Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Katholiken-Emancipation in England.
an den Augenschein, sie sahen in dem Pariser Straßenkampfe nur die
hochherzige, berechtigte Nothwehr gegen den Verfassungsbruch, und da
der Name: Verfassung zur Zeit überall einen unwiderstehlichen Zauber
auf die Gemüther ausübte, das historische Recht der Dynastien aber von
der herrschenden Doctrin sehr geringschätzig behandelt wurde, so bemerkte
man die schwere Rechtsverletzung kaum und freute sich unbefangen des
Heldenthums der großen Woche. Durch die Herrschaft der französischen
Bourgeoisie erhielt der Kampf, welchen in vielen Nachbarlanden die Mittel-
klassen schon längst gegen die Ueberreste der feudalen Gesellschaftsordnung
führten, eine mächtige Unterstützung; und so geschah es, daß eine Be-
wegung, die in Frankreich selbst fast nur Unheil zeitigte, mittelbar in
anderen Ländern, und nicht zuletzt in Deutschland, einen nothwendigen,
heilsamen Umschwung des politischen Lebens förderte. --

Einen überraschend starken Widerhall fanden die Pariser Ereignisse
in dem Lande, das vordem der ersten französischen Revolution am
zähesten widerstanden hatte. Seit Canning sich von dem Bunde der Ost-
mächte losgesagt, war auch Englands parlamentarisches Leben wieder in
frischeren Zug gekommen: durch Huskisson wurden die harten Zollgesetze
etwas gemildert, Canning selbst näherte sich kurz vor seinem Tode der
erstarkenden Partei der Whigs. Die öffentliche Meinung wendete sich
wieder jenen Reformplänen zu, welche einst Pitt in seinen hoffnungsvollen
ersten Jahren entworfen, aber dann in der Bedrängniß der Kriegszeiten
vertagt hatte. Während der langen Jahre, da die Staaten des Festlands
durch den aufgeklärten Absolutismus oder durch die Revolution neu ge-
staltet wurden, hatte England seine beste Kraft verbraucht für die Begrün-
dung seines Kolonialreichs und seine innere Gesetzgebung fast ganz ins
Stocken gerathen lassen. Jetzt erkannte die Nation endlich, wie viel ver-
säumt war, und so übermächtig drängte sich das Bedürfniß der Neuerung
auf, daß mehrere der kühnsten Reformen der nächsten Jahrzehnte durch
streng conservative Staatsmänner vollzogen wurden. So gleich die erste,
die Emancipation der Katholiken, das Werk Wellington's und Peel's (1829).
Selbst diese Torys fühlten, daß bei längerem Zaudern der Bürgerkrieg,
vielleicht der Abfall des schändlich mißhandelten Irlands drohte, daß der
uralte, soeben durch O'Connell's flammende Reden wieder mächtig ange-
fachte Haß der katholischen Kelten durch eine That der Gerechtigkeit be-
schwichtigt werden mußte.

Die maßvolle Reform holte nur nach was Deutschland schon längst,
die übrigen Staaten des Festlands seit den napoleonischen Tagen er-
reicht hatten. Die Herrschaft der Aristokratie war aber mit den Vor-
rechten der Staatskirche fest verflochten. Wie im zwölften Jahrhundert
der Streit mit der römischen Kirche die Vollgewalt der Normannenkönige
zuerst geschwächt und der reichsständischen Bewegung des folgenden Jahr-
hunderts die Bahn gebrochen hatte, so erschütterte jetzt der erste Stoß

Katholiken-Emancipation in England.
an den Augenſchein, ſie ſahen in dem Pariſer Straßenkampfe nur die
hochherzige, berechtigte Nothwehr gegen den Verfaſſungsbruch, und da
der Name: Verfaſſung zur Zeit überall einen unwiderſtehlichen Zauber
auf die Gemüther ausübte, das hiſtoriſche Recht der Dynaſtien aber von
der herrſchenden Doctrin ſehr geringſchätzig behandelt wurde, ſo bemerkte
man die ſchwere Rechtsverletzung kaum und freute ſich unbefangen des
Heldenthums der großen Woche. Durch die Herrſchaft der franzöſiſchen
Bourgeoiſie erhielt der Kampf, welchen in vielen Nachbarlanden die Mittel-
klaſſen ſchon längſt gegen die Ueberreſte der feudalen Geſellſchaftsordnung
führten, eine mächtige Unterſtützung; und ſo geſchah es, daß eine Be-
wegung, die in Frankreich ſelbſt faſt nur Unheil zeitigte, mittelbar in
anderen Ländern, und nicht zuletzt in Deutſchland, einen nothwendigen,
heilſamen Umſchwung des politiſchen Lebens förderte. —

Einen überraſchend ſtarken Widerhall fanden die Pariſer Ereigniſſe
in dem Lande, das vordem der erſten franzöſiſchen Revolution am
zäheſten widerſtanden hatte. Seit Canning ſich von dem Bunde der Oſt-
mächte losgeſagt, war auch Englands parlamentariſches Leben wieder in
friſcheren Zug gekommen: durch Huskiſſon wurden die harten Zollgeſetze
etwas gemildert, Canning ſelbſt näherte ſich kurz vor ſeinem Tode der
erſtarkenden Partei der Whigs. Die öffentliche Meinung wendete ſich
wieder jenen Reformplänen zu, welche einſt Pitt in ſeinen hoffnungsvollen
erſten Jahren entworfen, aber dann in der Bedrängniß der Kriegszeiten
vertagt hatte. Während der langen Jahre, da die Staaten des Feſtlands
durch den aufgeklärten Abſolutismus oder durch die Revolution neu ge-
ſtaltet wurden, hatte England ſeine beſte Kraft verbraucht für die Begrün-
dung ſeines Kolonialreichs und ſeine innere Geſetzgebung faſt ganz ins
Stocken gerathen laſſen. Jetzt erkannte die Nation endlich, wie viel ver-
ſäumt war, und ſo übermächtig drängte ſich das Bedürfniß der Neuerung
auf, daß mehrere der kühnſten Reformen der nächſten Jahrzehnte durch
ſtreng conſervative Staatsmänner vollzogen wurden. So gleich die erſte,
die Emancipation der Katholiken, das Werk Wellington’s und Peel’s (1829).
Selbſt dieſe Torys fühlten, daß bei längerem Zaudern der Bürgerkrieg,
vielleicht der Abfall des ſchändlich mißhandelten Irlands drohte, daß der
uralte, ſoeben durch O’Connell’s flammende Reden wieder mächtig ange-
fachte Haß der katholiſchen Kelten durch eine That der Gerechtigkeit be-
ſchwichtigt werden mußte.

Die maßvolle Reform holte nur nach was Deutſchland ſchon längſt,
die übrigen Staaten des Feſtlands ſeit den napoleoniſchen Tagen er-
reicht hatten. Die Herrſchaft der Ariſtokratie war aber mit den Vor-
rechten der Staatskirche feſt verflochten. Wie im zwölften Jahrhundert
der Streit mit der römiſchen Kirche die Vollgewalt der Normannenkönige
zuerſt geſchwächt und der reichsſtändiſchen Bewegung des folgenden Jahr-
hunderts die Bahn gebrochen hatte, ſo erſchütterte jetzt der erſte Stoß

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0035" n="21"/><fw place="top" type="header">Katholiken-Emancipation in England.</fw><lb/>
an den Augen&#x017F;chein, &#x017F;ie &#x017F;ahen in dem Pari&#x017F;er Straßenkampfe nur die<lb/>
hochherzige, berechtigte Nothwehr gegen den Verfa&#x017F;&#x017F;ungsbruch, und da<lb/>
der Name: Verfa&#x017F;&#x017F;ung zur Zeit überall einen unwider&#x017F;tehlichen Zauber<lb/>
auf die Gemüther ausübte, das hi&#x017F;tori&#x017F;che Recht der Dyna&#x017F;tien aber von<lb/>
der herr&#x017F;chenden Doctrin &#x017F;ehr gering&#x017F;chätzig behandelt wurde, &#x017F;o bemerkte<lb/>
man die &#x017F;chwere Rechtsverletzung kaum und freute &#x017F;ich unbefangen des<lb/>
Heldenthums der großen Woche. Durch die Herr&#x017F;chaft der franzö&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Bourgeoi&#x017F;ie erhielt der Kampf, welchen in vielen Nachbarlanden die Mittel-<lb/>
kla&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chon läng&#x017F;t gegen die Ueberre&#x017F;te der feudalen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsordnung<lb/>
führten, eine mächtige Unter&#x017F;tützung; und &#x017F;o ge&#x017F;chah es, daß eine Be-<lb/>
wegung, die in Frankreich &#x017F;elb&#x017F;t fa&#x017F;t nur Unheil zeitigte, mittelbar in<lb/>
anderen Ländern, und nicht zuletzt in Deut&#x017F;chland, einen nothwendigen,<lb/>
heil&#x017F;amen Um&#x017F;chwung des politi&#x017F;chen Lebens förderte. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Einen überra&#x017F;chend &#x017F;tarken Widerhall fanden die Pari&#x017F;er Ereigni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
in dem Lande, das vordem der er&#x017F;ten franzö&#x017F;i&#x017F;chen Revolution am<lb/>
zähe&#x017F;ten wider&#x017F;tanden hatte. Seit Canning &#x017F;ich von dem Bunde der O&#x017F;t-<lb/>
mächte losge&#x017F;agt, war auch Englands parlamentari&#x017F;ches Leben wieder in<lb/>
fri&#x017F;cheren Zug gekommen: durch Huski&#x017F;&#x017F;on wurden die harten Zollge&#x017F;etze<lb/>
etwas gemildert, Canning &#x017F;elb&#x017F;t näherte &#x017F;ich kurz vor &#x017F;einem Tode der<lb/>
er&#x017F;tarkenden Partei der Whigs. Die öffentliche Meinung wendete &#x017F;ich<lb/>
wieder jenen Reformplänen zu, welche ein&#x017F;t Pitt in &#x017F;einen hoffnungsvollen<lb/>
er&#x017F;ten Jahren entworfen, aber dann in der Bedrängniß der Kriegszeiten<lb/>
vertagt hatte. Während der langen Jahre, da die Staaten des Fe&#x017F;tlands<lb/>
durch den aufgeklärten Ab&#x017F;olutismus oder durch die Revolution neu ge-<lb/>
&#x017F;taltet wurden, hatte England &#x017F;eine be&#x017F;te Kraft verbraucht für die Begrün-<lb/>
dung &#x017F;eines Kolonialreichs und &#x017F;eine innere Ge&#x017F;etzgebung fa&#x017F;t ganz ins<lb/>
Stocken gerathen la&#x017F;&#x017F;en. Jetzt erkannte die Nation endlich, wie viel ver-<lb/>
&#x017F;äumt war, und &#x017F;o übermächtig drängte &#x017F;ich das Bedürfniß der Neuerung<lb/>
auf, daß mehrere der kühn&#x017F;ten Reformen der näch&#x017F;ten Jahrzehnte durch<lb/>
&#x017F;treng con&#x017F;ervative Staatsmänner vollzogen wurden. So gleich die er&#x017F;te,<lb/>
die Emancipation der Katholiken, das Werk Wellington&#x2019;s und Peel&#x2019;s (1829).<lb/>
Selb&#x017F;t die&#x017F;e Torys fühlten, daß bei längerem Zaudern der Bürgerkrieg,<lb/>
vielleicht der Abfall des &#x017F;chändlich mißhandelten Irlands drohte, daß der<lb/>
uralte, &#x017F;oeben durch O&#x2019;Connell&#x2019;s flammende Reden wieder mächtig ange-<lb/>
fachte Haß der katholi&#x017F;chen Kelten durch eine That der Gerechtigkeit be-<lb/>
&#x017F;chwichtigt werden mußte.</p><lb/>
          <p>Die maßvolle Reform holte nur nach was Deut&#x017F;chland &#x017F;chon läng&#x017F;t,<lb/>
die übrigen Staaten des Fe&#x017F;tlands &#x017F;eit den napoleoni&#x017F;chen Tagen er-<lb/>
reicht hatten. Die Herr&#x017F;chaft der Ari&#x017F;tokratie war aber mit den Vor-<lb/>
rechten der Staatskirche fe&#x017F;t verflochten. Wie im zwölften Jahrhundert<lb/>
der Streit mit der römi&#x017F;chen Kirche die Vollgewalt der Normannenkönige<lb/>
zuer&#x017F;t ge&#x017F;chwächt und der reichs&#x017F;tändi&#x017F;chen Bewegung des folgenden Jahr-<lb/>
hunderts die Bahn gebrochen hatte, &#x017F;o er&#x017F;chütterte jetzt der er&#x017F;te Stoß<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0035] Katholiken-Emancipation in England. an den Augenſchein, ſie ſahen in dem Pariſer Straßenkampfe nur die hochherzige, berechtigte Nothwehr gegen den Verfaſſungsbruch, und da der Name: Verfaſſung zur Zeit überall einen unwiderſtehlichen Zauber auf die Gemüther ausübte, das hiſtoriſche Recht der Dynaſtien aber von der herrſchenden Doctrin ſehr geringſchätzig behandelt wurde, ſo bemerkte man die ſchwere Rechtsverletzung kaum und freute ſich unbefangen des Heldenthums der großen Woche. Durch die Herrſchaft der franzöſiſchen Bourgeoiſie erhielt der Kampf, welchen in vielen Nachbarlanden die Mittel- klaſſen ſchon längſt gegen die Ueberreſte der feudalen Geſellſchaftsordnung führten, eine mächtige Unterſtützung; und ſo geſchah es, daß eine Be- wegung, die in Frankreich ſelbſt faſt nur Unheil zeitigte, mittelbar in anderen Ländern, und nicht zuletzt in Deutſchland, einen nothwendigen, heilſamen Umſchwung des politiſchen Lebens förderte. — Einen überraſchend ſtarken Widerhall fanden die Pariſer Ereigniſſe in dem Lande, das vordem der erſten franzöſiſchen Revolution am zäheſten widerſtanden hatte. Seit Canning ſich von dem Bunde der Oſt- mächte losgeſagt, war auch Englands parlamentariſches Leben wieder in friſcheren Zug gekommen: durch Huskiſſon wurden die harten Zollgeſetze etwas gemildert, Canning ſelbſt näherte ſich kurz vor ſeinem Tode der erſtarkenden Partei der Whigs. Die öffentliche Meinung wendete ſich wieder jenen Reformplänen zu, welche einſt Pitt in ſeinen hoffnungsvollen erſten Jahren entworfen, aber dann in der Bedrängniß der Kriegszeiten vertagt hatte. Während der langen Jahre, da die Staaten des Feſtlands durch den aufgeklärten Abſolutismus oder durch die Revolution neu ge- ſtaltet wurden, hatte England ſeine beſte Kraft verbraucht für die Begrün- dung ſeines Kolonialreichs und ſeine innere Geſetzgebung faſt ganz ins Stocken gerathen laſſen. Jetzt erkannte die Nation endlich, wie viel ver- ſäumt war, und ſo übermächtig drängte ſich das Bedürfniß der Neuerung auf, daß mehrere der kühnſten Reformen der nächſten Jahrzehnte durch ſtreng conſervative Staatsmänner vollzogen wurden. So gleich die erſte, die Emancipation der Katholiken, das Werk Wellington’s und Peel’s (1829). Selbſt dieſe Torys fühlten, daß bei längerem Zaudern der Bürgerkrieg, vielleicht der Abfall des ſchändlich mißhandelten Irlands drohte, daß der uralte, ſoeben durch O’Connell’s flammende Reden wieder mächtig ange- fachte Haß der katholiſchen Kelten durch eine That der Gerechtigkeit be- ſchwichtigt werden mußte. Die maßvolle Reform holte nur nach was Deutſchland ſchon längſt, die übrigen Staaten des Feſtlands ſeit den napoleoniſchen Tagen er- reicht hatten. Die Herrſchaft der Ariſtokratie war aber mit den Vor- rechten der Staatskirche feſt verflochten. Wie im zwölften Jahrhundert der Streit mit der römiſchen Kirche die Vollgewalt der Normannenkönige zuerſt geſchwächt und der reichsſtändiſchen Bewegung des folgenden Jahr- hunderts die Bahn gebrochen hatte, ſo erſchütterte jetzt der erſte Stoß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/35
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/35>, abgerufen am 03.12.2024.