die tiefe Unwahrheit unserer Verfassung, daß sie den deutschen Staaten erlaubte, die heiligen Formen des Rechts zu mißbrauchen zur Entscheidung der Interessenkämpfe der Politik. Wie einst der Regensburger Reichstag die harten Machtfragen des siebenjährigen Krieges zu lösen suchte durch einen Criminalprozeß gegen den Reichsfriedensbrecher Friedrich, so dachten jetzt Hannover und seine mitteldeutschen Genossen, durch das Urtheil eines Austrägalgerichts nicht sowohl den Vertragsbruch Kurhessens zu sühnen, als vielmehr die werdende Handelseinheit zu hemmen.
Die kurhessische Regierung vertheidigte ohne Geschick ihre unglückliche Sache. Ihr Gesandter erklärte zwar sehr richtig: der mitteldeutsche Handelsverein sei niemals wirklich zu Stande gekommen; auch habe Kur- hessen durch den Anschluß an Preußen offenbar im Sinne des Art. 19 gehandelt, da jetzt freier Verkehr bestehe von der französischen bis zur russischen Grenze. Doch schwächte er selbst das Gewicht dieser Gründe durch sophistische Vorwände. Dann fiel er heftig gegen Hannover aus, er betheuerte: seine Regierung werde niemals ausländische Handelsinteressen im Herzen von Deutschland vertreten -- und erregte also den Zorn der Mehrheit, die sich getroffen fühlte. Nachdrücklich nahm sich Nagler des Hessen an und wies nach, daß Austrägalgerichte nur über Rechtsfragen, nicht über streitige Interessen entscheiden könnten. Dieselbe Ansicht war schon vor zwölf Jahren, während des Köthener Zollkrieges, von Preußen vertheidigt und seitdem, weil sie den lebendigen Mächten der Geschichte entsprach, auf allen deutschen Kathedern von den Doktrinären des Bundes- rechts mit sittlicher Entrüstung gebrandmarkt worden. Außer den beiden Hessen stand nur Baiern tapfer auf Preußens Seite. Während Hannover der Bundestreue des k. k. Präsidialhofes seine Huldigungen darbrachte, ließ König Ludwig in Frankfurt erklären: die preußische Regierung verdiene den Dank des Bundes, weil sie durch ihre Zollverträge an der Erfüllung des Art. 19 ehrlich arbeite.
Nagler wünschte die Entscheidung hinauszuschieben, damit unterdessen die Zollverträge in Berlin zu Stande kämen und die Klage von selbst beseitigt würde. Die österreichische Mehrheit aber stürmte vorwärts, ohne auch nur Instruktionen von daheim abzuwarten; denn die Bundesgesandten fühlten sich durch Preußens selbständiges Auftreten auch in ihrer Amtsehre gekränkt. Drei geschworene Feinde der preußischen Handelspolitik, Oester- reich, Dänemark und Mecklenburg wurden mit der Berichterstattung beauf- tragt. Auf ihren Vorschlag beschloß man sodann, daß Oesterreich, Däne- mark und Baden im Namen des Deutschen Bundes gütlich vermitteln sollten. Der Sühneversuch blieb vergeblich, und sofort, mit einer in Frankfurt unerhörten Eile, ward das Austrägalverfahren eingeleitet. Da Kurhessen sich weigerte, dem Kläger drei "unparteiische" Bundesstaaten zur Auswahl vorzuschlagen, so ging das Vorschlagsrecht von Rechtswegen auf die Bundesversammlung über. Die Mehrheit ließ dem Kläger die
IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
die tiefe Unwahrheit unſerer Verfaſſung, daß ſie den deutſchen Staaten erlaubte, die heiligen Formen des Rechts zu mißbrauchen zur Entſcheidung der Intereſſenkämpfe der Politik. Wie einſt der Regensburger Reichstag die harten Machtfragen des ſiebenjährigen Krieges zu löſen ſuchte durch einen Criminalprozeß gegen den Reichsfriedensbrecher Friedrich, ſo dachten jetzt Hannover und ſeine mitteldeutſchen Genoſſen, durch das Urtheil eines Austrägalgerichts nicht ſowohl den Vertragsbruch Kurheſſens zu ſühnen, als vielmehr die werdende Handelseinheit zu hemmen.
Die kurheſſiſche Regierung vertheidigte ohne Geſchick ihre unglückliche Sache. Ihr Geſandter erklärte zwar ſehr richtig: der mitteldeutſche Handelsverein ſei niemals wirklich zu Stande gekommen; auch habe Kur- heſſen durch den Anſchluß an Preußen offenbar im Sinne des Art. 19 gehandelt, da jetzt freier Verkehr beſtehe von der franzöſiſchen bis zur ruſſiſchen Grenze. Doch ſchwächte er ſelbſt das Gewicht dieſer Gründe durch ſophiſtiſche Vorwände. Dann fiel er heftig gegen Hannover aus, er betheuerte: ſeine Regierung werde niemals ausländiſche Handelsintereſſen im Herzen von Deutſchland vertreten — und erregte alſo den Zorn der Mehrheit, die ſich getroffen fühlte. Nachdrücklich nahm ſich Nagler des Heſſen an und wies nach, daß Austrägalgerichte nur über Rechtsfragen, nicht über ſtreitige Intereſſen entſcheiden könnten. Dieſelbe Anſicht war ſchon vor zwölf Jahren, während des Köthener Zollkrieges, von Preußen vertheidigt und ſeitdem, weil ſie den lebendigen Mächten der Geſchichte entſprach, auf allen deutſchen Kathedern von den Doktrinären des Bundes- rechts mit ſittlicher Entrüſtung gebrandmarkt worden. Außer den beiden Heſſen ſtand nur Baiern tapfer auf Preußens Seite. Während Hannover der Bundestreue des k. k. Präſidialhofes ſeine Huldigungen darbrachte, ließ König Ludwig in Frankfurt erklären: die preußiſche Regierung verdiene den Dank des Bundes, weil ſie durch ihre Zollverträge an der Erfüllung des Art. 19 ehrlich arbeite.
Nagler wünſchte die Entſcheidung hinauszuſchieben, damit unterdeſſen die Zollverträge in Berlin zu Stande kämen und die Klage von ſelbſt beſeitigt würde. Die öſterreichiſche Mehrheit aber ſtürmte vorwärts, ohne auch nur Inſtruktionen von daheim abzuwarten; denn die Bundesgeſandten fühlten ſich durch Preußens ſelbſtändiges Auftreten auch in ihrer Amtsehre gekränkt. Drei geſchworene Feinde der preußiſchen Handelspolitik, Oeſter- reich, Dänemark und Mecklenburg wurden mit der Berichterſtattung beauf- tragt. Auf ihren Vorſchlag beſchloß man ſodann, daß Oeſterreich, Däne- mark und Baden im Namen des Deutſchen Bundes gütlich vermitteln ſollten. Der Sühneverſuch blieb vergeblich, und ſofort, mit einer in Frankfurt unerhörten Eile, ward das Austrägalverfahren eingeleitet. Da Kurheſſen ſich weigerte, dem Kläger drei „unparteiiſche“ Bundesſtaaten zur Auswahl vorzuſchlagen, ſo ging das Vorſchlagsrecht von Rechtswegen auf die Bundesverſammlung über. Die Mehrheit ließ dem Kläger die
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IV. 6. Der Deutſche Zollverein.
die tiefe Unwahrheit unſerer Verfaſſung, daß ſie den deutſchen Staaten
erlaubte, die heiligen Formen des Rechts zu mißbrauchen zur Entſcheidung
der Intereſſenkämpfe der Politik. Wie einſt der Regensburger Reichstag
die harten Machtfragen des ſiebenjährigen Krieges zu löſen ſuchte durch
einen Criminalprozeß gegen den Reichsfriedensbrecher Friedrich, ſo dachten
jetzt Hannover und ſeine mitteldeutſchen Genoſſen, durch das Urtheil eines
Austrägalgerichts nicht ſowohl den Vertragsbruch Kurheſſens zu ſühnen,
als vielmehr die werdende Handelseinheit zu hemmen.
Die kurheſſiſche Regierung vertheidigte ohne Geſchick ihre unglückliche
Sache. Ihr Geſandter erklärte zwar ſehr richtig: der mitteldeutſche
Handelsverein ſei niemals wirklich zu Stande gekommen; auch habe Kur-
heſſen durch den Anſchluß an Preußen offenbar im Sinne des Art. 19
gehandelt, da jetzt freier Verkehr beſtehe von der franzöſiſchen bis zur
ruſſiſchen Grenze. Doch ſchwächte er ſelbſt das Gewicht dieſer Gründe
durch ſophiſtiſche Vorwände. Dann fiel er heftig gegen Hannover aus,
er betheuerte: ſeine Regierung werde niemals ausländiſche Handelsintereſſen
im Herzen von Deutſchland vertreten — und erregte alſo den Zorn der
Mehrheit, die ſich getroffen fühlte. Nachdrücklich nahm ſich Nagler des
Heſſen an und wies nach, daß Austrägalgerichte nur über Rechtsfragen,
nicht über ſtreitige Intereſſen entſcheiden könnten. Dieſelbe Anſicht war
ſchon vor zwölf Jahren, während des Köthener Zollkrieges, von Preußen
vertheidigt und ſeitdem, weil ſie den lebendigen Mächten der Geſchichte
entſprach, auf allen deutſchen Kathedern von den Doktrinären des Bundes-
rechts mit ſittlicher Entrüſtung gebrandmarkt worden. Außer den beiden
Heſſen ſtand nur Baiern tapfer auf Preußens Seite. Während Hannover
der Bundestreue des k. k. Präſidialhofes ſeine Huldigungen darbrachte, ließ
König Ludwig in Frankfurt erklären: die preußiſche Regierung verdiene den
Dank des Bundes, weil ſie durch ihre Zollverträge an der Erfüllung des
Art. 19 ehrlich arbeite.
Nagler wünſchte die Entſcheidung hinauszuſchieben, damit unterdeſſen
die Zollverträge in Berlin zu Stande kämen und die Klage von ſelbſt
beſeitigt würde. Die öſterreichiſche Mehrheit aber ſtürmte vorwärts, ohne
auch nur Inſtruktionen von daheim abzuwarten; denn die Bundesgeſandten
fühlten ſich durch Preußens ſelbſtändiges Auftreten auch in ihrer Amtsehre
gekränkt. Drei geſchworene Feinde der preußiſchen Handelspolitik, Oeſter-
reich, Dänemark und Mecklenburg wurden mit der Berichterſtattung beauf-
tragt. Auf ihren Vorſchlag beſchloß man ſodann, daß Oeſterreich, Däne-
mark und Baden im Namen des Deutſchen Bundes gütlich vermitteln
ſollten. Der Sühneverſuch blieb vergeblich, und ſofort, mit einer in
Frankfurt unerhörten Eile, ward das Austrägalverfahren eingeleitet. Da
Kurheſſen ſich weigerte, dem Kläger drei „unparteiiſche“ Bundesſtaaten
zur Auswahl vorzuſchlagen, ſo ging das Vorſchlagsrecht von Rechtswegen
auf die Bundesverſammlung über. Die Mehrheit ließ dem Kläger die
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/402>, abgerufen am 24.11.2024.
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