Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. Leichenzug der alten Monarchie feierlich zum Lande hinaus; langsam, inkurzen Tagereisen zog er, umgeben von dem königlichen Hause und einer Schaar getreuer Truppen, nach Cherbourg, um dann in England eine Zuflucht zu suchen. Unbekümmert um ihre Eide traten Heer und Be- amtenthum sofort in das Lager der Sieger über. Nur in der Vendee flammte die alte legitimistische Kampflust noch einmal auf. Die anderen Provinzen fügten sich ohne Widerstand; sie waren längst an die Dictatur der Hauptstadt gewöhnt, und sie fühlten, daß die Revolution in Wahr- heit lediglich die Spitze des Staates umgestaltet hatte. Sein Wesen, das napoleonische Präfectursystem blieb unverändert; nur die Kurbel der un- geheuren Verwaltungsmaschine wurde jetzt von anderen Händen bewegt: von den Händen der wohlhabenden Mittelklasse, die ihr Uebergewicht in der Kammer gewandt ausbeutete um eine bürgerliche Klassenherrschaft zu begründen, wie sie so unbeschränkt noch in keinem Großstaate der Geschichte bestanden hatte. Die goldenen Tage der Bourgeoisie brachen an. Die Demokratisirung der Gesellschaft brachte den Franzosen nicht, wie ihre Doc- trinäre so oft geweissagt, die Herrschaft des Talents, sondern die Herrschaft des Geldbeutels. Die Charte wurde sofort zum Vortheil der neuen herr- schenden Klasse umgestaltet, obgleich die Liberalen doch behaupteten für die Aufrechterhaltung der Charte gefochten zu haben. Mit der legitimen Krone fiel auch die adliche Pairskammer hinweg; jedes politische Recht ward an einen hohen Census geknüpft und damit jeder Unzufriedene gezwungen seinen Widerspruch zuletzt gegen das Eigenthum selber zu richten. Dank dem Wahlgesetze, Dank der Dreistigkeit amtlicher Wahlbestechung und Wahl- beherrschung gelangten fortan fast nur noch die Mitglieder der herrschen- den Klasse in die Kammer; das parlamentarische Leben verflachte sich, die Beredsamkeit ward matter; der Parteikampf verlor Sinn und Inhalt, er bewegte sich nur noch um die Frage, welchen der ehrgeizigen Fractions- führer die Ministersessel zufallen sollten. Ebenso hart und hochmüthig wie einst der alte Ritteradel schaute dies pays legal des neuen Geldadels auf die breiten Massen des Volks hernieder und schmähte sie als die gefähr- lichen Klassen. Der vierte Stand aber hatte schon einmal, in den Tagen des Con- IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. Leichenzug der alten Monarchie feierlich zum Lande hinaus; langſam, inkurzen Tagereiſen zog er, umgeben von dem königlichen Hauſe und einer Schaar getreuer Truppen, nach Cherbourg, um dann in England eine Zuflucht zu ſuchen. Unbekümmert um ihre Eide traten Heer und Be- amtenthum ſofort in das Lager der Sieger über. Nur in der Vendee flammte die alte legitimiſtiſche Kampfluſt noch einmal auf. Die anderen Provinzen fügten ſich ohne Widerſtand; ſie waren längſt an die Dictatur der Hauptſtadt gewöhnt, und ſie fühlten, daß die Revolution in Wahr- heit lediglich die Spitze des Staates umgeſtaltet hatte. Sein Weſen, das napoleoniſche Präfecturſyſtem blieb unverändert; nur die Kurbel der un- geheuren Verwaltungsmaſchine wurde jetzt von anderen Händen bewegt: von den Händen der wohlhabenden Mittelklaſſe, die ihr Uebergewicht in der Kammer gewandt ausbeutete um eine bürgerliche Klaſſenherrſchaft zu begründen, wie ſie ſo unbeſchränkt noch in keinem Großſtaate der Geſchichte beſtanden hatte. Die goldenen Tage der Bourgeoiſie brachen an. Die Demokratiſirung der Geſellſchaft brachte den Franzoſen nicht, wie ihre Doc- trinäre ſo oft geweiſſagt, die Herrſchaft des Talents, ſondern die Herrſchaft des Geldbeutels. Die Charte wurde ſofort zum Vortheil der neuen herr- ſchenden Klaſſe umgeſtaltet, obgleich die Liberalen doch behaupteten für die Aufrechterhaltung der Charte gefochten zu haben. Mit der legitimen Krone fiel auch die adliche Pairskammer hinweg; jedes politiſche Recht ward an einen hohen Cenſus geknüpft und damit jeder Unzufriedene gezwungen ſeinen Widerſpruch zuletzt gegen das Eigenthum ſelber zu richten. Dank dem Wahlgeſetze, Dank der Dreiſtigkeit amtlicher Wahlbeſtechung und Wahl- beherrſchung gelangten fortan faſt nur noch die Mitglieder der herrſchen- den Klaſſe in die Kammer; das parlamentariſche Leben verflachte ſich, die Beredſamkeit ward matter; der Parteikampf verlor Sinn und Inhalt, er bewegte ſich nur noch um die Frage, welchen der ehrgeizigen Fractions- führer die Miniſterſeſſel zufallen ſollten. Ebenſo hart und hochmüthig wie einſt der alte Ritteradel ſchaute dies pays légal des neuen Geldadels auf die breiten Maſſen des Volks hernieder und ſchmähte ſie als die gefähr- lichen Klaſſen. Der vierte Stand aber hatte ſchon einmal, in den Tagen des Con- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0030" n="16"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IV.</hi> 1. 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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
Leichenzug der alten Monarchie feierlich zum Lande hinaus; langſam, in
kurzen Tagereiſen zog er, umgeben von dem königlichen Hauſe und einer
Schaar getreuer Truppen, nach Cherbourg, um dann in England eine
Zuflucht zu ſuchen. Unbekümmert um ihre Eide traten Heer und Be-
amtenthum ſofort in das Lager der Sieger über. Nur in der Vendee
flammte die alte legitimiſtiſche Kampfluſt noch einmal auf. Die anderen
Provinzen fügten ſich ohne Widerſtand; ſie waren längſt an die Dictatur
der Hauptſtadt gewöhnt, und ſie fühlten, daß die Revolution in Wahr-
heit lediglich die Spitze des Staates umgeſtaltet hatte. Sein Weſen, das
napoleoniſche Präfecturſyſtem blieb unverändert; nur die Kurbel der un-
geheuren Verwaltungsmaſchine wurde jetzt von anderen Händen bewegt:
von den Händen der wohlhabenden Mittelklaſſe, die ihr Uebergewicht in
der Kammer gewandt ausbeutete um eine bürgerliche Klaſſenherrſchaft zu
begründen, wie ſie ſo unbeſchränkt noch in keinem Großſtaate der Geſchichte
beſtanden hatte. Die goldenen Tage der Bourgeoiſie brachen an. Die
Demokratiſirung der Geſellſchaft brachte den Franzoſen nicht, wie ihre Doc-
trinäre ſo oft geweiſſagt, die Herrſchaft des Talents, ſondern die Herrſchaft
des Geldbeutels. Die Charte wurde ſofort zum Vortheil der neuen herr-
ſchenden Klaſſe umgeſtaltet, obgleich die Liberalen doch behaupteten für die
Aufrechterhaltung der Charte gefochten zu haben. Mit der legitimen Krone
fiel auch die adliche Pairskammer hinweg; jedes politiſche Recht ward an
einen hohen Cenſus geknüpft und damit jeder Unzufriedene gezwungen
ſeinen Widerſpruch zuletzt gegen das Eigenthum ſelber zu richten. Dank
dem Wahlgeſetze, Dank der Dreiſtigkeit amtlicher Wahlbeſtechung und Wahl-
beherrſchung gelangten fortan faſt nur noch die Mitglieder der herrſchen-
den Klaſſe in die Kammer; das parlamentariſche Leben verflachte ſich, die
Beredſamkeit ward matter; der Parteikampf verlor Sinn und Inhalt, er
bewegte ſich nur noch um die Frage, welchen der ehrgeizigen Fractions-
führer die Miniſterſeſſel zufallen ſollten. Ebenſo hart und hochmüthig wie
einſt der alte Ritteradel ſchaute dies pays légal des neuen Geldadels auf
die breiten Maſſen des Volks hernieder und ſchmähte ſie als die gefähr-
lichen Klaſſen.
Der vierte Stand aber hatte ſchon einmal, in den Tagen des Con-
vents, Frankreich beherrſcht und jetzt wieder durch ſeinen Barrikadenkampf
das alte Königthum geſtürzt; er hegte ein frühreifes Selbſtgefühl und
unauslöſchlichen Groll gegen die escamoteurs de juillet, gegen die Reichen,
die ihm das Heft aus der Hand gewunden hatten. Bedrückt und ver-
wahrloſt konnte er nichts hoffen von einer Klaſſenherrſchaft, die das Elend
der kleinen Leute nicht einmal bemerken wollte, und erwartete ſein Heil
von den hochtönenden Verheißungen der neuen ſocialiſtiſchen und com-
muniſtiſchen Lehren. Blutige Arbeiteraufſtände in Paris und Lyon bekun-
deten bald, welche Fülle des Jammers und des Haſſes in dieſen Niede-
rungen der Geſellſchaft angeſammelt lag.
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