Von Stunde zu Stunde erhitzten sich die Köpfe; eine Fluth von Zornreden ergoß sich über die Karlsbader "Ordonnanzen". Die französische Verbildung dieses Liberalismus bekundete sich auch in seiner verwälschten Sprache: wie die Karlsbader Beschlüsse Ordonnanzen hießen, so nannte man Welcker's Antrag eine "Motion" und die Verbesserungen "Amen- dements"; nach Pariser Brauch donnerten die Redner wider die mark- losen "Justemilianer" und warnten die Regierung vor dem Schicksale des "deplorablen Ministeriums" Polignac. Der Geistliche Rath Herr gab der Preßfreiheit sogar den kirchlichen Segen: er nannte sie "eine Anstalt Gottes, die uns helfen wird zu Alledem was wir für Zeit, Tod und Ewigkeit nothwendig haben." Da die anonymen Zeitungsschreiber der liberalen Doctrin wie Volkstribunen erschienen, so sollten sie auch nur durch die freie Stimme des Volksgewissens, durch Geschworene gerichtet werden. Selbst Duttlinger, der ruhigste unter den Führern der Oppo- sition, ließ sich von der allgemeinen Aufregung anstecken; der deutsche Rechtslehrer schämte sich nicht, die Schwurgerichte kurzerhand über das Gesetz zu stellen und die schmähliche Parteilichkeit, welche die französischen Geschworenen in allen politischen Processen bethätigten, den rechtschaffenen Germanen als ein Muster anzupreisen: "Geschworene beschützen die Preß- freiheit gegen zu strenge und unnatürliche Gesetze durch ihr einfaches: Nichtschuldig!" Endlich mißbrauchte die Kammer gar ihr Steuerbewilli- gungsrecht zu einer verfassungswidrigen Drohung; sie beschloß, das Budget erst dann zu bewilligen, wenn die Regierung das Preßgesetz nebst einigen anderen Gesetzentwürfen vorgelegt hätte.
Welch eine Lage für den wohlmeinenden Minister! Winter hielt die Censur für einen gemeinschädlichen Mißbrauch, aber wie durfte er sie beseitigen, den Vorschriften der Bundesgesetze und der Landesverfassung gradeswegs zuwider? Der Großherzog stand, wenngleich er den Kammern gern ein Stück Weges entgegenkam, mit seinen Herzensneigungen durch- aus auf Seiten der Ostmächte. So oft die Russen, unter dem Wehge- schrei der Liberalen, einen Sieg erfochten, ließ er dem Könige von Preu- ßen durch Otterstedt seinen Glückwunsch aussprechen.*) Nimmermehr wollte er sich gegen den Deutschen Bund auflehnen. Mit Badens Zu- stimmung hatte der Bundestag im vorigen Herbst den Regierungen die strenge Handhabung der Censur anempfohlen, jetzt schritt er zu neuen Beschlüssen gleichen Sinnes; an die Milderung oder gar die Aufhebung der Karlsbader Gesetze wagte keine der Bundesregierungen zu denken in einem Augenblicke, da halb Deutschland durch Unruhen heimgesucht wurde. Aus Darmstadt, Butzbach, Tübingen und anderen süddeutschen Städten kamen Adressen, welche die Bundesversammlung baten dem Blutvergießen in Polen Einhalt zu thun, damit die Cholera nicht nach
*) Otterstedt's Berichte, 18. März, 6. Juni 1831.
IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Von Stunde zu Stunde erhitzten ſich die Köpfe; eine Fluth von Zornreden ergoß ſich über die Karlsbader „Ordonnanzen“. Die franzöſiſche Verbildung dieſes Liberalismus bekundete ſich auch in ſeiner verwälſchten Sprache: wie die Karlsbader Beſchlüſſe Ordonnanzen hießen, ſo nannte man Welcker’s Antrag eine „Motion“ und die Verbeſſerungen „Amen- dements“; nach Pariſer Brauch donnerten die Redner wider die mark- loſen „Juſtemilianer“ und warnten die Regierung vor dem Schickſale des „deplorablen Miniſteriums“ Polignac. Der Geiſtliche Rath Herr gab der Preßfreiheit ſogar den kirchlichen Segen: er nannte ſie „eine Anſtalt Gottes, die uns helfen wird zu Alledem was wir für Zeit, Tod und Ewigkeit nothwendig haben.“ Da die anonymen Zeitungsſchreiber der liberalen Doctrin wie Volkstribunen erſchienen, ſo ſollten ſie auch nur durch die freie Stimme des Volksgewiſſens, durch Geſchworene gerichtet werden. Selbſt Duttlinger, der ruhigſte unter den Führern der Oppo- ſition, ließ ſich von der allgemeinen Aufregung anſtecken; der deutſche Rechtslehrer ſchämte ſich nicht, die Schwurgerichte kurzerhand über das Geſetz zu ſtellen und die ſchmähliche Parteilichkeit, welche die franzöſiſchen Geſchworenen in allen politiſchen Proceſſen bethätigten, den rechtſchaffenen Germanen als ein Muſter anzupreiſen: „Geſchworene beſchützen die Preß- freiheit gegen zu ſtrenge und unnatürliche Geſetze durch ihr einfaches: Nichtſchuldig!“ Endlich mißbrauchte die Kammer gar ihr Steuerbewilli- gungsrecht zu einer verfaſſungswidrigen Drohung; ſie beſchloß, das Budget erſt dann zu bewilligen, wenn die Regierung das Preßgeſetz nebſt einigen anderen Geſetzentwürfen vorgelegt hätte.
Welch eine Lage für den wohlmeinenden Miniſter! Winter hielt die Cenſur für einen gemeinſchädlichen Mißbrauch, aber wie durfte er ſie beſeitigen, den Vorſchriften der Bundesgeſetze und der Landesverfaſſung gradeswegs zuwider? Der Großherzog ſtand, wenngleich er den Kammern gern ein Stück Weges entgegenkam, mit ſeinen Herzensneigungen durch- aus auf Seiten der Oſtmächte. So oft die Ruſſen, unter dem Wehge- ſchrei der Liberalen, einen Sieg erfochten, ließ er dem Könige von Preu- ßen durch Otterſtedt ſeinen Glückwunſch ausſprechen.*) Nimmermehr wollte er ſich gegen den Deutſchen Bund auflehnen. Mit Badens Zu- ſtimmung hatte der Bundestag im vorigen Herbſt den Regierungen die ſtrenge Handhabung der Cenſur anempfohlen, jetzt ſchritt er zu neuen Beſchlüſſen gleichen Sinnes; an die Milderung oder gar die Aufhebung der Karlsbader Geſetze wagte keine der Bundesregierungen zu denken in einem Augenblicke, da halb Deutſchland durch Unruhen heimgeſucht wurde. Aus Darmſtadt, Butzbach, Tübingen und anderen ſüddeutſchen Städten kamen Adreſſen, welche die Bundesverſammlung baten dem Blutvergießen in Polen Einhalt zu thun, damit die Cholera nicht nach
*) Otterſtedt’s Berichte, 18. März, 6. Juni 1831.
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IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
Von Stunde zu Stunde erhitzten ſich die Köpfe; eine Fluth von
Zornreden ergoß ſich über die Karlsbader „Ordonnanzen“. Die franzöſiſche
Verbildung dieſes Liberalismus bekundete ſich auch in ſeiner verwälſchten
Sprache: wie die Karlsbader Beſchlüſſe Ordonnanzen hießen, ſo nannte
man Welcker’s Antrag eine „Motion“ und die Verbeſſerungen „Amen-
dements“; nach Pariſer Brauch donnerten die Redner wider die mark-
loſen „Juſtemilianer“ und warnten die Regierung vor dem Schickſale des
„deplorablen Miniſteriums“ Polignac. Der Geiſtliche Rath Herr gab
der Preßfreiheit ſogar den kirchlichen Segen: er nannte ſie „eine Anſtalt
Gottes, die uns helfen wird zu Alledem was wir für Zeit, Tod und
Ewigkeit nothwendig haben.“ Da die anonymen Zeitungsſchreiber der
liberalen Doctrin wie Volkstribunen erſchienen, ſo ſollten ſie auch nur
durch die freie Stimme des Volksgewiſſens, durch Geſchworene gerichtet
werden. Selbſt Duttlinger, der ruhigſte unter den Führern der Oppo-
ſition, ließ ſich von der allgemeinen Aufregung anſtecken; der deutſche
Rechtslehrer ſchämte ſich nicht, die Schwurgerichte kurzerhand über das
Geſetz zu ſtellen und die ſchmähliche Parteilichkeit, welche die franzöſiſchen
Geſchworenen in allen politiſchen Proceſſen bethätigten, den rechtſchaffenen
Germanen als ein Muſter anzupreiſen: „Geſchworene beſchützen die Preß-
freiheit gegen zu ſtrenge und unnatürliche Geſetze durch ihr einfaches:
Nichtſchuldig!“ Endlich mißbrauchte die Kammer gar ihr Steuerbewilli-
gungsrecht zu einer verfaſſungswidrigen Drohung; ſie beſchloß, das Budget
erſt dann zu bewilligen, wenn die Regierung das Preßgeſetz nebſt einigen
anderen Geſetzentwürfen vorgelegt hätte.
Welch eine Lage für den wohlmeinenden Miniſter! Winter hielt die
Cenſur für einen gemeinſchädlichen Mißbrauch, aber wie durfte er ſie
beſeitigen, den Vorſchriften der Bundesgeſetze und der Landesverfaſſung
gradeswegs zuwider? Der Großherzog ſtand, wenngleich er den Kammern
gern ein Stück Weges entgegenkam, mit ſeinen Herzensneigungen durch-
aus auf Seiten der Oſtmächte. So oft die Ruſſen, unter dem Wehge-
ſchrei der Liberalen, einen Sieg erfochten, ließ er dem Könige von Preu-
ßen durch Otterſtedt ſeinen Glückwunſch ausſprechen. *) Nimmermehr
wollte er ſich gegen den Deutſchen Bund auflehnen. Mit Badens Zu-
ſtimmung hatte der Bundestag im vorigen Herbſt den Regierungen die
ſtrenge Handhabung der Cenſur anempfohlen, jetzt ſchritt er zu neuen
Beſchlüſſen gleichen Sinnes; an die Milderung oder gar die Aufhebung
der Karlsbader Geſetze wagte keine der Bundesregierungen zu denken
in einem Augenblicke, da halb Deutſchland durch Unruhen heimgeſucht
wurde. Aus Darmſtadt, Butzbach, Tübingen und anderen ſüddeutſchen
Städten kamen Adreſſen, welche die Bundesverſammlung baten dem
Blutvergießen in Polen Einhalt zu thun, damit die Cholera nicht nach
*) Otterſtedt’s Berichte, 18. März, 6. Juni 1831.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/246>, abgerufen am 24.11.2024.
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