Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.Mörike. Anastasius Grün. einen Orden vertrauter Genossen in einem stillen Weinbergshäuschen aufdem Oesterberge und erzählte wundersame Mären von Orplid, der ver- lassenen Stadt der Götter. Dann lebte er als Pfarrer in einem Dorfe des Unterlandes, wo Schiller's Mutter auf dem Kirchhofe begraben lag, mitten in den Rebgärten des Neckarthals, so recht in der Heimath schwä- bischer Sage und Sangeslust; und wenn er dort über seinen geliebten Alten saß oder träumend im Walde wanderte und die Vögel aus ihren Kehlen "richtige Gold- und Silberfäden zogen", dann fühlte er -- nicht oft, aber immer mit der ganzen Macht unmittelbarer Eingebung -- wie der Genius in ihm jauchzte, dann wußte er was es heiße "Gott selbst zu eigen haben auf der Erde". Ihm selber galt der Spruch, den er einst auf eine vergessene kunstvolle Marmorlampe schrieb: Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst. Jedem seiner Leser blieb als letzter Eindruck das Gefühl, wie glücklich Der Adler strebt hinaus ins Grenzenlose, Sein Auge trinkt sich voll von sprüh'ndem Golde; Er ist der Thor nicht, daß er fragen sollte, Ob sich sein Haupt nicht an die Wölbung stoße. Durch die Wärme der Stimmung, die Ursprünglichkeit des Ausdrucks, Ungleich stärkeren Widerhall erweckten die Spaziergänge eines Wiener Mörike. Anaſtaſius Grün. einen Orden vertrauter Genoſſen in einem ſtillen Weinbergshäuschen aufdem Oeſterberge und erzählte wunderſame Mären von Orplid, der ver- laſſenen Stadt der Götter. Dann lebte er als Pfarrer in einem Dorfe des Unterlandes, wo Schiller’s Mutter auf dem Kirchhofe begraben lag, mitten in den Rebgärten des Neckarthals, ſo recht in der Heimath ſchwä- biſcher Sage und Sangesluſt; und wenn er dort über ſeinen geliebten Alten ſaß oder träumend im Walde wanderte und die Vögel aus ihren Kehlen „richtige Gold- und Silberfäden zogen“, dann fühlte er — nicht oft, aber immer mit der ganzen Macht unmittelbarer Eingebung — wie der Genius in ihm jauchzte, dann wußte er was es heiße „Gott ſelbſt zu eigen haben auf der Erde“. Ihm ſelber galt der Spruch, den er einſt auf eine vergeſſene kunſtvolle Marmorlampe ſchrieb: Was aber ſchön iſt, ſelig ſcheint es in ihm ſelbſt. Jedem ſeiner Leſer blieb als letzter Eindruck das Gefühl, wie glücklich Der Adler ſtrebt hinaus ins Grenzenloſe, Sein Auge trinkt ſich voll von ſprüh’ndem Golde; Er iſt der Thor nicht, daß er fragen ſollte, Ob ſich ſein Haupt nicht an die Wölbung ſtoße. Durch die Wärme der Stimmung, die Urſprünglichkeit des Ausdrucks, Ungleich ſtärkeren Widerhall erweckten die Spaziergänge eines Wiener <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0459" n="445"/><fw place="top" type="header">Mörike. Anaſtaſius Grün.</fw><lb/> einen Orden vertrauter Genoſſen in einem ſtillen Weinbergshäuschen auf<lb/> dem Oeſterberge und erzählte wunderſame Mären von Orplid, der ver-<lb/> laſſenen Stadt der Götter. Dann lebte er als Pfarrer in einem Dorfe<lb/> des Unterlandes, wo Schiller’s Mutter auf dem Kirchhofe begraben lag,<lb/> mitten in den Rebgärten des Neckarthals, ſo recht in der Heimath ſchwä-<lb/> biſcher Sage und Sangesluſt; und wenn er dort über ſeinen geliebten<lb/> Alten ſaß oder träumend im Walde wanderte und die Vögel aus ihren<lb/> Kehlen „richtige Gold- und Silberfäden zogen“, dann fühlte er — nicht<lb/> oft, aber immer mit der ganzen Macht unmittelbarer Eingebung — wie<lb/> der Genius in ihm jauchzte, dann wußte er was es heiße „Gott ſelbſt zu<lb/> eigen haben auf der Erde“. Ihm ſelber galt der Spruch, den er einſt<lb/> auf eine vergeſſene kunſtvolle Marmorlampe ſchrieb:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>Was aber ſchön iſt, ſelig ſcheint es in ihm ſelbſt.</l> </lg><lb/> <p>Jedem ſeiner Leſer blieb als letzter Eindruck das Gefühl, wie glücklich<lb/> der Mann war, der alſo dichten konnte. In die Welt der Geſchichte wagte<lb/> er ſich nicht hinaus, ſelbſt politiſche Geſpräche waren ihm unheimlich. Nur<lb/> den einfachſten Empfindungen des Menſchenherzens galten ſeine Lieder<lb/> und Balladen, Idyllen und Sprüche; aber wie neu und eigenthümlich er-<lb/> klangen aus ſeinem Munde die tauſendmal beſungenen Geſchichten vom<lb/> verlaſſenen Mägdlein, von dem Knaben, der ſchön Rohtraut’s Mund ge-<lb/> küßt, von den entſchwundenen Freuden der Roſenzeit. Er gebot über die<lb/> ſangbaren Weiſen des deutſchen Volksliedes und vermochte doch, wie die<lb/> Idyllendichter der Hellenen, mit epiſcher Ruhe feſt umriſſene Geſtalten zu<lb/> zeichnen. Die geheimnißvoll lockende Sprache der Elemente war ihm ſo<lb/> vertraut wie nur dem jungen Goethe, dem Dichter des „Fiſchers“, und<lb/> faſt ebenſo vertraut die unendliche Sehnſucht der Alles hoffenden Jugend:</p><lb/> <lg type="poem"> <l>Der Adler ſtrebt hinaus ins Grenzenloſe,</l><lb/> <l>Sein Auge trinkt ſich voll von ſprüh’ndem Golde;</l><lb/> <l>Er iſt der Thor nicht, daß er fragen ſollte,</l><lb/> <l>Ob ſich ſein Haupt nicht an die Wölbung ſtoße.</l> </lg><lb/> <p>Durch die Wärme der Stimmung, die Urſprünglichkeit des Ausdrucks,<lb/> durch die heitere Freiheit ſeines ſchalkhaften Humors übertraf er zuweilen<lb/> ſelbſt Uhland. Als Künſtler blieb er hinter dem Alten zurück, denn ſeine<lb/> Muſe war ein Kind der Stunde; den Stoff zu runden und wirkſam ab-<lb/> zuſchließen, gelang ihr nicht immer. Darum konnten doch nur einzelne<lb/> ſeiner Lieder weit ins Volk hinaus dringen; die ſinnige Schönheit ſeiner<lb/> Dichtung war zu ſtill, zu eigenartig um von der Maſſe, die immer zuerſt<lb/> nach ſtofflichem Reize begehrt, verſtanden zu werden, ſie blieb immer nur<lb/> der Liebling eines andächtigen Kreiſes feinfühlender Kenner.</p><lb/> <p>Ungleich ſtärkeren Widerhall erweckten die Spaziergänge eines Wiener<lb/> Poeten, die ein Sohn des öſterreichiſchen hohen Adels, der junge Graf<lb/> A. A. Auersperg im Jahre nach der Julirevolution erſcheinen ließ. Seit<lb/> den Befreiungskriegen und dem Wartburgsfeſte hatte ſich unſere politiſche<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [445/0459]
Mörike. Anaſtaſius Grün.
einen Orden vertrauter Genoſſen in einem ſtillen Weinbergshäuschen auf
dem Oeſterberge und erzählte wunderſame Mären von Orplid, der ver-
laſſenen Stadt der Götter. Dann lebte er als Pfarrer in einem Dorfe
des Unterlandes, wo Schiller’s Mutter auf dem Kirchhofe begraben lag,
mitten in den Rebgärten des Neckarthals, ſo recht in der Heimath ſchwä-
biſcher Sage und Sangesluſt; und wenn er dort über ſeinen geliebten
Alten ſaß oder träumend im Walde wanderte und die Vögel aus ihren
Kehlen „richtige Gold- und Silberfäden zogen“, dann fühlte er — nicht
oft, aber immer mit der ganzen Macht unmittelbarer Eingebung — wie
der Genius in ihm jauchzte, dann wußte er was es heiße „Gott ſelbſt zu
eigen haben auf der Erde“. Ihm ſelber galt der Spruch, den er einſt
auf eine vergeſſene kunſtvolle Marmorlampe ſchrieb:
Was aber ſchön iſt, ſelig ſcheint es in ihm ſelbſt.
Jedem ſeiner Leſer blieb als letzter Eindruck das Gefühl, wie glücklich
der Mann war, der alſo dichten konnte. In die Welt der Geſchichte wagte
er ſich nicht hinaus, ſelbſt politiſche Geſpräche waren ihm unheimlich. Nur
den einfachſten Empfindungen des Menſchenherzens galten ſeine Lieder
und Balladen, Idyllen und Sprüche; aber wie neu und eigenthümlich er-
klangen aus ſeinem Munde die tauſendmal beſungenen Geſchichten vom
verlaſſenen Mägdlein, von dem Knaben, der ſchön Rohtraut’s Mund ge-
küßt, von den entſchwundenen Freuden der Roſenzeit. Er gebot über die
ſangbaren Weiſen des deutſchen Volksliedes und vermochte doch, wie die
Idyllendichter der Hellenen, mit epiſcher Ruhe feſt umriſſene Geſtalten zu
zeichnen. Die geheimnißvoll lockende Sprache der Elemente war ihm ſo
vertraut wie nur dem jungen Goethe, dem Dichter des „Fiſchers“, und
faſt ebenſo vertraut die unendliche Sehnſucht der Alles hoffenden Jugend:
Der Adler ſtrebt hinaus ins Grenzenloſe,
Sein Auge trinkt ſich voll von ſprüh’ndem Golde;
Er iſt der Thor nicht, daß er fragen ſollte,
Ob ſich ſein Haupt nicht an die Wölbung ſtoße.
Durch die Wärme der Stimmung, die Urſprünglichkeit des Ausdrucks,
durch die heitere Freiheit ſeines ſchalkhaften Humors übertraf er zuweilen
ſelbſt Uhland. Als Künſtler blieb er hinter dem Alten zurück, denn ſeine
Muſe war ein Kind der Stunde; den Stoff zu runden und wirkſam ab-
zuſchließen, gelang ihr nicht immer. Darum konnten doch nur einzelne
ſeiner Lieder weit ins Volk hinaus dringen; die ſinnige Schönheit ſeiner
Dichtung war zu ſtill, zu eigenartig um von der Maſſe, die immer zuerſt
nach ſtofflichem Reize begehrt, verſtanden zu werden, ſie blieb immer nur
der Liebling eines andächtigen Kreiſes feinfühlender Kenner.
Ungleich ſtärkeren Widerhall erweckten die Spaziergänge eines Wiener
Poeten, die ein Sohn des öſterreichiſchen hohen Adels, der junge Graf
A. A. Auersperg im Jahre nach der Julirevolution erſcheinen ließ. Seit
den Befreiungskriegen und dem Wartburgsfeſte hatte ſich unſere politiſche
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |