Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.Hurter. Grimm's Mythologie. gestellten evangelischen Geistlichen kam. Ein Ruf des Beifalls und derSchadenfreude scholl durch das ultramontane Lager; Möhler in Tübingen brachte das Buch sogleich in den Hörsaal um seinen geistlichen Hörern zu erklären, was wahre Geschichtschreibung sei. Die Evangelischen aber zeig- ten anfangs ihrem abtrünnigen Glaubensgenossen jene haltlose Nachsicht, welche jederzeit die natürliche Schwäche protestantischer Geistesfreiheit ge- blieben ist. Bei mehreren katholischen Buchhändlern hatte Hurter ver- geblich angeklopft, sie alle hatten sich gescheut, die aufklärungsstolze Leser- welt vor den Kopf zu stoßen; der ehrliche Protestant Perthes dagegen ver- legte das Buch so unbedenklich, wie er einst Stolberg's Religionsgeschichte verlegt hatte, er hoffte noch harmlos auf eine Verständigung der beiden Schwesterkirchen. Dann feierte Leo den Gegner der Ghibellinen in den Berliner Jahrbüchern. Hurter's streng-reformirte Landsleute in Schaff- hausen erwählten ihn, nachdem der erste Band (1834) erschienen war, zum Antistes, zum ersten Geistlichen des Cantons, und die Baseler evan- gelische Facultät, der Männer wie de Wette und Hagenbach angehörten, ernannte ihn sogar zum Ehrendoctor "wegen der bewiesenen reichen Kennt- niß der Kirchengeschichte". Wenn Hurter von dem Geiste der evangelischen Gemeindekirche etwas ahnte, so durfte er als ehrlicher Mann keine Stunde mehr einen Glauben predigen, dessen Grundwahrheiten er rundweg ab- leugnete. Sogar Haller beschwor den Freund, offen mit der Ketzerei zu brechen, weil seine Stellung unhaltbar werde; der alte Herr mochte jetzt wohl mit Scham der Zeiten gedenken, da er einst selbst seinen Uebertritt feige geheim gehalten hatte.*) Der Schaffhausener Antistes aber lebte ganz in den Anschauungen jener alten schweizer Herrengeschlechter, die vor- mals als Landvögte in den Vogteien der Eidgenossenschaft gehaust hatten, und übertrug diese Herrschaftsgedanken kurzab in die Kirche; er wähnte ein Priester zu sein und mithin befugt zur Ausübung seiner hierarchischen Gewalt, gleichviel was die verirrte Heerde denke. Plump, unbelehrbar, stierköpfig wie die meisten schweizer Reactionäre, blieb er in seinem evan- gelischen Amte und schrieb zugleich an seinem Werke weiter, das mit jedem neuen Bande fanatischer wurde. Er trat in Verbindung mit dem Papste, mit Nuntien und Bischöfen, mit allen Führern der clericalen Partei in Süddeutschland, und trieb ungescheut ultramontane Politik, bis nach Jahren endlich im protestantischen Volke der Unwille erwachte über ein Treiben, das nur noch eine freche Lüge war. -- Während die namhaften politischen Historiker erst auf Umwegen, aus *) S. o. II. 96.
Hurter. Grimm’s Mythologie. geſtellten evangeliſchen Geiſtlichen kam. Ein Ruf des Beifalls und derSchadenfreude ſcholl durch das ultramontane Lager; Möhler in Tübingen brachte das Buch ſogleich in den Hörſaal um ſeinen geiſtlichen Hörern zu erklären, was wahre Geſchichtſchreibung ſei. Die Evangeliſchen aber zeig- ten anfangs ihrem abtrünnigen Glaubensgenoſſen jene haltloſe Nachſicht, welche jederzeit die natürliche Schwäche proteſtantiſcher Geiſtesfreiheit ge- blieben iſt. Bei mehreren katholiſchen Buchhändlern hatte Hurter ver- geblich angeklopft, ſie alle hatten ſich geſcheut, die aufklärungsſtolze Leſer- welt vor den Kopf zu ſtoßen; der ehrliche Proteſtant Perthes dagegen ver- legte das Buch ſo unbedenklich, wie er einſt Stolberg’s Religionsgeſchichte verlegt hatte, er hoffte noch harmlos auf eine Verſtändigung der beiden Schweſterkirchen. Dann feierte Leo den Gegner der Ghibellinen in den Berliner Jahrbüchern. Hurter’s ſtreng-reformirte Landsleute in Schaff- hauſen erwählten ihn, nachdem der erſte Band (1834) erſchienen war, zum Antiſtes, zum erſten Geiſtlichen des Cantons, und die Baſeler evan- geliſche Facultät, der Männer wie de Wette und Hagenbach angehörten, ernannte ihn ſogar zum Ehrendoctor „wegen der bewieſenen reichen Kennt- niß der Kirchengeſchichte“. Wenn Hurter von dem Geiſte der evangeliſchen Gemeindekirche etwas ahnte, ſo durfte er als ehrlicher Mann keine Stunde mehr einen Glauben predigen, deſſen Grundwahrheiten er rundweg ab- leugnete. Sogar Haller beſchwor den Freund, offen mit der Ketzerei zu brechen, weil ſeine Stellung unhaltbar werde; der alte Herr mochte jetzt wohl mit Scham der Zeiten gedenken, da er einſt ſelbſt ſeinen Uebertritt feige geheim gehalten hatte.*) Der Schaffhauſener Antiſtes aber lebte ganz in den Anſchauungen jener alten ſchweizer Herrengeſchlechter, die vor- mals als Landvögte in den Vogteien der Eidgenoſſenſchaft gehauſt hatten, und übertrug dieſe Herrſchaftsgedanken kurzab in die Kirche; er wähnte ein Prieſter zu ſein und mithin befugt zur Ausübung ſeiner hierarchiſchen Gewalt, gleichviel was die verirrte Heerde denke. Plump, unbelehrbar, ſtierköpfig wie die meiſten ſchweizer Reactionäre, blieb er in ſeinem evan- geliſchen Amte und ſchrieb zugleich an ſeinem Werke weiter, das mit jedem neuen Bande fanatiſcher wurde. Er trat in Verbindung mit dem Papſte, mit Nuntien und Biſchöfen, mit allen Führern der clericalen Partei in Süddeutſchland, und trieb ungeſcheut ultramontane Politik, bis nach Jahren endlich im proteſtantiſchen Volke der Unwille erwachte über ein Treiben, das nur noch eine freche Lüge war. — Während die namhaften politiſchen Hiſtoriker erſt auf Umwegen, aus *) S. o. II. 96.
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Hurter. Grimm’s Mythologie.
geſtellten evangeliſchen Geiſtlichen kam. Ein Ruf des Beifalls und der
Schadenfreude ſcholl durch das ultramontane Lager; Möhler in Tübingen
brachte das Buch ſogleich in den Hörſaal um ſeinen geiſtlichen Hörern zu
erklären, was wahre Geſchichtſchreibung ſei. Die Evangeliſchen aber zeig-
ten anfangs ihrem abtrünnigen Glaubensgenoſſen jene haltloſe Nachſicht,
welche jederzeit die natürliche Schwäche proteſtantiſcher Geiſtesfreiheit ge-
blieben iſt. Bei mehreren katholiſchen Buchhändlern hatte Hurter ver-
geblich angeklopft, ſie alle hatten ſich geſcheut, die aufklärungsſtolze Leſer-
welt vor den Kopf zu ſtoßen; der ehrliche Proteſtant Perthes dagegen ver-
legte das Buch ſo unbedenklich, wie er einſt Stolberg’s Religionsgeſchichte
verlegt hatte, er hoffte noch harmlos auf eine Verſtändigung der beiden
Schweſterkirchen. Dann feierte Leo den Gegner der Ghibellinen in den
Berliner Jahrbüchern. Hurter’s ſtreng-reformirte Landsleute in Schaff-
hauſen erwählten ihn, nachdem der erſte Band (1834) erſchienen war,
zum Antiſtes, zum erſten Geiſtlichen des Cantons, und die Baſeler evan-
geliſche Facultät, der Männer wie de Wette und Hagenbach angehörten,
ernannte ihn ſogar zum Ehrendoctor „wegen der bewieſenen reichen Kennt-
niß der Kirchengeſchichte“. Wenn Hurter von dem Geiſte der evangeliſchen
Gemeindekirche etwas ahnte, ſo durfte er als ehrlicher Mann keine Stunde
mehr einen Glauben predigen, deſſen Grundwahrheiten er rundweg ab-
leugnete. Sogar Haller beſchwor den Freund, offen mit der Ketzerei zu
brechen, weil ſeine Stellung unhaltbar werde; der alte Herr mochte jetzt
wohl mit Scham der Zeiten gedenken, da er einſt ſelbſt ſeinen Uebertritt
feige geheim gehalten hatte. *) Der Schaffhauſener Antiſtes aber lebte
ganz in den Anſchauungen jener alten ſchweizer Herrengeſchlechter, die vor-
mals als Landvögte in den Vogteien der Eidgenoſſenſchaft gehauſt hatten,
und übertrug dieſe Herrſchaftsgedanken kurzab in die Kirche; er wähnte
ein Prieſter zu ſein und mithin befugt zur Ausübung ſeiner hierarchiſchen
Gewalt, gleichviel was die verirrte Heerde denke. Plump, unbelehrbar,
ſtierköpfig wie die meiſten ſchweizer Reactionäre, blieb er in ſeinem evan-
geliſchen Amte und ſchrieb zugleich an ſeinem Werke weiter, das mit jedem
neuen Bande fanatiſcher wurde. Er trat in Verbindung mit dem Papſte,
mit Nuntien und Biſchöfen, mit allen Führern der clericalen Partei in
Süddeutſchland, und trieb ungeſcheut ultramontane Politik, bis nach Jahren
endlich im proteſtantiſchen Volke der Unwille erwachte über ein Treiben,
das nur noch eine freche Lüge war. —
Während die namhaften politiſchen Hiſtoriker erſt auf Umwegen, aus
der Univerſalgeſchichte an die deutſchen Dinge herantraten, lebte und webte
Jakob Grimm ganz in der Heimath; wie ein frommer Prieſter das an-
vertraute Heiligthum, hütete er die Schätze unſerer Urzeit. Er wollte „das
Vaterland erheben, weil ſeine Sprache, ſein Recht und ſein Alterthum
*) S. o. II. 96.
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