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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 4. Landtage und Feste in Oberdeutschland.
danken vermuthen wollte.*) Die zuversichtliche Stimmung des Münchener
Hofes änderte sich aber bald, als Dr. Siebenpfeiffer seine demagogische
Wirksamkeit begann, ein Rabulist des gemeinen Schlages, von zweifel-
haftem Charakter, federfertig, unermüdlich, grade geistreich genug um den
halbgebildeten Philistern als ein großer Mann zu erscheinen. Sein "Rhein-
baiern, eine Zeitschrift für die Gesetzgebung des constitutionellen In- und
Auslands, zumal Frankreichs" sprach noch ziemlich gemäßigt, obwohl die
üblichen Schimpfreden wider die verfassungswidrige Zitterpappelhaftigkeit
der Beamten, wider das deutsche Sibirien Preußen, wider die Frechheit
der preußischen Aristokratenstirnen und den zum russischen Statthaltersitze
erniedrigten Thron Friedrich's des Großen auch hier nicht fehlten. Er ver-
langte nur ein selbständig regiertes Rheinbaiern, etwa unter einem könig-
lichen Prinzen, aber mit feierlicher Anerkennung der in der Pfalz recht-
mäßig verkündigten französischen Erklärung der Menschenrechte, und wünschte
die Jugend staatsbürgerlich zu bilden durch Beseitigung des classischen
Unterrichts, der überhaupt den vernunftrechtlichen Liberalen zu geistvoll
und darum verdächtig war. Was sich in den Abhandlungen einer Monats-
schrift nicht wohl sagen ließ, das verkündete Siebenpfeiffer um so deut-
licher in den kleinen Brand-Artikeln seines Tageblatts, des "Westboten".
Hier sprach er aus, was er auch seinem alten Freunde Rotteck vertraulich
gestand, daß er der süßlichen Halbheiten und constitutionellen Lügen der
badischen Justemilianer müde sei: Thron und Republik heulen einander an,
Fürstlichkeit und Volksthum sind unverträglich, die Fürsten nur die ver-
körperte Idee des Aristokratismus. Wenn dereinst alle Oberbehörden aus
Volkswahlen hervorgehen, "dann stürzen die ausgehöhlten Throne, dann,
göttliches Recht, fliehe in die Wälder von Rußland"! Darum wurden die
Casseler, Braunschweiger, Dresdner verhöhnt wegen ihrer Lärmbewe-
gungen, die vor den Thronen stehen geblieben, die Nassauer aufgefordert
"ein Loth Blei durch das falsche niedrige Herz des ehrvergessenen Ministers
Marschall zu schießen", und der gesammten Nation zugerufen: "Welcher
deutsche Brutus reißt das Messer aus dem blutigen Leichnam der ge-
schändeten Polonia und giebt den Aufruf zur Freiheit?"

Zu Siebenpfeiffer gesellte sich der fränkische Jurist Wirth, der so
lange in der Münchener Kammer hinter den Kulissen gestanden hatte
und nun doch gerathen fand seine streitbare Feder unter den Schutz des
französischen Gerichtsverfahrens zu flüchten, ein schwärmerischer Teutone
von gutem Rufe und ehrlicher Vaterlandsliebe, aber fast noch radicaler
als sein Genosse. In seiner "Tribüne" wurde nicht nur das amerika-
nische Staatsideal verherrlicht, sondern auch schon ein verschämter Socialis-
mus gepredigt: eine große Association sollte die Kinder der Armen, je nach
ihrer Begabung, für höhere Berufe erziehen, eine Nationalkasse den kleinen

*) Küster's Berichte, 13. Aug. 1830 ff.

IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland.
danken vermuthen wollte.*) Die zuverſichtliche Stimmung des Münchener
Hofes änderte ſich aber bald, als Dr. Siebenpfeiffer ſeine demagogiſche
Wirkſamkeit begann, ein Rabuliſt des gemeinen Schlages, von zweifel-
haftem Charakter, federfertig, unermüdlich, grade geiſtreich genug um den
halbgebildeten Philiſtern als ein großer Mann zu erſcheinen. Sein „Rhein-
baiern, eine Zeitſchrift für die Geſetzgebung des conſtitutionellen In- und
Auslands, zumal Frankreichs“ ſprach noch ziemlich gemäßigt, obwohl die
üblichen Schimpfreden wider die verfaſſungswidrige Zitterpappelhaftigkeit
der Beamten, wider das deutſche Sibirien Preußen, wider die Frechheit
der preußiſchen Ariſtokratenſtirnen und den zum ruſſiſchen Statthalterſitze
erniedrigten Thron Friedrich’s des Großen auch hier nicht fehlten. Er ver-
langte nur ein ſelbſtändig regiertes Rheinbaiern, etwa unter einem könig-
lichen Prinzen, aber mit feierlicher Anerkennung der in der Pfalz recht-
mäßig verkündigten franzöſiſchen Erklärung der Menſchenrechte, und wünſchte
die Jugend ſtaatsbürgerlich zu bilden durch Beſeitigung des claſſiſchen
Unterrichts, der überhaupt den vernunftrechtlichen Liberalen zu geiſtvoll
und darum verdächtig war. Was ſich in den Abhandlungen einer Monats-
ſchrift nicht wohl ſagen ließ, das verkündete Siebenpfeiffer um ſo deut-
licher in den kleinen Brand-Artikeln ſeines Tageblatts, des „Weſtboten“.
Hier ſprach er aus, was er auch ſeinem alten Freunde Rotteck vertraulich
geſtand, daß er der ſüßlichen Halbheiten und conſtitutionellen Lügen der
badiſchen Juſtemilianer müde ſei: Thron und Republik heulen einander an,
Fürſtlichkeit und Volksthum ſind unverträglich, die Fürſten nur die ver-
körperte Idee des Ariſtokratismus. Wenn dereinſt alle Oberbehörden aus
Volkswahlen hervorgehen, „dann ſtürzen die ausgehöhlten Throne, dann,
göttliches Recht, fliehe in die Wälder von Rußland“! Darum wurden die
Caſſeler, Braunſchweiger, Dresdner verhöhnt wegen ihrer Lärmbewe-
gungen, die vor den Thronen ſtehen geblieben, die Naſſauer aufgefordert
„ein Loth Blei durch das falſche niedrige Herz des ehrvergeſſenen Miniſters
Marſchall zu ſchießen“, und der geſammten Nation zugerufen: „Welcher
deutſche Brutus reißt das Meſſer aus dem blutigen Leichnam der ge-
ſchändeten Polonia und giebt den Aufruf zur Freiheit?“

Zu Siebenpfeiffer geſellte ſich der fränkiſche Juriſt Wirth, der ſo
lange in der Münchener Kammer hinter den Kuliſſen geſtanden hatte
und nun doch gerathen fand ſeine ſtreitbare Feder unter den Schutz des
franzöſiſchen Gerichtsverfahrens zu flüchten, ein ſchwärmeriſcher Teutone
von gutem Rufe und ehrlicher Vaterlandsliebe, aber faſt noch radicaler
als ſein Genoſſe. In ſeiner „Tribüne“ wurde nicht nur das amerika-
niſche Staatsideal verherrlicht, ſondern auch ſchon ein verſchämter Socialis-
mus gepredigt: eine große Aſſociation ſollte die Kinder der Armen, je nach
ihrer Begabung, für höhere Berufe erziehen, eine Nationalkaſſe den kleinen

*) Küſter’s Berichte, 13. Aug. 1830 ff.
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[252/0266] IV. 4. Landtage und Feſte in Oberdeutſchland. danken vermuthen wollte. *) Die zuverſichtliche Stimmung des Münchener Hofes änderte ſich aber bald, als Dr. Siebenpfeiffer ſeine demagogiſche Wirkſamkeit begann, ein Rabuliſt des gemeinen Schlages, von zweifel- haftem Charakter, federfertig, unermüdlich, grade geiſtreich genug um den halbgebildeten Philiſtern als ein großer Mann zu erſcheinen. Sein „Rhein- baiern, eine Zeitſchrift für die Geſetzgebung des conſtitutionellen In- und Auslands, zumal Frankreichs“ ſprach noch ziemlich gemäßigt, obwohl die üblichen Schimpfreden wider die verfaſſungswidrige Zitterpappelhaftigkeit der Beamten, wider das deutſche Sibirien Preußen, wider die Frechheit der preußiſchen Ariſtokratenſtirnen und den zum ruſſiſchen Statthalterſitze erniedrigten Thron Friedrich’s des Großen auch hier nicht fehlten. Er ver- langte nur ein ſelbſtändig regiertes Rheinbaiern, etwa unter einem könig- lichen Prinzen, aber mit feierlicher Anerkennung der in der Pfalz recht- mäßig verkündigten franzöſiſchen Erklärung der Menſchenrechte, und wünſchte die Jugend ſtaatsbürgerlich zu bilden durch Beſeitigung des claſſiſchen Unterrichts, der überhaupt den vernunftrechtlichen Liberalen zu geiſtvoll und darum verdächtig war. Was ſich in den Abhandlungen einer Monats- ſchrift nicht wohl ſagen ließ, das verkündete Siebenpfeiffer um ſo deut- licher in den kleinen Brand-Artikeln ſeines Tageblatts, des „Weſtboten“. Hier ſprach er aus, was er auch ſeinem alten Freunde Rotteck vertraulich geſtand, daß er der ſüßlichen Halbheiten und conſtitutionellen Lügen der badiſchen Juſtemilianer müde ſei: Thron und Republik heulen einander an, Fürſtlichkeit und Volksthum ſind unverträglich, die Fürſten nur die ver- körperte Idee des Ariſtokratismus. Wenn dereinſt alle Oberbehörden aus Volkswahlen hervorgehen, „dann ſtürzen die ausgehöhlten Throne, dann, göttliches Recht, fliehe in die Wälder von Rußland“! Darum wurden die Caſſeler, Braunſchweiger, Dresdner verhöhnt wegen ihrer Lärmbewe- gungen, die vor den Thronen ſtehen geblieben, die Naſſauer aufgefordert „ein Loth Blei durch das falſche niedrige Herz des ehrvergeſſenen Miniſters Marſchall zu ſchießen“, und der geſammten Nation zugerufen: „Welcher deutſche Brutus reißt das Meſſer aus dem blutigen Leichnam der ge- ſchändeten Polonia und giebt den Aufruf zur Freiheit?“ Zu Siebenpfeiffer geſellte ſich der fränkiſche Juriſt Wirth, der ſo lange in der Münchener Kammer hinter den Kuliſſen geſtanden hatte und nun doch gerathen fand ſeine ſtreitbare Feder unter den Schutz des franzöſiſchen Gerichtsverfahrens zu flüchten, ein ſchwärmeriſcher Teutone von gutem Rufe und ehrlicher Vaterlandsliebe, aber faſt noch radicaler als ſein Genoſſe. In ſeiner „Tribüne“ wurde nicht nur das amerika- niſche Staatsideal verherrlicht, ſondern auch ſchon ein verſchämter Socialis- mus gepredigt: eine große Aſſociation ſollte die Kinder der Armen, je nach ihrer Begabung, für höhere Berufe erziehen, eine Nationalkaſſe den kleinen *) Küſter’s Berichte, 13. Aug. 1830 ff.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/266>, abgerufen am 24.11.2024.