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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 3. Preußens Mittelstellung.
drüben konnte das kleine Fürstenthum unter der Oberhoheit eines starken
republikanischen Bundesstaates zur Noth ebensowohl fortbestehen, wie heute
die hanseatischen Städterepubliken unter dem monarchischen Deutschen
Reiche. Aber die Partei, welche die nothwendige Bundesreform verlangte,
vertrat zugleich die Ideen des Radicalismus, sie forderte mit wachsender
Dreistigkeit die Vertreibung der Hohenzollern aus der Eidgenossenschaft, alle
ihre Blätter wiederholten beharrlich das alte Kraftwort, daß Schweizer "sich
nicht beherren" dürften. So sah sich Preußen gradezu gezwungen, in
der Bundespolitik die Vorkämpfer des Particularismus, die schweizerischen
Conservativen zu unterstützen. Zu ihnen hielten sich der alte Staats-
rath Sandoz-Rollin und alle die anderen wohlmeinenden Patricier, welche
das Neuenburger Land regierten; ihre Führer in Bern, Basel, Zürich
standen mit Otterstedt in beständigem Verkehr. Doch was auch die
Radicalen durch Uebermuth und Gewaltthätigkeit sündigten, ihnen gehörte
die Zukunft; und kam dereinst der Tag, da die Bundeseinheit über den
Particularismus triumphirte, dann stand der Hohenzollernsche Canton in
den Reihen der geschlagenen Partei. Niemand erkannte diese Gefahren
deutlicher als General Pfuel. Der war jetzt Gouverneur des Fürsten-
thums, gewann die Herzen der Jugend durch seine Schwimmschulen im
See, die Achtung aller Parteien durch sein ehrliches Wohlwollen. Das
zuchtlose Gerede der Radicalen behagte dem liberalen Offizier ebenso wenig
wie die calvinische Engherzigkeit und der beschränkte Vetterngeist der Roya-
listen; ein Trost nur, daß er an Agassiz einen geistreichen Umgang fand,
wie er ihn in seinem Berliner literarischen Freundeskreise genossen hatte.
Schon im Jahre 1832 sprach er dem Könige offen aus, bei dem nahen
Zusammenbruche der alten Bundesverfassung würde sich der neuenbur-
gische Fürstenhut schwerlich halten lassen. --

Gleichviel, überall wo die schwarzweißen Fahnen wehten behauptete
das Königthum noch sein altes Ansehen. Mit Erstaunen bemerkten Freund
und Feind, wie treu das katholische Rheinland zu seinem Herrscher stand;
die schwerste unter allen den schweren Aufgaben, welche der Wiener Con-
greß diesem Staate gestellt, schien glücklich gelöst. Zahllose Sendboten
aus Frankreich und Belgien trieben am Rhein ihr Wesen; überall fanden
sie taube Ohren, überall wurden die vaterländischen Truppen, als sie zum
Schutze der Westgrenze heranzogen, mit offenen Armen aufgenommen,
und Prinz Wilhelm der Aeltere, der als Gouverneur an den Rhein kam,
gewann sich in Köln bald die allgemeine Verehrung. Nur die dreistere
Sprache des Clerus ließ zuweilen schon errathen, daß die Nachbarschaft
der belgischen Priesterherrlichkeit mit der Zeit vielleicht den Frieden der
preußischen Rheinlande stören würde. Begreiflich also, daß die harmlosen
preußischen Zeitungen im Selbstlobe schwelgten und der rheinische Pädagog
Aldefeld in zweifelhaften Versen weissagte, das starke Preußen werde fortan
das Land der Ruhe heißen. Aber auch einsichtige Beobachter erkannten

IV. 3. Preußens Mittelſtellung.
drüben konnte das kleine Fürſtenthum unter der Oberhoheit eines ſtarken
republikaniſchen Bundesſtaates zur Noth ebenſowohl fortbeſtehen, wie heute
die hanſeatiſchen Städterepubliken unter dem monarchiſchen Deutſchen
Reiche. Aber die Partei, welche die nothwendige Bundesreform verlangte,
vertrat zugleich die Ideen des Radicalismus, ſie forderte mit wachſender
Dreiſtigkeit die Vertreibung der Hohenzollern aus der Eidgenoſſenſchaft, alle
ihre Blätter wiederholten beharrlich das alte Kraftwort, daß Schweizer „ſich
nicht beherren“ dürften. So ſah ſich Preußen gradezu gezwungen, in
der Bundespolitik die Vorkämpfer des Particularismus, die ſchweizeriſchen
Conſervativen zu unterſtützen. Zu ihnen hielten ſich der alte Staats-
rath Sandoz-Rollin und alle die anderen wohlmeinenden Patricier, welche
das Neuenburger Land regierten; ihre Führer in Bern, Baſel, Zürich
ſtanden mit Otterſtedt in beſtändigem Verkehr. Doch was auch die
Radicalen durch Uebermuth und Gewaltthätigkeit ſündigten, ihnen gehörte
die Zukunft; und kam dereinſt der Tag, da die Bundeseinheit über den
Particularismus triumphirte, dann ſtand der Hohenzollernſche Canton in
den Reihen der geſchlagenen Partei. Niemand erkannte dieſe Gefahren
deutlicher als General Pfuel. Der war jetzt Gouverneur des Fürſten-
thums, gewann die Herzen der Jugend durch ſeine Schwimmſchulen im
See, die Achtung aller Parteien durch ſein ehrliches Wohlwollen. Das
zuchtloſe Gerede der Radicalen behagte dem liberalen Offizier ebenſo wenig
wie die calviniſche Engherzigkeit und der beſchränkte Vetterngeiſt der Roya-
liſten; ein Troſt nur, daß er an Agaſſiz einen geiſtreichen Umgang fand,
wie er ihn in ſeinem Berliner literariſchen Freundeskreiſe genoſſen hatte.
Schon im Jahre 1832 ſprach er dem Könige offen aus, bei dem nahen
Zuſammenbruche der alten Bundesverfaſſung würde ſich der neuenbur-
giſche Fürſtenhut ſchwerlich halten laſſen. —

Gleichviel, überall wo die ſchwarzweißen Fahnen wehten behauptete
das Königthum noch ſein altes Anſehen. Mit Erſtaunen bemerkten Freund
und Feind, wie treu das katholiſche Rheinland zu ſeinem Herrſcher ſtand;
die ſchwerſte unter allen den ſchweren Aufgaben, welche der Wiener Con-
greß dieſem Staate geſtellt, ſchien glücklich gelöſt. Zahlloſe Sendboten
aus Frankreich und Belgien trieben am Rhein ihr Weſen; überall fanden
ſie taube Ohren, überall wurden die vaterländiſchen Truppen, als ſie zum
Schutze der Weſtgrenze heranzogen, mit offenen Armen aufgenommen,
und Prinz Wilhelm der Aeltere, der als Gouverneur an den Rhein kam,
gewann ſich in Köln bald die allgemeine Verehrung. Nur die dreiſtere
Sprache des Clerus ließ zuweilen ſchon errathen, daß die Nachbarſchaft
der belgiſchen Prieſterherrlichkeit mit der Zeit vielleicht den Frieden der
preußiſchen Rheinlande ſtören würde. Begreiflich alſo, daß die harmloſen
preußiſchen Zeitungen im Selbſtlobe ſchwelgten und der rheiniſche Pädagog
Aldefeld in zweifelhaften Verſen weiſſagte, das ſtarke Preußen werde fortan
das Land der Ruhe heißen. Aber auch einſichtige Beobachter erkannten

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[184/0198] IV. 3. Preußens Mittelſtellung. drüben konnte das kleine Fürſtenthum unter der Oberhoheit eines ſtarken republikaniſchen Bundesſtaates zur Noth ebenſowohl fortbeſtehen, wie heute die hanſeatiſchen Städterepubliken unter dem monarchiſchen Deutſchen Reiche. Aber die Partei, welche die nothwendige Bundesreform verlangte, vertrat zugleich die Ideen des Radicalismus, ſie forderte mit wachſender Dreiſtigkeit die Vertreibung der Hohenzollern aus der Eidgenoſſenſchaft, alle ihre Blätter wiederholten beharrlich das alte Kraftwort, daß Schweizer „ſich nicht beherren“ dürften. So ſah ſich Preußen gradezu gezwungen, in der Bundespolitik die Vorkämpfer des Particularismus, die ſchweizeriſchen Conſervativen zu unterſtützen. Zu ihnen hielten ſich der alte Staats- rath Sandoz-Rollin und alle die anderen wohlmeinenden Patricier, welche das Neuenburger Land regierten; ihre Führer in Bern, Baſel, Zürich ſtanden mit Otterſtedt in beſtändigem Verkehr. Doch was auch die Radicalen durch Uebermuth und Gewaltthätigkeit ſündigten, ihnen gehörte die Zukunft; und kam dereinſt der Tag, da die Bundeseinheit über den Particularismus triumphirte, dann ſtand der Hohenzollernſche Canton in den Reihen der geſchlagenen Partei. Niemand erkannte dieſe Gefahren deutlicher als General Pfuel. Der war jetzt Gouverneur des Fürſten- thums, gewann die Herzen der Jugend durch ſeine Schwimmſchulen im See, die Achtung aller Parteien durch ſein ehrliches Wohlwollen. Das zuchtloſe Gerede der Radicalen behagte dem liberalen Offizier ebenſo wenig wie die calviniſche Engherzigkeit und der beſchränkte Vetterngeiſt der Roya- liſten; ein Troſt nur, daß er an Agaſſiz einen geiſtreichen Umgang fand, wie er ihn in ſeinem Berliner literariſchen Freundeskreiſe genoſſen hatte. Schon im Jahre 1832 ſprach er dem Könige offen aus, bei dem nahen Zuſammenbruche der alten Bundesverfaſſung würde ſich der neuenbur- giſche Fürſtenhut ſchwerlich halten laſſen. — Gleichviel, überall wo die ſchwarzweißen Fahnen wehten behauptete das Königthum noch ſein altes Anſehen. Mit Erſtaunen bemerkten Freund und Feind, wie treu das katholiſche Rheinland zu ſeinem Herrſcher ſtand; die ſchwerſte unter allen den ſchweren Aufgaben, welche der Wiener Con- greß dieſem Staate geſtellt, ſchien glücklich gelöſt. Zahlloſe Sendboten aus Frankreich und Belgien trieben am Rhein ihr Weſen; überall fanden ſie taube Ohren, überall wurden die vaterländiſchen Truppen, als ſie zum Schutze der Weſtgrenze heranzogen, mit offenen Armen aufgenommen, und Prinz Wilhelm der Aeltere, der als Gouverneur an den Rhein kam, gewann ſich in Köln bald die allgemeine Verehrung. Nur die dreiſtere Sprache des Clerus ließ zuweilen ſchon errathen, daß die Nachbarſchaft der belgiſchen Prieſterherrlichkeit mit der Zeit vielleicht den Frieden der preußiſchen Rheinlande ſtören würde. Begreiflich alſo, daß die harmloſen preußiſchen Zeitungen im Selbſtlobe ſchwelgten und der rheiniſche Pädagog Aldefeld in zweifelhaften Verſen weiſſagte, das ſtarke Preußen werde fortan das Land der Ruhe heißen. Aber auch einſichtige Beobachter erkannten

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/198>, abgerufen am 29.11.2024.