erfand die Kunst die Kohlensäure sofort zu wiegen und entdeckte das Chloroform, dessen Nutzbarkeit erst nach Jahren ganz gewürdigt wurde. Wöhler aber eröffnete einen überraschenden Einblick in die letzten Geheim- nisse der Natur, als er den Harnstoff aus den Elementen, ohne Mitwir- kung der thierischen Lebenskraft, herstellte; damit war ein tausendjähriger Irrthum widerlegt und der Beweis geführt, daß zwischen der organischen und der unorganischen Welt eine feste Schranke nicht besteht.
Noch weiter, bis zu jenen Höhen wo Physik und Metaphysik sich be- rühren, schritt der geniale Physiologe Johannes Müller in seinen Unter- suchungen über den Gesichtssinn (1825): er zeigte durch naturwissenschaft- liche Beobachtung, was Kant auf dem Wege der Speculation gefunden hatte, daß wir die Dinge nicht sehen wie sie sind, sondern wie sie uns nach der Beschaffenheit unserer Organe erscheinen müssen. Gleich Liebig hatte sich auch Müller von den anmaßenden Voraussetzungen der Natur- philosophie erst losgerissen; jetzt stand er fest auf dem Boden der exacten Untersuchung, erzog sich in Berlin einen glänzenden Schülerkreis und fand für die vergleichende Anatomie die physiologischen Grundlagen. Wenn neue Gedanken in das deutsche Leben einschlagen, fordert auch immer das Gemüth sein Recht. Eine schöne, herzliche Freundschaft verband die meisten der jungen Berliner Naturforscher: Dove, Mitscherlich, Magnus, die Ge- brüder Rose; wenn sie bei dem Chemiker Poggendorff in dem Thurmbau der alten Sternwarte auf der Dorotheenstraße zusammensaßen, dann über- kam sie die Ahnung einer großen Zukunft. Die Gegenwart war freilich noch sehr bescheiden; diese werdenden Wissenschaften mußten sich die Gleich- berechtigung erst erkämpfen. Nur die alteingebürgerte Astronomie galt für ein vornehmes Fach; für sie hatte auch der Staat immer offene Hände. Er hatte einst mitten im Elend der napoleonischen Kriegszeiten die Königs- berger Sternwarte errichtet, wo dann Bessel die Position der Fundamen- talsterne berechnete und also die Einheit der astronomischen Bestimmun- gen sicherte; jetzt baute Schinkel die neue Berliner Sternwarte, die unter Encke's Leitung eine Musteranstalt wurde. Auch dabei half Humboldt's Fürwort mit; er war die wärmende Sonne dieses Planetenkreises. Aber erst in den vierziger Jahren trat die deutsche Naturforschung in ihre Blüthezeit und zeigte sich stark genug, die Franzosen erst zu erreichen, dann zu überholen.
Während die Erfahrungswissenschaften also ihre stolze Siegesbahn be- schritten, war die Lebenskraft der alten deutschen Philosophie schon ge- brochen. Ihre classische Zeit endete an Hegel's Grabe. Wer nur von fern hinschaute, mochte freilich wähnen, daß der hohe Tag der Hegel'schen Philosophie erst nach dem Tode des Meisters gekommen sei, denn jetzt erst erlangte sein Name den höchsten Ruhm, seine Schriften die weiteste Ver-
Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 31
Liebig. Wöhler. Joh. Müller.
erfand die Kunſt die Kohlenſäure ſofort zu wiegen und entdeckte das Chloroform, deſſen Nutzbarkeit erſt nach Jahren ganz gewürdigt wurde. Wöhler aber eröffnete einen überraſchenden Einblick in die letzten Geheim- niſſe der Natur, als er den Harnſtoff aus den Elementen, ohne Mitwir- kung der thieriſchen Lebenskraft, herſtellte; damit war ein tauſendjähriger Irrthum widerlegt und der Beweis geführt, daß zwiſchen der organiſchen und der unorganiſchen Welt eine feſte Schranke nicht beſteht.
Noch weiter, bis zu jenen Höhen wo Phyſik und Metaphyſik ſich be- rühren, ſchritt der geniale Phyſiologe Johannes Müller in ſeinen Unter- ſuchungen über den Geſichtsſinn (1825): er zeigte durch naturwiſſenſchaft- liche Beobachtung, was Kant auf dem Wege der Speculation gefunden hatte, daß wir die Dinge nicht ſehen wie ſie ſind, ſondern wie ſie uns nach der Beſchaffenheit unſerer Organe erſcheinen müſſen. Gleich Liebig hatte ſich auch Müller von den anmaßenden Vorausſetzungen der Natur- philoſophie erſt losgeriſſen; jetzt ſtand er feſt auf dem Boden der exacten Unterſuchung, erzog ſich in Berlin einen glänzenden Schülerkreis und fand für die vergleichende Anatomie die phyſiologiſchen Grundlagen. Wenn neue Gedanken in das deutſche Leben einſchlagen, fordert auch immer das Gemüth ſein Recht. Eine ſchöne, herzliche Freundſchaft verband die meiſten der jungen Berliner Naturforſcher: Dove, Mitſcherlich, Magnus, die Ge- brüder Roſe; wenn ſie bei dem Chemiker Poggendorff in dem Thurmbau der alten Sternwarte auf der Dorotheenſtraße zuſammenſaßen, dann über- kam ſie die Ahnung einer großen Zukunft. Die Gegenwart war freilich noch ſehr beſcheiden; dieſe werdenden Wiſſenſchaften mußten ſich die Gleich- berechtigung erſt erkämpfen. Nur die alteingebürgerte Aſtronomie galt für ein vornehmes Fach; für ſie hatte auch der Staat immer offene Hände. Er hatte einſt mitten im Elend der napoleoniſchen Kriegszeiten die Königs- berger Sternwarte errichtet, wo dann Beſſel die Poſition der Fundamen- talſterne berechnete und alſo die Einheit der aſtronomiſchen Beſtimmun- gen ſicherte; jetzt baute Schinkel die neue Berliner Sternwarte, die unter Encke’s Leitung eine Muſteranſtalt wurde. Auch dabei half Humboldt’s Fürwort mit; er war die wärmende Sonne dieſes Planetenkreiſes. Aber erſt in den vierziger Jahren trat die deutſche Naturforſchung in ihre Blüthezeit und zeigte ſich ſtark genug, die Franzoſen erſt zu erreichen, dann zu überholen.
Während die Erfahrungswiſſenſchaften alſo ihre ſtolze Siegesbahn be- ſchritten, war die Lebenskraft der alten deutſchen Philoſophie ſchon ge- brochen. Ihre claſſiſche Zeit endete an Hegel’s Grabe. Wer nur von fern hinſchaute, mochte freilich wähnen, daß der hohe Tag der Hegel’ſchen Philoſophie erſt nach dem Tode des Meiſters gekommen ſei, denn jetzt erſt erlangte ſein Name den höchſten Ruhm, ſeine Schriften die weiteſte Ver-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 31
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Liebig. Wöhler. Joh. Müller.
erfand die Kunſt die Kohlenſäure ſofort zu wiegen und entdeckte das
Chloroform, deſſen Nutzbarkeit erſt nach Jahren ganz gewürdigt wurde.
Wöhler aber eröffnete einen überraſchenden Einblick in die letzten Geheim-
niſſe der Natur, als er den Harnſtoff aus den Elementen, ohne Mitwir-
kung der thieriſchen Lebenskraft, herſtellte; damit war ein tauſendjähriger
Irrthum widerlegt und der Beweis geführt, daß zwiſchen der organiſchen
und der unorganiſchen Welt eine feſte Schranke nicht beſteht.
Noch weiter, bis zu jenen Höhen wo Phyſik und Metaphyſik ſich be-
rühren, ſchritt der geniale Phyſiologe Johannes Müller in ſeinen Unter-
ſuchungen über den Geſichtsſinn (1825): er zeigte durch naturwiſſenſchaft-
liche Beobachtung, was Kant auf dem Wege der Speculation gefunden
hatte, daß wir die Dinge nicht ſehen wie ſie ſind, ſondern wie ſie uns
nach der Beſchaffenheit unſerer Organe erſcheinen müſſen. Gleich Liebig
hatte ſich auch Müller von den anmaßenden Vorausſetzungen der Natur-
philoſophie erſt losgeriſſen; jetzt ſtand er feſt auf dem Boden der exacten
Unterſuchung, erzog ſich in Berlin einen glänzenden Schülerkreis und fand
für die vergleichende Anatomie die phyſiologiſchen Grundlagen. Wenn
neue Gedanken in das deutſche Leben einſchlagen, fordert auch immer das
Gemüth ſein Recht. Eine ſchöne, herzliche Freundſchaft verband die meiſten
der jungen Berliner Naturforſcher: Dove, Mitſcherlich, Magnus, die Ge-
brüder Roſe; wenn ſie bei dem Chemiker Poggendorff in dem Thurmbau
der alten Sternwarte auf der Dorotheenſtraße zuſammenſaßen, dann über-
kam ſie die Ahnung einer großen Zukunft. Die Gegenwart war freilich
noch ſehr beſcheiden; dieſe werdenden Wiſſenſchaften mußten ſich die Gleich-
berechtigung erſt erkämpfen. Nur die alteingebürgerte Aſtronomie galt für
ein vornehmes Fach; für ſie hatte auch der Staat immer offene Hände.
Er hatte einſt mitten im Elend der napoleoniſchen Kriegszeiten die Königs-
berger Sternwarte errichtet, wo dann Beſſel die Poſition der Fundamen-
talſterne berechnete und alſo die Einheit der aſtronomiſchen Beſtimmun-
gen ſicherte; jetzt baute Schinkel die neue Berliner Sternwarte, die unter
Encke’s Leitung eine Muſteranſtalt wurde. Auch dabei half Humboldt’s
Fürwort mit; er war die wärmende Sonne dieſes Planetenkreiſes. Aber
erſt in den vierziger Jahren trat die deutſche Naturforſchung in ihre
Blüthezeit und zeigte ſich ſtark genug, die Franzoſen erſt zu erreichen, dann
zu überholen.
Während die Erfahrungswiſſenſchaften alſo ihre ſtolze Siegesbahn be-
ſchritten, war die Lebenskraft der alten deutſchen Philoſophie ſchon ge-
brochen. Ihre claſſiſche Zeit endete an Hegel’s Grabe. Wer nur von fern
hinſchaute, mochte freilich wähnen, daß der hohe Tag der Hegel’ſchen
Philoſophie erſt nach dem Tode des Meiſters gekommen ſei, denn jetzt erſt
erlangte ſein Name den höchſten Ruhm, ſeine Schriften die weiteſte Ver-
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 31
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/495>, abgerufen am 24.11.2024.
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