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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 5. Wiederbefestigung der alten Gewalten.
Was ließ sich nicht Alles herauslesen aus dem zweiten Artikel, der den
Landständen untersagte, die zur Führung einer verfassungsmäßigen Re-
gierung erforderlichen Mittel zu verweigern! Wie leicht konnte diese Vor-
schrift zur gänzlichen Vernichtung des ständischen Steuerbewilligungsrechts
mißbraucht werden, und wie nahe lag dieser Verdacht gerade jetzt, da die
Höfe so unerbittlich streng gegen die Zeitungen und Vereine auftraten.
Begreiflich also, daß die liberale Partei die Sechs Artikel, stark übertreibend,
im gehässigsten Sinne auslegte und wehklagend versicherte: "der Schein-
Constitutionalismus" -- so lautete die neue Zeitungsphrase -- solle in
die deutschen Verfassungen eingeführt werden.

Und welch ein grelles Schlaglicht fiel jetzt wieder auf die grundfalsche
Richtung, welche die Bundespolitik von Anbeginn eingeschlagen hatte! Für
die Einheit, deren die Nation wie des lieben Brotes bedurfte, für die
Einheit des Heerwesens und der Handelspolitik that der Bund gar nichts;
für sie mußte Preußen mit Umgehung des Bundestags sorgen. Auch in allen
anderen gemeinnützigen Geschäften zeigte der Bundestag eine schimpfliche
Trägheit. Soeben erzählte man sich wieder hohnlachend ein neues Stücklein
aus der Geschichte dieses Bundesjammers: jahrelang hatte sich eine Com-
mission des Bundestags über die Staatsangehörigkeit eines Jägers Lemnitzer
in Thüringen gestritten; da berichtete endlich der Gesandte Leonhardi, daß
nicht Preußen oder Reuß, sondern Meiningen den Mann aufzunehmen
schuldig sei, und fügte die schmerzliche Mittheilung hinzu, der Arme, der
über dem Gezänk achtzig Jahre alt geworden war, sei leider soeben ge-
storben.*) Wenn es aber galt, die ständischen Verfassungen, die sich doch
nach der Eigenart der Landschaften richten mußten, alle über einen Kamm
zu scheeren oder durch den Zwang der Polizei das politische Leben der
Nation darniederzuhalten, dann entfaltete diese träge Versammlung eine
fieberische Thätigkeit, dann erließ sie Verbote und Befehle an souveräne
Fürsten, dann übte sie ungescheut alle die Machtbefugnisse einer Staats-
gewalt, welche weit über die bescheidenen Rechte eines Staatenbundes hin-
ausgingen. Vielherrschaft da wo Einheit noth that, Centralisation da wo
der Particularismus sein gutes Recht hatte -- das war der Charakter der
deutschen Bundespolitik. Da der Bundestag seine Aufgabe so ganz ver-
kannte, so wurden ihm auch nothwendige und gerechtfertigte Sicherheits-
maßregeln zur Schuld angerechnet; er erschien der Nation nur noch als
eine kleinlich gehässige Polizeibehörde.

Die Unzufriedenheit war allgemein. Selbst die Preußen, die sonst
nach dem Bundestage wenig fragten, zeigten sich unwillig; sie fanden es
kränkend, daß alle diese neuen Verbote auch für sie, die Königstreuen
gelten sollten. Am Hofe wehte die Luft seit einigen Monaten schärfer.
Der König sprach sich über den Lärm der pfälzischen Demagogen sehr

*) Nagler's Bericht, 17. Juli 1831.

IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
Was ließ ſich nicht Alles herausleſen aus dem zweiten Artikel, der den
Landſtänden unterſagte, die zur Führung einer verfaſſungsmäßigen Re-
gierung erforderlichen Mittel zu verweigern! Wie leicht konnte dieſe Vor-
ſchrift zur gänzlichen Vernichtung des ſtändiſchen Steuerbewilligungsrechts
mißbraucht werden, und wie nahe lag dieſer Verdacht gerade jetzt, da die
Höfe ſo unerbittlich ſtreng gegen die Zeitungen und Vereine auftraten.
Begreiflich alſo, daß die liberale Partei die Sechs Artikel, ſtark übertreibend,
im gehäſſigſten Sinne auslegte und wehklagend verſicherte: „der Schein-
Conſtitutionalismus“ — ſo lautete die neue Zeitungsphraſe — ſolle in
die deutſchen Verfaſſungen eingeführt werden.

Und welch ein grelles Schlaglicht fiel jetzt wieder auf die grundfalſche
Richtung, welche die Bundespolitik von Anbeginn eingeſchlagen hatte! Für
die Einheit, deren die Nation wie des lieben Brotes bedurfte, für die
Einheit des Heerweſens und der Handelspolitik that der Bund gar nichts;
für ſie mußte Preußen mit Umgehung des Bundestags ſorgen. Auch in allen
anderen gemeinnützigen Geſchäften zeigte der Bundestag eine ſchimpfliche
Trägheit. Soeben erzählte man ſich wieder hohnlachend ein neues Stücklein
aus der Geſchichte dieſes Bundesjammers: jahrelang hatte ſich eine Com-
miſſion des Bundestags über die Staatsangehörigkeit eines Jägers Lemnitzer
in Thüringen geſtritten; da berichtete endlich der Geſandte Leonhardi, daß
nicht Preußen oder Reuß, ſondern Meiningen den Mann aufzunehmen
ſchuldig ſei, und fügte die ſchmerzliche Mittheilung hinzu, der Arme, der
über dem Gezänk achtzig Jahre alt geworden war, ſei leider ſoeben ge-
ſtorben.*) Wenn es aber galt, die ſtändiſchen Verfaſſungen, die ſich doch
nach der Eigenart der Landſchaften richten mußten, alle über einen Kamm
zu ſcheeren oder durch den Zwang der Polizei das politiſche Leben der
Nation darniederzuhalten, dann entfaltete dieſe träge Verſammlung eine
fieberiſche Thätigkeit, dann erließ ſie Verbote und Befehle an ſouveräne
Fürſten, dann übte ſie ungeſcheut alle die Machtbefugniſſe einer Staats-
gewalt, welche weit über die beſcheidenen Rechte eines Staatenbundes hin-
ausgingen. Vielherrſchaft da wo Einheit noth that, Centraliſation da wo
der Particularismus ſein gutes Recht hatte — das war der Charakter der
deutſchen Bundespolitik. Da der Bundestag ſeine Aufgabe ſo ganz ver-
kannte, ſo wurden ihm auch nothwendige und gerechtfertigte Sicherheits-
maßregeln zur Schuld angerechnet; er erſchien der Nation nur noch als
eine kleinlich gehäſſige Polizeibehörde.

Die Unzufriedenheit war allgemein. Selbſt die Preußen, die ſonſt
nach dem Bundestage wenig fragten, zeigten ſich unwillig; ſie fanden es
kränkend, daß alle dieſe neuen Verbote auch für ſie, die Königstreuen
gelten ſollten. Am Hofe wehte die Luft ſeit einigen Monaten ſchärfer.
Der König ſprach ſich über den Lärm der pfälziſchen Demagogen ſehr

*) Nagler’s Bericht, 17. Juli 1831.
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[274/0288] IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten. Was ließ ſich nicht Alles herausleſen aus dem zweiten Artikel, der den Landſtänden unterſagte, die zur Führung einer verfaſſungsmäßigen Re- gierung erforderlichen Mittel zu verweigern! Wie leicht konnte dieſe Vor- ſchrift zur gänzlichen Vernichtung des ſtändiſchen Steuerbewilligungsrechts mißbraucht werden, und wie nahe lag dieſer Verdacht gerade jetzt, da die Höfe ſo unerbittlich ſtreng gegen die Zeitungen und Vereine auftraten. Begreiflich alſo, daß die liberale Partei die Sechs Artikel, ſtark übertreibend, im gehäſſigſten Sinne auslegte und wehklagend verſicherte: „der Schein- Conſtitutionalismus“ — ſo lautete die neue Zeitungsphraſe — ſolle in die deutſchen Verfaſſungen eingeführt werden. Und welch ein grelles Schlaglicht fiel jetzt wieder auf die grundfalſche Richtung, welche die Bundespolitik von Anbeginn eingeſchlagen hatte! Für die Einheit, deren die Nation wie des lieben Brotes bedurfte, für die Einheit des Heerweſens und der Handelspolitik that der Bund gar nichts; für ſie mußte Preußen mit Umgehung des Bundestags ſorgen. Auch in allen anderen gemeinnützigen Geſchäften zeigte der Bundestag eine ſchimpfliche Trägheit. Soeben erzählte man ſich wieder hohnlachend ein neues Stücklein aus der Geſchichte dieſes Bundesjammers: jahrelang hatte ſich eine Com- miſſion des Bundestags über die Staatsangehörigkeit eines Jägers Lemnitzer in Thüringen geſtritten; da berichtete endlich der Geſandte Leonhardi, daß nicht Preußen oder Reuß, ſondern Meiningen den Mann aufzunehmen ſchuldig ſei, und fügte die ſchmerzliche Mittheilung hinzu, der Arme, der über dem Gezänk achtzig Jahre alt geworden war, ſei leider ſoeben ge- ſtorben. *) Wenn es aber galt, die ſtändiſchen Verfaſſungen, die ſich doch nach der Eigenart der Landſchaften richten mußten, alle über einen Kamm zu ſcheeren oder durch den Zwang der Polizei das politiſche Leben der Nation darniederzuhalten, dann entfaltete dieſe träge Verſammlung eine fieberiſche Thätigkeit, dann erließ ſie Verbote und Befehle an ſouveräne Fürſten, dann übte ſie ungeſcheut alle die Machtbefugniſſe einer Staats- gewalt, welche weit über die beſcheidenen Rechte eines Staatenbundes hin- ausgingen. Vielherrſchaft da wo Einheit noth that, Centraliſation da wo der Particularismus ſein gutes Recht hatte — das war der Charakter der deutſchen Bundespolitik. Da der Bundestag ſeine Aufgabe ſo ganz ver- kannte, ſo wurden ihm auch nothwendige und gerechtfertigte Sicherheits- maßregeln zur Schuld angerechnet; er erſchien der Nation nur noch als eine kleinlich gehäſſige Polizeibehörde. Die Unzufriedenheit war allgemein. Selbſt die Preußen, die ſonſt nach dem Bundestage wenig fragten, zeigten ſich unwillig; ſie fanden es kränkend, daß alle dieſe neuen Verbote auch für ſie, die Königstreuen gelten ſollten. Am Hofe wehte die Luft ſeit einigen Monaten ſchärfer. Der König ſprach ſich über den Lärm der pfälziſchen Demagogen ſehr *) Nagler’s Bericht, 17. Juli 1831.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/288>, abgerufen am 24.11.2024.