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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Englischer Radicalismus.
jener alten englischen Aufklärungsphilosophie, welche dann von den Fran-
zosen weitergebildet, in den Menschenrechten des Jahres 89 ihre Vollen-
dung gefunden hatte. Während die Radicalen des Festlandes selbstgefällig
wähnten auf der freien Höhe der Zeit zu stehen, erklärte Bentham's be-
gabtester Schüler, der frühreife, ehrlich begeisterte John Stuart Mill mit
der ganzen Aufrichtigkeit altkluger Jugend: dies neunzehnte Jahrhundert
sei im Grunde reaktionär; durch Herder und Goethe, durch die historischen
Rechtslehren der Deutschen sei der freiheitsmörderische Wahn verbreitet
worden, daß die Staatslehre nur relative Wahrheiten finden könne, daß
die Verfassung abhänge von der natürlichen Ungleichheit der Menschen
und dem gegebenen Machtverhältniß der socialen Kräfte. Darum zurück
zu der alten Naturrechtslehre, deren letzte Folgerungen Niemand so un-
erschrocken ausgesprochen hat wie Bentham: der Staat besteht aus Einzel-
wesen, die ihrem Nutzen nachgehen; er hat keinen eigenen Zweck, sondern
dient nur als Mittel um der größten Zahl von Menschen das größte
Wohlsein zu verschaffen; wird er gänzlich demokratisirt, so muß schließlich
die Macht der Arbeit, der Bildung, der freien Rede den künstlichen, nur
durch äußere Umstände bedingten Unterschied zwischen den Personen, den
Rassen, den Geschlechtern völlig vernichten. Solche Träume von der
Allmacht einer demokratischen Gesetzgebung liefen freilich den politischen
Ueberlieferungen der gesammten germanischen Welt schnurstracks zuwider;
die materialistische Weltanschauung aber, die ihnen zu Grunde lag, war
in England noch niemals wissenschaftlich überwunden worden, da diesem
Volke der Baconianer der speculative Tiefsinn fehlte. Ganz unvermittelt
stand hier noch neben dem strengen Kirchenglauben die Moral des platten
Verstandes, der alle sittlichen Güter nach dem Maßstabe der Nützlichkeit
abschätzte; und wie verlockend, wie großartig erschien die Aussicht auf den
unendlichen Fortschritt des materiellen Wohlbefindens, auf das ewige
improvement gerade jetzt, da wirklich eine neue Epoche der Volkswirth-
schaft begann. Eben in diesen Tagen wurde die erste größere Eisenbahn,
zwischen Manchester und Liverpool, eröffnet, wobei einer der Bahnbrecher
der neuen Zeit, Huskisson, seinen tragischen Tod fand. Die Leistungen
der Dampfmaschinen übertrafen jede Erwartung, aber auch das Massen-
elend der Großindustrie bekundete sich schon in stürmischen Arbeitsein-
stellungen.

Das ganze Land gerieth in Bewegung, und aus dem Wahlkampfe
ging die Opposition siegreich hervor. Schon im November trat Wellington,
der diesmal dem Strome nicht folgen wollte, vom Ruder zurück, und
noch ehe das Jahr zu Ende ging, bildete Lord Grey ein neues Cabinet
aus Whigs und einigen Freunden Canning's. Nunmehr brachte der
junge Lord John Russell seine Reformbill ein.

Aber noch ein volles Jahr hindurch tobte in der Presse und den
Vereinen, auf Märkten und Straßen ein leidenschaftlicher Kampf, bis

Engliſcher Radicalismus.
jener alten engliſchen Aufklärungsphiloſophie, welche dann von den Fran-
zoſen weitergebildet, in den Menſchenrechten des Jahres 89 ihre Vollen-
dung gefunden hatte. Während die Radicalen des Feſtlandes ſelbſtgefällig
wähnten auf der freien Höhe der Zeit zu ſtehen, erklärte Bentham’s be-
gabteſter Schüler, der frühreife, ehrlich begeiſterte John Stuart Mill mit
der ganzen Aufrichtigkeit altkluger Jugend: dies neunzehnte Jahrhundert
ſei im Grunde reaktionär; durch Herder und Goethe, durch die hiſtoriſchen
Rechtslehren der Deutſchen ſei der freiheitsmörderiſche Wahn verbreitet
worden, daß die Staatslehre nur relative Wahrheiten finden könne, daß
die Verfaſſung abhänge von der natürlichen Ungleichheit der Menſchen
und dem gegebenen Machtverhältniß der ſocialen Kräfte. Darum zurück
zu der alten Naturrechtslehre, deren letzte Folgerungen Niemand ſo un-
erſchrocken ausgeſprochen hat wie Bentham: der Staat beſteht aus Einzel-
weſen, die ihrem Nutzen nachgehen; er hat keinen eigenen Zweck, ſondern
dient nur als Mittel um der größten Zahl von Menſchen das größte
Wohlſein zu verſchaffen; wird er gänzlich demokratiſirt, ſo muß ſchließlich
die Macht der Arbeit, der Bildung, der freien Rede den künſtlichen, nur
durch äußere Umſtände bedingten Unterſchied zwiſchen den Perſonen, den
Raſſen, den Geſchlechtern völlig vernichten. Solche Träume von der
Allmacht einer demokratiſchen Geſetzgebung liefen freilich den politiſchen
Ueberlieferungen der geſammten germaniſchen Welt ſchnurſtracks zuwider;
die materialiſtiſche Weltanſchauung aber, die ihnen zu Grunde lag, war
in England noch niemals wiſſenſchaftlich überwunden worden, da dieſem
Volke der Baconianer der ſpeculative Tiefſinn fehlte. Ganz unvermittelt
ſtand hier noch neben dem ſtrengen Kirchenglauben die Moral des platten
Verſtandes, der alle ſittlichen Güter nach dem Maßſtabe der Nützlichkeit
abſchätzte; und wie verlockend, wie großartig erſchien die Ausſicht auf den
unendlichen Fortſchritt des materiellen Wohlbefindens, auf das ewige
improvement gerade jetzt, da wirklich eine neue Epoche der Volkswirth-
ſchaft begann. Eben in dieſen Tagen wurde die erſte größere Eiſenbahn,
zwiſchen Mancheſter und Liverpool, eröffnet, wobei einer der Bahnbrecher
der neuen Zeit, Huskiſſon, ſeinen tragiſchen Tod fand. Die Leiſtungen
der Dampfmaſchinen übertrafen jede Erwartung, aber auch das Maſſen-
elend der Großinduſtrie bekundete ſich ſchon in ſtürmiſchen Arbeitsein-
ſtellungen.

Das ganze Land gerieth in Bewegung, und aus dem Wahlkampfe
ging die Oppoſition ſiegreich hervor. Schon im November trat Wellington,
der diesmal dem Strome nicht folgen wollte, vom Ruder zurück, und
noch ehe das Jahr zu Ende ging, bildete Lord Grey ein neues Cabinet
aus Whigs und einigen Freunden Canning’s. Nunmehr brachte der
junge Lord John Ruſſell ſeine Reformbill ein.

Aber noch ein volles Jahr hindurch tobte in der Preſſe und den
Vereinen, auf Märkten und Straßen ein leidenſchaftlicher Kampf, bis

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[23/0037] Engliſcher Radicalismus. jener alten engliſchen Aufklärungsphiloſophie, welche dann von den Fran- zoſen weitergebildet, in den Menſchenrechten des Jahres 89 ihre Vollen- dung gefunden hatte. Während die Radicalen des Feſtlandes ſelbſtgefällig wähnten auf der freien Höhe der Zeit zu ſtehen, erklärte Bentham’s be- gabteſter Schüler, der frühreife, ehrlich begeiſterte John Stuart Mill mit der ganzen Aufrichtigkeit altkluger Jugend: dies neunzehnte Jahrhundert ſei im Grunde reaktionär; durch Herder und Goethe, durch die hiſtoriſchen Rechtslehren der Deutſchen ſei der freiheitsmörderiſche Wahn verbreitet worden, daß die Staatslehre nur relative Wahrheiten finden könne, daß die Verfaſſung abhänge von der natürlichen Ungleichheit der Menſchen und dem gegebenen Machtverhältniß der ſocialen Kräfte. Darum zurück zu der alten Naturrechtslehre, deren letzte Folgerungen Niemand ſo un- erſchrocken ausgeſprochen hat wie Bentham: der Staat beſteht aus Einzel- weſen, die ihrem Nutzen nachgehen; er hat keinen eigenen Zweck, ſondern dient nur als Mittel um der größten Zahl von Menſchen das größte Wohlſein zu verſchaffen; wird er gänzlich demokratiſirt, ſo muß ſchließlich die Macht der Arbeit, der Bildung, der freien Rede den künſtlichen, nur durch äußere Umſtände bedingten Unterſchied zwiſchen den Perſonen, den Raſſen, den Geſchlechtern völlig vernichten. Solche Träume von der Allmacht einer demokratiſchen Geſetzgebung liefen freilich den politiſchen Ueberlieferungen der geſammten germaniſchen Welt ſchnurſtracks zuwider; die materialiſtiſche Weltanſchauung aber, die ihnen zu Grunde lag, war in England noch niemals wiſſenſchaftlich überwunden worden, da dieſem Volke der Baconianer der ſpeculative Tiefſinn fehlte. Ganz unvermittelt ſtand hier noch neben dem ſtrengen Kirchenglauben die Moral des platten Verſtandes, der alle ſittlichen Güter nach dem Maßſtabe der Nützlichkeit abſchätzte; und wie verlockend, wie großartig erſchien die Ausſicht auf den unendlichen Fortſchritt des materiellen Wohlbefindens, auf das ewige improvement gerade jetzt, da wirklich eine neue Epoche der Volkswirth- ſchaft begann. Eben in dieſen Tagen wurde die erſte größere Eiſenbahn, zwiſchen Mancheſter und Liverpool, eröffnet, wobei einer der Bahnbrecher der neuen Zeit, Huskiſſon, ſeinen tragiſchen Tod fand. Die Leiſtungen der Dampfmaſchinen übertrafen jede Erwartung, aber auch das Maſſen- elend der Großinduſtrie bekundete ſich ſchon in ſtürmiſchen Arbeitsein- ſtellungen. Das ganze Land gerieth in Bewegung, und aus dem Wahlkampfe ging die Oppoſition ſiegreich hervor. Schon im November trat Wellington, der diesmal dem Strome nicht folgen wollte, vom Ruder zurück, und noch ehe das Jahr zu Ende ging, bildete Lord Grey ein neues Cabinet aus Whigs und einigen Freunden Canning’s. Nunmehr brachte der junge Lord John Ruſſell ſeine Reformbill ein. Aber noch ein volles Jahr hindurch tobte in der Preſſe und den Vereinen, auf Märkten und Straßen ein leidenſchaftlicher Kampf, bis

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/37>, abgerufen am 21.11.2024.