimatur verweigerte. In den Kreiſen dieſer jungen Docenten und Advokaten entſtand nun der tolle Plan, hier auf dem denkbar ungünſtigſten Boden eine Revolution

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/168>, abgerufen am 04.12.2024.