Duttlinger, der so lange fast allein im Landtage der reaktionären Mehr- heit Stand gehalten hatte; aus Heidelberg der Buchhändler "Vater Win- ter", der alte Kämpe der Preßfreiheit; aus dem Oosthale der Geistliche Rath Herr, ein volksbeliebter, warmherziger Priester, dem fürstlichen Hause so treu ergeben, daß er sich bei Hofe jede freimüthige Derbheit erlauben durfte.
Zum Beginn des Kampfes schwenkte Itzstein sein Weihrauchfaß vor den Franzosen: "Im Westen Europas erhob sich ein Volk, an Bildung und Nationalsinn allen vorgehend, und gab sich einen Bürgerkönig." Nach diesem glorreichen Vorbilde sollte auch das badische Volk seine Frei- heit zurückfordern und die vor sechs Jahren abgeänderten Artikel seiner Verfassung wiederherstellen.*) Schaden hatte jene Verfassungsänderung allerdings nicht angerichtet; nach ihren jüngsten Wahlerfolgen durften die Liberalen am wenigsten bestreiten, daß der Volkswille jetzt, da die Kammer aller sechs Jahre vollständig erneuert wurde, sich weit kräftiger äußern konnte als früherhin, da immer nur ein Viertel der Abgeordneten ausgeschieden war. Aber das badische Grundgesetz galt nun einmal für ein Heiligthum; daß die finsteren Zeiten der Reaction je daran gerührt hatten, durfte nicht ungerochen bleiben, und so ward denn einstimmig be- schlossen, jene unzweckmäßigen Vorschriften der Verfassung wörtlich wieder einzuführen. Die Flügelthüren des Saales waren geöffnet, weil die Tri- bünen die Masse der Zuhörer nicht fassen konnten; nach der Abstimmung erdröhnte das Haus von Jubelrufen. Auch Winter stimmte zu; er fühlte, das Rechtsbewußtsein des ganzen Landes fordere diese Sühne. Dann legte er ein wohldurchdachtes Gemeindegesetz vor, das mit dem alten Systeme rheinbündischer Bevormundung entschlossen brach. Die Kammer ging darauf ein; sie veränderte jedoch die Vorschriften über das Wahl- recht in so radicalem Sinne, daß der politische Parteikampf sofort in die Gemeindewahlen eindrang und die neue Selbstverwaltung während der nächsten Jahre sich noch nicht ruhig entwickeln konnte.
Noch heftiger flammten die Leidenschaften auf, als Welcker die so- fortige Verkündigung eines Preßgesetzes verlangte. Er hatte schon im vorigen Herbst, in einer gedruckten Petition an den Bundestag, "die voll- kommene und ganze Preßfreiheit" für Deutschland gefordert; in Frankfurt abgewiesen, versuchte er nun seine Absicht für Baden allein durchzusetzen. Also verfiel der Karlsruher Landtag nochmals seinem alten dunklen Ver- hängniß: er begann wieder, wie so oft schon, einen aussichtslosen Kampf gegen den Deutschen Bund und trat auch diesmal das geschriebene Recht mit Füßen. Nichts war begreiflicher als die allgemeine Sehnsucht nach Preßfreiheit, zumal hier an der Grenze, wo man die Blätter des Auslandes täglich vor Augen sah. Doch leider durfte der badische Staat über seine
*) Vgl. III. 353.
IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Duttlinger, der ſo lange faſt allein im Landtage der reaktionären Mehr- heit Stand gehalten hatte; aus Heidelberg der Buchhändler „Vater Win- ter“, der alte Kämpe der Preßfreiheit; aus dem Oosthale der Geiſtliche Rath Herr, ein volksbeliebter, warmherziger Prieſter, dem fürſtlichen Hauſe ſo treu ergeben, daß er ſich bei Hofe jede freimüthige Derbheit erlauben durfte.
Zum Beginn des Kampfes ſchwenkte Itzſtein ſein Weihrauchfaß vor den Franzoſen: „Im Weſten Europas erhob ſich ein Volk, an Bildung und Nationalſinn allen vorgehend, und gab ſich einen Bürgerkönig.“ Nach dieſem glorreichen Vorbilde ſollte auch das badiſche Volk ſeine Frei- heit zurückfordern und die vor ſechs Jahren abgeänderten Artikel ſeiner Verfaſſung wiederherſtellen.*) Schaden hatte jene Verfaſſungsänderung allerdings nicht angerichtet; nach ihren jüngſten Wahlerfolgen durften die Liberalen am wenigſten beſtreiten, daß der Volkswille jetzt, da die Kammer aller ſechs Jahre vollſtändig erneuert wurde, ſich weit kräftiger äußern konnte als früherhin, da immer nur ein Viertel der Abgeordneten ausgeſchieden war. Aber das badiſche Grundgeſetz galt nun einmal für ein Heiligthum; daß die finſteren Zeiten der Reaction je daran gerührt hatten, durfte nicht ungerochen bleiben, und ſo ward denn einſtimmig be- ſchloſſen, jene unzweckmäßigen Vorſchriften der Verfaſſung wörtlich wieder einzuführen. Die Flügelthüren des Saales waren geöffnet, weil die Tri- bünen die Maſſe der Zuhörer nicht faſſen konnten; nach der Abſtimmung erdröhnte das Haus von Jubelrufen. Auch Winter ſtimmte zu; er fühlte, das Rechtsbewußtſein des ganzen Landes fordere dieſe Sühne. Dann legte er ein wohldurchdachtes Gemeindegeſetz vor, das mit dem alten Syſteme rheinbündiſcher Bevormundung entſchloſſen brach. Die Kammer ging darauf ein; ſie veränderte jedoch die Vorſchriften über das Wahl- recht in ſo radicalem Sinne, daß der politiſche Parteikampf ſofort in die Gemeindewahlen eindrang und die neue Selbſtverwaltung während der nächſten Jahre ſich noch nicht ruhig entwickeln konnte.
Noch heftiger flammten die Leidenſchaften auf, als Welcker die ſo- fortige Verkündigung eines Preßgeſetzes verlangte. Er hatte ſchon im vorigen Herbſt, in einer gedruckten Petition an den Bundestag, „die voll- kommene und ganze Preßfreiheit“ für Deutſchland gefordert; in Frankfurt abgewieſen, verſuchte er nun ſeine Abſicht für Baden allein durchzuſetzen. Alſo verfiel der Karlsruher Landtag nochmals ſeinem alten dunklen Ver- hängniß: er begann wieder, wie ſo oft ſchon, einen ausſichtsloſen Kampf gegen den Deutſchen Bund und trat auch diesmal das geſchriebene Recht mit Füßen. Nichts war begreiflicher als die allgemeine Sehnſucht nach Preßfreiheit, zumal hier an der Grenze, wo man die Blätter des Auslandes täglich vor Augen ſah. Doch leider durfte der badiſche Staat über ſeine
*) Vgl. III. 353.
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IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Duttlinger, der ſo lange faſt allein im Landtage der reaktionären Mehr-
heit Stand gehalten hatte; aus Heidelberg der Buchhändler „Vater Win-
ter“, der alte Kämpe der Preßfreiheit; aus dem Oosthale der Geiſtliche
Rath Herr, ein volksbeliebter, warmherziger Prieſter, dem fürſtlichen
Hauſe ſo treu ergeben, daß er ſich bei Hofe jede freimüthige Derbheit
erlauben durfte.
Zum Beginn des Kampfes ſchwenkte Itzſtein ſein Weihrauchfaß vor
den Franzoſen: „Im Weſten Europas erhob ſich ein Volk, an Bildung
und Nationalſinn allen vorgehend, und gab ſich einen Bürgerkönig.“
Nach dieſem glorreichen Vorbilde ſollte auch das badiſche Volk ſeine Frei-
heit zurückfordern und die vor ſechs Jahren abgeänderten Artikel ſeiner
Verfaſſung wiederherſtellen. *) Schaden hatte jene Verfaſſungsänderung
allerdings nicht angerichtet; nach ihren jüngſten Wahlerfolgen durften
die Liberalen am wenigſten beſtreiten, daß der Volkswille jetzt, da die
Kammer aller ſechs Jahre vollſtändig erneuert wurde, ſich weit kräftiger
äußern konnte als früherhin, da immer nur ein Viertel der Abgeordneten
ausgeſchieden war. Aber das badiſche Grundgeſetz galt nun einmal für
ein Heiligthum; daß die finſteren Zeiten der Reaction je daran gerührt
hatten, durfte nicht ungerochen bleiben, und ſo ward denn einſtimmig be-
ſchloſſen, jene unzweckmäßigen Vorſchriften der Verfaſſung wörtlich wieder
einzuführen. Die Flügelthüren des Saales waren geöffnet, weil die Tri-
bünen die Maſſe der Zuhörer nicht faſſen konnten; nach der Abſtimmung
erdröhnte das Haus von Jubelrufen. Auch Winter ſtimmte zu; er fühlte,
das Rechtsbewußtſein des ganzen Landes fordere dieſe Sühne. Dann
legte er ein wohldurchdachtes Gemeindegeſetz vor, das mit dem alten
Syſteme rheinbündiſcher Bevormundung entſchloſſen brach. Die Kammer
ging darauf ein; ſie veränderte jedoch die Vorſchriften über das Wahl-
recht in ſo radicalem Sinne, daß der politiſche Parteikampf ſofort in die
Gemeindewahlen eindrang und die neue Selbſtverwaltung während der
nächſten Jahre ſich noch nicht ruhig entwickeln konnte.
Noch heftiger flammten die Leidenſchaften auf, als Welcker die ſo-
fortige Verkündigung eines Preßgeſetzes verlangte. Er hatte ſchon im
vorigen Herbſt, in einer gedruckten Petition an den Bundestag, „die voll-
kommene und ganze Preßfreiheit“ für Deutſchland gefordert; in Frankfurt
abgewieſen, verſuchte er nun ſeine Abſicht für Baden allein durchzuſetzen.
Alſo verfiel der Karlsruher Landtag nochmals ſeinem alten dunklen Ver-
hängniß: er begann wieder, wie ſo oft ſchon, einen ausſichtsloſen Kampf
gegen den Deutſchen Bund und trat auch diesmal das geſchriebene Recht
mit Füßen. Nichts war begreiflicher als die allgemeine Sehnſucht nach
Preßfreiheit, zumal hier an der Grenze, wo man die Blätter des Auslandes
täglich vor Augen ſah. Doch leider durfte der badiſche Staat über ſeine
*) Vgl. III. 353.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/244>, abgerufen am 24.11.2024.
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