Maifest der Deutschen große Hoffnungen gesetzt. Am Tage des Ham- bacher Festes veranstalteten die deutschen Radicalen in Paris ein Bankett unter Lafayette's Vorsitz, und einige Tage nachher brach dort ein gefähr- licher Aufstand aus.
Auch in den anderen Landschaften am Ober- und Mittelrhein wurden zur selben Zeit überall, offenbar nach Verabredung, Volksversammlungen abgehalten; der Frühling war so schön, der Verkehr so leicht, der Wein so wohlfeil und das deutsche Elend unbestreitbar schwer. In Weinheim an der Bergstraße, in Bergen und Wilhelmsbad bei Frankfurt, in der Nebelhöhle der Rauhen Alp versammelten sich die Patrioten, mit schwarz- rothgoldenen Kokarden geschmückt; da und dort genügte schon die Ein- ladung eines unternehmenden Gastwirths um das souveräne Volk anzu- locken. Am 11. Juni tagten die badischen Liberalen in Badenweiler, und hier zeigte sich deutlich, wie scharfe Gegensätze die süddeutsche Opposition in sich barg. Den Gedanken der unbedingten nationalen Einheit vermochte Rotteck nicht zu fassen. Als ein Student das deutsche Banner aufpflanzen wollte, ließ er die Fahne hinwegnehmen und brachte einen Trinkspruch auf Badens Selbständigkeit aus: "Ich will keine Einheit, die uns in Gefahr setzt, in einen Kriegszug gegen die uns natürlich Verbündeten geschleppt zu werden; ich will keine Einheit unter den Flügeln des öster- reichischen oder des preußischen Adlers, sondern die Einheit der Völker Deutschlands zum Schutze gegen die Vereinigung der Fürsten und der Aristokraten." Unter brausendem Beifall faßte er seine Weisheit endlich in dem Satze zusammen: "Ich will lieber Freiheit ohne Einheit, als Einheit ohne Freiheit" -- einem Satze, der seitdem oft wiederholt, durch lange Jahre das Stichwort des liberalen Particularismus geblieben ist.
Seit diesen Hambacher Tagen gewöhnte sich das süddeutsche Bürger- thum an eine patriotische Kneipseligkeit, die, zuweilen einmal durch ein Verbot der Obrigkeit gestört, fast zwei Jahrzehnte lang anhielt und auf das Volksgemüth ebenso unwiderstehlich wirkte wie ein halbes Jahrtausend zuvor der Kyrieleis-Ruf der Geißler. Beim vollen Becher das Kauder- wälsch der Zeitungen nachzusprechen oder bei einem "Welckers-Essen" den großen deutschen Hofrath reden zu hören, das gehörte zum Leben des süddeutschen Bürgers; der Idealismus, aber auch die Zuchtlosigkeit des Jahres 1848 hat sich gutentheils in dem beständigen Rausche dieser Zweckessen angesammelt. Niemand kannte dies revolutionäre Philisterthum besser als der liebenswürdige Heidelberger Dialektdichter K. G. Nadler, selber ein fröhlicher Pfälzer in Allem, nur nicht in seiner politischen Ge- sinnung. Er wollte sich kein Herz fassen zu den beharrlichen weingrünen Hochs auf Deutschland -- so lange unsere Fahne noch nicht in Straß- burg wehe, unsere Kriegsflotte noch nicht nach Kronstadt gehe -- und ließ den gesinnungstüchtigsten aller liberalen Schoppenstecher, den Bürger- grenadiercapitän und Schuhmachermeister Hackstrumpf also reden:
Das revolutionäre Philiſterthum.
Maifeſt der Deutſchen große Hoffnungen geſetzt. Am Tage des Ham- bacher Feſtes veranſtalteten die deutſchen Radicalen in Paris ein Bankett unter Lafayette’s Vorſitz, und einige Tage nachher brach dort ein gefähr- licher Aufſtand aus.
Auch in den anderen Landſchaften am Ober- und Mittelrhein wurden zur ſelben Zeit überall, offenbar nach Verabredung, Volksverſammlungen abgehalten; der Frühling war ſo ſchön, der Verkehr ſo leicht, der Wein ſo wohlfeil und das deutſche Elend unbeſtreitbar ſchwer. In Weinheim an der Bergſtraße, in Bergen und Wilhelmsbad bei Frankfurt, in der Nebelhöhle der Rauhen Alp verſammelten ſich die Patrioten, mit ſchwarz- rothgoldenen Kokarden geſchmückt; da und dort genügte ſchon die Ein- ladung eines unternehmenden Gaſtwirths um das ſouveräne Volk anzu- locken. Am 11. Juni tagten die badiſchen Liberalen in Badenweiler, und hier zeigte ſich deutlich, wie ſcharfe Gegenſätze die ſüddeutſche Oppoſition in ſich barg. Den Gedanken der unbedingten nationalen Einheit vermochte Rotteck nicht zu faſſen. Als ein Student das deutſche Banner aufpflanzen wollte, ließ er die Fahne hinwegnehmen und brachte einen Trinkſpruch auf Badens Selbſtändigkeit aus: „Ich will keine Einheit, die uns in Gefahr ſetzt, in einen Kriegszug gegen die uns natürlich Verbündeten geſchleppt zu werden; ich will keine Einheit unter den Flügeln des öſter- reichiſchen oder des preußiſchen Adlers, ſondern die Einheit der Völker Deutſchlands zum Schutze gegen die Vereinigung der Fürſten und der Ariſtokraten.“ Unter brauſendem Beifall faßte er ſeine Weisheit endlich in dem Satze zuſammen: „Ich will lieber Freiheit ohne Einheit, als Einheit ohne Freiheit“ — einem Satze, der ſeitdem oft wiederholt, durch lange Jahre das Stichwort des liberalen Particularismus geblieben iſt.
Seit dieſen Hambacher Tagen gewöhnte ſich das ſüddeutſche Bürger- thum an eine patriotiſche Kneipſeligkeit, die, zuweilen einmal durch ein Verbot der Obrigkeit geſtört, faſt zwei Jahrzehnte lang anhielt und auf das Volksgemüth ebenſo unwiderſtehlich wirkte wie ein halbes Jahrtauſend zuvor der Kyrieleis-Ruf der Geißler. Beim vollen Becher das Kauder- wälſch der Zeitungen nachzuſprechen oder bei einem „Welckers-Eſſen“ den großen deutſchen Hofrath reden zu hören, das gehörte zum Leben des ſüddeutſchen Bürgers; der Idealismus, aber auch die Zuchtloſigkeit des Jahres 1848 hat ſich gutentheils in dem beſtändigen Rauſche dieſer Zweckeſſen angeſammelt. Niemand kannte dies revolutionäre Philiſterthum beſſer als der liebenswürdige Heidelberger Dialektdichter K. G. Nadler, ſelber ein fröhlicher Pfälzer in Allem, nur nicht in ſeiner politiſchen Ge- ſinnung. Er wollte ſich kein Herz faſſen zu den beharrlichen weingrünen Hochs auf Deutſchland — ſo lange unſere Fahne noch nicht in Straß- burg wehe, unſere Kriegsflotte noch nicht nach Kronſtadt gehe — und ließ den geſinnungstüchtigſten aller liberalen Schoppenſtecher, den Bürger- grenadiercapitän und Schuhmachermeiſter Hackſtrumpf alſo reden:
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Das revolutionäre Philiſterthum.
Maifeſt der Deutſchen große Hoffnungen geſetzt. Am Tage des Ham-
bacher Feſtes veranſtalteten die deutſchen Radicalen in Paris ein Bankett
unter Lafayette’s Vorſitz, und einige Tage nachher brach dort ein gefähr-
licher Aufſtand aus.
Auch in den anderen Landſchaften am Ober- und Mittelrhein wurden
zur ſelben Zeit überall, offenbar nach Verabredung, Volksverſammlungen
abgehalten; der Frühling war ſo ſchön, der Verkehr ſo leicht, der Wein
ſo wohlfeil und das deutſche Elend unbeſtreitbar ſchwer. In Weinheim
an der Bergſtraße, in Bergen und Wilhelmsbad bei Frankfurt, in der
Nebelhöhle der Rauhen Alp verſammelten ſich die Patrioten, mit ſchwarz-
rothgoldenen Kokarden geſchmückt; da und dort genügte ſchon die Ein-
ladung eines unternehmenden Gaſtwirths um das ſouveräne Volk anzu-
locken. Am 11. Juni tagten die badiſchen Liberalen in Badenweiler, und
hier zeigte ſich deutlich, wie ſcharfe Gegenſätze die ſüddeutſche Oppoſition in
ſich barg. Den Gedanken der unbedingten nationalen Einheit vermochte
Rotteck nicht zu faſſen. Als ein Student das deutſche Banner aufpflanzen
wollte, ließ er die Fahne hinwegnehmen und brachte einen Trinkſpruch
auf Badens Selbſtändigkeit aus: „Ich will keine Einheit, die uns in
Gefahr ſetzt, in einen Kriegszug gegen die uns natürlich Verbündeten
geſchleppt zu werden; ich will keine Einheit unter den Flügeln des öſter-
reichiſchen oder des preußiſchen Adlers, ſondern die Einheit der Völker
Deutſchlands zum Schutze gegen die Vereinigung der Fürſten und der
Ariſtokraten.“ Unter brauſendem Beifall faßte er ſeine Weisheit endlich in
dem Satze zuſammen: „Ich will lieber Freiheit ohne Einheit, als Einheit
ohne Freiheit“ — einem Satze, der ſeitdem oft wiederholt, durch lange
Jahre das Stichwort des liberalen Particularismus geblieben iſt.
Seit dieſen Hambacher Tagen gewöhnte ſich das ſüddeutſche Bürger-
thum an eine patriotiſche Kneipſeligkeit, die, zuweilen einmal durch ein
Verbot der Obrigkeit geſtört, faſt zwei Jahrzehnte lang anhielt und auf
das Volksgemüth ebenſo unwiderſtehlich wirkte wie ein halbes Jahrtauſend
zuvor der Kyrieleis-Ruf der Geißler. Beim vollen Becher das Kauder-
wälſch der Zeitungen nachzuſprechen oder bei einem „Welckers-Eſſen“
den großen deutſchen Hofrath reden zu hören, das gehörte zum Leben
des ſüddeutſchen Bürgers; der Idealismus, aber auch die Zuchtloſigkeit
des Jahres 1848 hat ſich gutentheils in dem beſtändigen Rauſche dieſer
Zweckeſſen angeſammelt. Niemand kannte dies revolutionäre Philiſterthum
beſſer als der liebenswürdige Heidelberger Dialektdichter K. G. Nadler,
ſelber ein fröhlicher Pfälzer in Allem, nur nicht in ſeiner politiſchen Ge-
ſinnung. Er wollte ſich kein Herz faſſen zu den beharrlichen weingrünen
Hochs auf Deutſchland — ſo lange unſere Fahne noch nicht in Straß-
burg wehe, unſere Kriegsflotte noch nicht nach Kronſtadt gehe — und
ließ den geſinnungstüchtigſten aller liberalen Schoppenſtecher, den Bürger-
grenadiercapitän und Schuhmachermeiſter Hackſtrumpf alſo reden:
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/279>, abgerufen am 24.11.2024.
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