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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 5. Wiederbefestigung der alten Gewalten.
verwandelt. Bei dem Aufstande selber waren sie gleichgiltig geblieben;
jetzt regte sich das Mitleid mit den politischen Verbrechern, das immer
ein Zeichen ungesunder öffentlicher Zustände ist, und wer konnte auch den
unglücklichen Studenten menschliche Theilnahme versagen? Ihre Verführer
waren entkommen; sie aber, die von den Hintergedanken der polnischen
Mitverschwornen wenig oder nichts wußten, büßten in endloser Unter-
suchungshaft und lernten jenes aus Härte und Nachlässigkeit gemischte
Regierungssystem, das unter der Frankfurter Oligarchie aufgeblüht war,
mit allen seinen Sünden gründlich kennen. Im Verhöre verfuhren die
Richter streng, oft roh; wer hartnäckig leugnete, wurde nach Karl's V.
Hochnothpeinlicher Halsgerichtsordnung, die in Frankfurt noch galt, mit
außerordentlichen Strafen belegt. Um so gemüthlicher ging es in den
Kerkern zu; die meisten der Gefängnißwärter zeigten eine Weitherzigkeit,
die nichts zu wünschen übrig ließ. Durch die lange Uebung erlangten die
jungen Herren eine erstaunliche Fertigkeit in allen kleinen Künsten des Ge-
fangenenlebens. Sie besprachen sich unter einander durch Klopfen oder
Pfeifen und unterhielten allesammt einen regelmäßigen Briefwechsel mit der
Außenwelt; sie verstanden meisterhaft, aus dem Morgenkaffee die kleinen in
die Zuckerstücke eingebohrten Zettel herauszufischen und ihre Erwiderungen
in den Pfropfen der geleerten Bierflaschen fortzusenden. In den Kuchen
und Wecken, die ihnen von Frankfurter Gönnern verehrt wurden, fanden
sich zuweilen Uhrfedersägen eingebacken. Die halbe Stadt beschäftigte sich
mit dem Schicksal der verwegenen Jungen; keine Woche verging, wo man
nicht von einem vergeblichen Fluchtversuche erzählte. Endlich an einem
nebligen October-Abend gelang es dem Studenten Lizius sich an einem
Seile aus dem zerfeilten Fenstergitter herabzulassen; die Frankfurter Schild-
wache dicht unter dem Fenster verließ ihren Posten, weil einige seiner
Freunde mittlerweile eine Rauferei auf der Gasse veranstalteten. So
entkam er glücklich, und jubelnd sangen die Gassenbuben hinter den Se-
natoren her: "O Polizei, wie viel Verdruß macht dir Studiosus Lizius!"

Dies neue Probstück frankfurtischer Kriegstüchtigkeit erfüllte den Bun-
destag mit gerechter Besorgniß. General Piret war schon längst in Ver-
zweiflung über das souveräne Stadtcommando neben ihm, das ihn von
den Ruhestörungen nicht einmal benachrichtigte. Der Militär-Ausschuß
des Bundes berieth schon ein neues Reglement, und da jetzt Gefahr im
Verzuge schien, so beschleunigte er seine Arbeiten, soweit am Bundestage
Eile möglich war. Am 16. Jan. 1834, dritthalb Monat nach jener ver-
hängnißvollen Flucht, wurden seine Vorschläge der Bundesversammlung
zur Abstimmung unterbreitet. Der Ausschuß beantragte nur was sich in
jedem anderen Heere von selbst verstanden hätte: die Frankfurter Linien-
truppen sollten mit den Oesterreichern und den Preußen zu einem Sicher-
heitscorps unter Piret's Führung vereinigt, und im Falle der Noth auch
die Stadtwehr dem commandirenden General untergeordnet werden. Kaum

IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten.
verwandelt. Bei dem Aufſtande ſelber waren ſie gleichgiltig geblieben;
jetzt regte ſich das Mitleid mit den politiſchen Verbrechern, das immer
ein Zeichen ungeſunder öffentlicher Zuſtände iſt, und wer konnte auch den
unglücklichen Studenten menſchliche Theilnahme verſagen? Ihre Verführer
waren entkommen; ſie aber, die von den Hintergedanken der polniſchen
Mitverſchwornen wenig oder nichts wußten, büßten in endloſer Unter-
ſuchungshaft und lernten jenes aus Härte und Nachläſſigkeit gemiſchte
Regierungsſyſtem, das unter der Frankfurter Oligarchie aufgeblüht war,
mit allen ſeinen Sünden gründlich kennen. Im Verhöre verfuhren die
Richter ſtreng, oft roh; wer hartnäckig leugnete, wurde nach Karl’s V.
Hochnothpeinlicher Halsgerichtsordnung, die in Frankfurt noch galt, mit
außerordentlichen Strafen belegt. Um ſo gemüthlicher ging es in den
Kerkern zu; die meiſten der Gefängnißwärter zeigten eine Weitherzigkeit,
die nichts zu wünſchen übrig ließ. Durch die lange Uebung erlangten die
jungen Herren eine erſtaunliche Fertigkeit in allen kleinen Künſten des Ge-
fangenenlebens. Sie beſprachen ſich unter einander durch Klopfen oder
Pfeifen und unterhielten alleſammt einen regelmäßigen Briefwechſel mit der
Außenwelt; ſie verſtanden meiſterhaft, aus dem Morgenkaffee die kleinen in
die Zuckerſtücke eingebohrten Zettel herauszufiſchen und ihre Erwiderungen
in den Pfropfen der geleerten Bierflaſchen fortzuſenden. In den Kuchen
und Wecken, die ihnen von Frankfurter Gönnern verehrt wurden, fanden
ſich zuweilen Uhrfederſägen eingebacken. Die halbe Stadt beſchäftigte ſich
mit dem Schickſal der verwegenen Jungen; keine Woche verging, wo man
nicht von einem vergeblichen Fluchtverſuche erzählte. Endlich an einem
nebligen October-Abend gelang es dem Studenten Lizius ſich an einem
Seile aus dem zerfeilten Fenſtergitter herabzulaſſen; die Frankfurter Schild-
wache dicht unter dem Fenſter verließ ihren Poſten, weil einige ſeiner
Freunde mittlerweile eine Rauferei auf der Gaſſe veranſtalteten. So
entkam er glücklich, und jubelnd ſangen die Gaſſenbuben hinter den Se-
natoren her: „O Polizei, wie viel Verdruß macht dir Studioſus Lizius!“

Dies neue Probſtück frankfurtiſcher Kriegstüchtigkeit erfüllte den Bun-
destag mit gerechter Beſorgniß. General Piret war ſchon längſt in Ver-
zweiflung über das ſouveräne Stadtcommando neben ihm, das ihn von
den Ruheſtörungen nicht einmal benachrichtigte. Der Militär-Ausſchuß
des Bundes berieth ſchon ein neues Reglement, und da jetzt Gefahr im
Verzuge ſchien, ſo beſchleunigte er ſeine Arbeiten, ſoweit am Bundestage
Eile möglich war. Am 16. Jan. 1834, dritthalb Monat nach jener ver-
hängnißvollen Flucht, wurden ſeine Vorſchläge der Bundesverſammlung
zur Abſtimmung unterbreitet. Der Ausſchuß beantragte nur was ſich in
jedem anderen Heere von ſelbſt verſtanden hätte: die Frankfurter Linien-
truppen ſollten mit den Oeſterreichern und den Preußen zu einem Sicher-
heitscorps unter Piret’s Führung vereinigt, und im Falle der Noth auch
die Stadtwehr dem commandirenden General untergeordnet werden. Kaum

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[304/0318] IV. 5. Wiederbefeſtigung der alten Gewalten. verwandelt. Bei dem Aufſtande ſelber waren ſie gleichgiltig geblieben; jetzt regte ſich das Mitleid mit den politiſchen Verbrechern, das immer ein Zeichen ungeſunder öffentlicher Zuſtände iſt, und wer konnte auch den unglücklichen Studenten menſchliche Theilnahme verſagen? Ihre Verführer waren entkommen; ſie aber, die von den Hintergedanken der polniſchen Mitverſchwornen wenig oder nichts wußten, büßten in endloſer Unter- ſuchungshaft und lernten jenes aus Härte und Nachläſſigkeit gemiſchte Regierungsſyſtem, das unter der Frankfurter Oligarchie aufgeblüht war, mit allen ſeinen Sünden gründlich kennen. Im Verhöre verfuhren die Richter ſtreng, oft roh; wer hartnäckig leugnete, wurde nach Karl’s V. Hochnothpeinlicher Halsgerichtsordnung, die in Frankfurt noch galt, mit außerordentlichen Strafen belegt. Um ſo gemüthlicher ging es in den Kerkern zu; die meiſten der Gefängnißwärter zeigten eine Weitherzigkeit, die nichts zu wünſchen übrig ließ. Durch die lange Uebung erlangten die jungen Herren eine erſtaunliche Fertigkeit in allen kleinen Künſten des Ge- fangenenlebens. Sie beſprachen ſich unter einander durch Klopfen oder Pfeifen und unterhielten alleſammt einen regelmäßigen Briefwechſel mit der Außenwelt; ſie verſtanden meiſterhaft, aus dem Morgenkaffee die kleinen in die Zuckerſtücke eingebohrten Zettel herauszufiſchen und ihre Erwiderungen in den Pfropfen der geleerten Bierflaſchen fortzuſenden. In den Kuchen und Wecken, die ihnen von Frankfurter Gönnern verehrt wurden, fanden ſich zuweilen Uhrfederſägen eingebacken. Die halbe Stadt beſchäftigte ſich mit dem Schickſal der verwegenen Jungen; keine Woche verging, wo man nicht von einem vergeblichen Fluchtverſuche erzählte. Endlich an einem nebligen October-Abend gelang es dem Studenten Lizius ſich an einem Seile aus dem zerfeilten Fenſtergitter herabzulaſſen; die Frankfurter Schild- wache dicht unter dem Fenſter verließ ihren Poſten, weil einige ſeiner Freunde mittlerweile eine Rauferei auf der Gaſſe veranſtalteten. So entkam er glücklich, und jubelnd ſangen die Gaſſenbuben hinter den Se- natoren her: „O Polizei, wie viel Verdruß macht dir Studioſus Lizius!“ Dies neue Probſtück frankfurtiſcher Kriegstüchtigkeit erfüllte den Bun- destag mit gerechter Beſorgniß. General Piret war ſchon längſt in Ver- zweiflung über das ſouveräne Stadtcommando neben ihm, das ihn von den Ruheſtörungen nicht einmal benachrichtigte. Der Militär-Ausſchuß des Bundes berieth ſchon ein neues Reglement, und da jetzt Gefahr im Verzuge ſchien, ſo beſchleunigte er ſeine Arbeiten, ſoweit am Bundestage Eile möglich war. Am 16. Jan. 1834, dritthalb Monat nach jener ver- hängnißvollen Flucht, wurden ſeine Vorſchläge der Bundesverſammlung zur Abſtimmung unterbreitet. Der Ausſchuß beantragte nur was ſich in jedem anderen Heere von ſelbſt verſtanden hätte: die Frankfurter Linien- truppen ſollten mit den Oeſterreichern und den Preußen zu einem Sicher- heitscorps unter Piret’s Führung vereinigt, und im Falle der Noth auch die Stadtwehr dem commandirenden General untergeordnet werden. Kaum

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/318>, abgerufen am 24.11.2024.