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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 7. Das Junge Deutschland.
werthen Mittelmäßigkeiten, die durch glänzend bestandene Examina zu un-
berechtigtem Ehrgeiz verleitet werden; er übernahm sich in künstlerischen
Plänen, denen seine Kraft nicht gewachsen war. Seine stolze junge Frau
theilte diese unfruchtbaren Qualen einige Jahre hindurch; dann ward ihr
klar, daß der Mann ihrer Wahl ihren Idealen nicht entsprach, und sie
vermochte die Enttäuschung nicht zu überleben. Um den Geliebten zu
schonen und vielleicht auch weil sie selbst in krankhafter Selbsttäuschung be-
fangen war, verhüllte sie dann die weiblichen Beweggründe ihres Ent-
schlusses mit starkgeistigen Worten. Gleich den meisten Selbstmorden war
auch dieser der Schwäche, dem Kleinmuth entsprungen. Aber unmöglich
konnte eine so einfache Erklärung dieser nach nervöser Aufregung lechzen-
den Zeit genügen. Ganz Berlin betrachtete Charlotte Stieglitz als eine
Heldin und fand in ihrer That, die doch nur menschliches Mitleid ver-
diente, die Offenbarung eines bisher unerhörten geistigen Opfermuthes,
ein literarisches Märtyrerthum, das der Duldergröße der kirchlichen Heiligen
gleich komme. Selbst Rauch und andere ernste Männer ließen sich von
der allgemeinen Bewunderung hinreißen; Böckh feierte in griechischen
Distichen die neue Alkeste, "die zum Heil des Gemahls freiwillig zum
Hades hinabstieg." Theodor Mundt aber, der Freund des Hauses, säumte
nicht, das gräßliche Ereigniß geschäftlich auszubeuten; er setzte der Todten
sofort ein biographisches Denkmal, riß mit roher Hand alle Schleier hin-
weg von den stillen Schmerzen dieser tief unseligen Ehe. Dann reiste
gar noch der Wittwer selbst mit dem Dolche seiner Gattin durch Deutsch-
land und prahlte mit seiner eigenen Schande. In seinen nachgelassenen
Erinnerungen an Charlotte sagte er: "Ihre letzten Zeilen sind fortan mein
Diplom, meine höhere Promotion." Tiefe Gedanken konnte das Leid in
diesem Schwächling nicht wachrufen; er ist nach Jahren in Italien als
ein Reisebeschreiber gewöhnlichen Schlages gestorben. Nicht die verzwei-
felte That selbst, wohl aber der Widerhall den sie weckte, war ein trau-
riges Zeichen der Zeit, ein Zeichen verschrobener und durch Ueberbildung
unzarter Empfindungen.

Durch Charlotte's Tod wurde Gutzkow zu seinem Romane Wally
angeregt. Mit diesem Werke -- so ließ sich der Chor der jungdeutschen
Kritik alsbald vernehmen -- wagten die neuen Stürmer und Dränger
ihren kühnsten Wurf, wie einst die alten mit Heinse's Ardinghello. Aber
welch ein beschämender Abstand! Bei Heinse die nackte, unverfälschte
Natur, lodernde Sinnlichkeit, leibhaftige Gestalten und eine Kunst lieb-
licher Erzählung, die den Leser über den frevelhaften Inhalt leicht hin-
wegtäuschte; dazu in den eingewobenen Kunstbetrachtungen manche gute
Gedanken, würdig einer Zeit, welche an die Schönheit noch begeistert glaubte.
Bei Gutzkow nur ein Wust von Reflexionen, unreife, altkluge Redereien
über die Rechte des Fleisches, die Unnatur der Ehe, die Thorheit des
Christenthums; dazwischen hinein ein lendenlahmer, gelangweilter Held

IV. 7. Das Junge Deutſchland.
werthen Mittelmäßigkeiten, die durch glänzend beſtandene Examina zu un-
berechtigtem Ehrgeiz verleitet werden; er übernahm ſich in künſtleriſchen
Plänen, denen ſeine Kraft nicht gewachſen war. Seine ſtolze junge Frau
theilte dieſe unfruchtbaren Qualen einige Jahre hindurch; dann ward ihr
klar, daß der Mann ihrer Wahl ihren Idealen nicht entſprach, und ſie
vermochte die Enttäuſchung nicht zu überleben. Um den Geliebten zu
ſchonen und vielleicht auch weil ſie ſelbſt in krankhafter Selbſttäuſchung be-
fangen war, verhüllte ſie dann die weiblichen Beweggründe ihres Ent-
ſchluſſes mit ſtarkgeiſtigen Worten. Gleich den meiſten Selbſtmorden war
auch dieſer der Schwäche, dem Kleinmuth entſprungen. Aber unmöglich
konnte eine ſo einfache Erklärung dieſer nach nervöſer Aufregung lechzen-
den Zeit genügen. Ganz Berlin betrachtete Charlotte Stieglitz als eine
Heldin und fand in ihrer That, die doch nur menſchliches Mitleid ver-
diente, die Offenbarung eines bisher unerhörten geiſtigen Opfermuthes,
ein literariſches Märtyrerthum, das der Duldergröße der kirchlichen Heiligen
gleich komme. Selbſt Rauch und andere ernſte Männer ließen ſich von
der allgemeinen Bewunderung hinreißen; Böckh feierte in griechiſchen
Diſtichen die neue Alkeſte, „die zum Heil des Gemahls freiwillig zum
Hades hinabſtieg.“ Theodor Mundt aber, der Freund des Hauſes, ſäumte
nicht, das gräßliche Ereigniß geſchäftlich auszubeuten; er ſetzte der Todten
ſofort ein biographiſches Denkmal, riß mit roher Hand alle Schleier hin-
weg von den ſtillen Schmerzen dieſer tief unſeligen Ehe. Dann reiſte
gar noch der Wittwer ſelbſt mit dem Dolche ſeiner Gattin durch Deutſch-
land und prahlte mit ſeiner eigenen Schande. In ſeinen nachgelaſſenen
Erinnerungen an Charlotte ſagte er: „Ihre letzten Zeilen ſind fortan mein
Diplom, meine höhere Promotion.“ Tiefe Gedanken konnte das Leid in
dieſem Schwächling nicht wachrufen; er iſt nach Jahren in Italien als
ein Reiſebeſchreiber gewöhnlichen Schlages geſtorben. Nicht die verzwei-
felte That ſelbſt, wohl aber der Widerhall den ſie weckte, war ein trau-
riges Zeichen der Zeit, ein Zeichen verſchrobener und durch Ueberbildung
unzarter Empfindungen.

Durch Charlotte’s Tod wurde Gutzkow zu ſeinem Romane Wally
angeregt. Mit dieſem Werke — ſo ließ ſich der Chor der jungdeutſchen
Kritik alsbald vernehmen — wagten die neuen Stürmer und Dränger
ihren kühnſten Wurf, wie einſt die alten mit Heinſe’s Ardinghello. Aber
welch ein beſchämender Abſtand! Bei Heinſe die nackte, unverfälſchte
Natur, lodernde Sinnlichkeit, leibhaftige Geſtalten und eine Kunſt lieb-
licher Erzählung, die den Leſer über den frevelhaften Inhalt leicht hin-
wegtäuſchte; dazu in den eingewobenen Kunſtbetrachtungen manche gute
Gedanken, würdig einer Zeit, welche an die Schönheit noch begeiſtert glaubte.
Bei Gutzkow nur ein Wuſt von Reflexionen, unreife, altkluge Redereien
über die Rechte des Fleiſches, die Unnatur der Ehe, die Thorheit des
Chriſtenthums; dazwiſchen hinein ein lendenlahmer, gelangweilter Held

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[436/0450] IV. 7. Das Junge Deutſchland. werthen Mittelmäßigkeiten, die durch glänzend beſtandene Examina zu un- berechtigtem Ehrgeiz verleitet werden; er übernahm ſich in künſtleriſchen Plänen, denen ſeine Kraft nicht gewachſen war. Seine ſtolze junge Frau theilte dieſe unfruchtbaren Qualen einige Jahre hindurch; dann ward ihr klar, daß der Mann ihrer Wahl ihren Idealen nicht entſprach, und ſie vermochte die Enttäuſchung nicht zu überleben. Um den Geliebten zu ſchonen und vielleicht auch weil ſie ſelbſt in krankhafter Selbſttäuſchung be- fangen war, verhüllte ſie dann die weiblichen Beweggründe ihres Ent- ſchluſſes mit ſtarkgeiſtigen Worten. Gleich den meiſten Selbſtmorden war auch dieſer der Schwäche, dem Kleinmuth entſprungen. Aber unmöglich konnte eine ſo einfache Erklärung dieſer nach nervöſer Aufregung lechzen- den Zeit genügen. Ganz Berlin betrachtete Charlotte Stieglitz als eine Heldin und fand in ihrer That, die doch nur menſchliches Mitleid ver- diente, die Offenbarung eines bisher unerhörten geiſtigen Opfermuthes, ein literariſches Märtyrerthum, das der Duldergröße der kirchlichen Heiligen gleich komme. Selbſt Rauch und andere ernſte Männer ließen ſich von der allgemeinen Bewunderung hinreißen; Böckh feierte in griechiſchen Diſtichen die neue Alkeſte, „die zum Heil des Gemahls freiwillig zum Hades hinabſtieg.“ Theodor Mundt aber, der Freund des Hauſes, ſäumte nicht, das gräßliche Ereigniß geſchäftlich auszubeuten; er ſetzte der Todten ſofort ein biographiſches Denkmal, riß mit roher Hand alle Schleier hin- weg von den ſtillen Schmerzen dieſer tief unſeligen Ehe. Dann reiſte gar noch der Wittwer ſelbſt mit dem Dolche ſeiner Gattin durch Deutſch- land und prahlte mit ſeiner eigenen Schande. In ſeinen nachgelaſſenen Erinnerungen an Charlotte ſagte er: „Ihre letzten Zeilen ſind fortan mein Diplom, meine höhere Promotion.“ Tiefe Gedanken konnte das Leid in dieſem Schwächling nicht wachrufen; er iſt nach Jahren in Italien als ein Reiſebeſchreiber gewöhnlichen Schlages geſtorben. Nicht die verzwei- felte That ſelbſt, wohl aber der Widerhall den ſie weckte, war ein trau- riges Zeichen der Zeit, ein Zeichen verſchrobener und durch Ueberbildung unzarter Empfindungen. Durch Charlotte’s Tod wurde Gutzkow zu ſeinem Romane Wally angeregt. Mit dieſem Werke — ſo ließ ſich der Chor der jungdeutſchen Kritik alsbald vernehmen — wagten die neuen Stürmer und Dränger ihren kühnſten Wurf, wie einſt die alten mit Heinſe’s Ardinghello. Aber welch ein beſchämender Abſtand! Bei Heinſe die nackte, unverfälſchte Natur, lodernde Sinnlichkeit, leibhaftige Geſtalten und eine Kunſt lieb- licher Erzählung, die den Leſer über den frevelhaften Inhalt leicht hin- wegtäuſchte; dazu in den eingewobenen Kunſtbetrachtungen manche gute Gedanken, würdig einer Zeit, welche an die Schönheit noch begeiſtert glaubte. Bei Gutzkow nur ein Wuſt von Reflexionen, unreife, altkluge Redereien über die Rechte des Fleiſches, die Unnatur der Ehe, die Thorheit des Chriſtenthums; dazwiſchen hinein ein lendenlahmer, gelangweilter Held

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/450>, abgerufen am 24.11.2024.