Von dem Wesen der Religion hatte der scharfsinnige Theolog gar keine Ahnung. Gleich allen Hegelianern sah er in ihr nur ein un- fertiges Denken, obwohl die Geschichte der Jahrtausende bewies, daß die empfindenden Frauen allezeit religiöser waren als die denkenden Männer. So gelangte er unmerklich zu der Meinung jener buchstabengläubigen Orthodoxen des siebzehnten Jahrhunderts, welche die Religion allein im Fürwahrhalten einiger dogmatischen Lehrsätze suchten. Er wähnte das Christenthum selbst überwunden zu haben, weil er nachgewiesen hatte, daß einige der evangelischen Erzählungen mythisch sind. Welch ein tragischer Widerspruch in dem Leben dieses reich begabten Mannes! Im Kampfe, im berechtigten Kampfe wider den theologischen Zunftzwang der Tübinger Stiftler-Gelehrsamkeit hatte er sich errungen, was er die Freiheit seines Geistes nannte; und doch war sein Buch selbst nur ein echtes Kind jener verhockten Stubengelahrtheit, welche nicht fassen konnte, daß alle theo- logische Kritik nichtig ist neben den praktischen Pflichten des Seelsorgers, der die Mühseligen und Beladenen trösten soll aus der Fülle der Ver- heißung, daß vor der Majestät des lebendigen Gottes der spitzfindige Ge- lehrte ebenso bettelarm dasteht wie der einfältige Bauersmann.
Aber dem tapferen Streiter blieb das Verdienst, daß er in eine offene Wunde der deutschen Theologie den Finger gelegt hatte. Darum erregte sein Buch eine Entrüstung, wie kaum jemals ein gelehrtes Werk. Wenige Wochen nach dem Erscheinen des ersten Bandes wurde er schon vom Tü- binger Stifte entfernt und auf eine Lehrerstelle versetzt. Dann sendete Eschenmayer, dessen naturphilosophische Träumereien vor Jahren den jungen Strauß selbst bezaubert hatten, seine Streitschrift wider "den Ischariotis- mus unserer Tage" hinaus, ein fanatisches Libell, das der wissenschaft- lichen Theologie schlechthin jede Berechtigung absprach. Auch Paulus er- hob sich aus dem Großvaterstuhle des Rationalismus, um den Ketzer zu bekämpfen, der so gar nicht einsehen wollte, daß die Juden zu Christi Zeiten die unangenehme Gewohnheit gehabt hätten, ihre Angehörigen leben- dig zu begraben, und mithin die Todtenerweckungen des Neuen Testaments auf ganz natürliche Weise zu erklären seien; er sprach indeß würdiger als der alte Tübinger Supranaturalist Steudel. Die württembergischen Pietisten, die in Calw und Kornthal ihre Bestunden hielten, die stillen "Stunden- leute", geriethen in Bewegung, und in ihrem Namen stritt Straußens Studiengenosse Wilhelm Hoffmann gegen den verlorenen Freund. Hengsten- berg's Berliner Kirchenzeitung tobte, und die Minister erwogen bereits, ob man nicht das gefährliche Buch in Preußen verbieten solle; da erklärte Joh. Neander in einem trefflichen Gutachten, nach evangelischem Brauche dürften Gründe nur durch Gründe bekämpft werden. Das Leben Jesu, das der fromme Mann bald nachher dem Buche des Schwaben entgegenstellte, war jedoch leider mehr ein Werk der Liebe als des kritischen Scharfsinns. Aller dieser Gegner erwehrte sich Strauß in einer Reihe schlagfertiger Streitschriften.
IV. 7. Das Junge Deutſchland.
Von dem Weſen der Religion hatte der ſcharfſinnige Theolog gar keine Ahnung. Gleich allen Hegelianern ſah er in ihr nur ein un- fertiges Denken, obwohl die Geſchichte der Jahrtauſende bewies, daß die empfindenden Frauen allezeit religiöſer waren als die denkenden Männer. So gelangte er unmerklich zu der Meinung jener buchſtabengläubigen Orthodoxen des ſiebzehnten Jahrhunderts, welche die Religion allein im Fürwahrhalten einiger dogmatiſchen Lehrſätze ſuchten. Er wähnte das Chriſtenthum ſelbſt überwunden zu haben, weil er nachgewieſen hatte, daß einige der evangeliſchen Erzählungen mythiſch ſind. Welch ein tragiſcher Widerſpruch in dem Leben dieſes reich begabten Mannes! Im Kampfe, im berechtigten Kampfe wider den theologiſchen Zunftzwang der Tübinger Stiftler-Gelehrſamkeit hatte er ſich errungen, was er die Freiheit ſeines Geiſtes nannte; und doch war ſein Buch ſelbſt nur ein echtes Kind jener verhockten Stubengelahrtheit, welche nicht faſſen konnte, daß alle theo- logiſche Kritik nichtig iſt neben den praktiſchen Pflichten des Seelſorgers, der die Mühſeligen und Beladenen tröſten ſoll aus der Fülle der Ver- heißung, daß vor der Majeſtät des lebendigen Gottes der ſpitzfindige Ge- lehrte ebenſo bettelarm daſteht wie der einfältige Bauersmann.
Aber dem tapferen Streiter blieb das Verdienſt, daß er in eine offene Wunde der deutſchen Theologie den Finger gelegt hatte. Darum erregte ſein Buch eine Entrüſtung, wie kaum jemals ein gelehrtes Werk. Wenige Wochen nach dem Erſcheinen des erſten Bandes wurde er ſchon vom Tü- binger Stifte entfernt und auf eine Lehrerſtelle verſetzt. Dann ſendete Eſchenmayer, deſſen naturphiloſophiſche Träumereien vor Jahren den jungen Strauß ſelbſt bezaubert hatten, ſeine Streitſchrift wider „den Iſchariotis- mus unſerer Tage“ hinaus, ein fanatiſches Libell, das der wiſſenſchaft- lichen Theologie ſchlechthin jede Berechtigung abſprach. Auch Paulus er- hob ſich aus dem Großvaterſtuhle des Rationalismus, um den Ketzer zu bekämpfen, der ſo gar nicht einſehen wollte, daß die Juden zu Chriſti Zeiten die unangenehme Gewohnheit gehabt hätten, ihre Angehörigen leben- dig zu begraben, und mithin die Todtenerweckungen des Neuen Teſtaments auf ganz natürliche Weiſe zu erklären ſeien; er ſprach indeß würdiger als der alte Tübinger Supranaturaliſt Steudel. Die württembergiſchen Pietiſten, die in Calw und Kornthal ihre Beſtunden hielten, die ſtillen „Stunden- leute“, geriethen in Bewegung, und in ihrem Namen ſtritt Straußens Studiengenoſſe Wilhelm Hoffmann gegen den verlorenen Freund. Hengſten- berg’s Berliner Kirchenzeitung tobte, und die Miniſter erwogen bereits, ob man nicht das gefährliche Buch in Preußen verbieten ſolle; da erklärte Joh. Neander in einem trefflichen Gutachten, nach evangeliſchem Brauche dürften Gründe nur durch Gründe bekämpft werden. Das Leben Jeſu, das der fromme Mann bald nachher dem Buche des Schwaben entgegenſtellte, war jedoch leider mehr ein Werk der Liebe als des kritiſchen Scharfſinns. Aller dieſer Gegner erwehrte ſich Strauß in einer Reihe ſchlagfertiger Streitſchriften.
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fertiges Denken, obwohl die Geſchichte der Jahrtauſende bewies, daß die
empfindenden Frauen allezeit religiöſer waren als die denkenden Männer.
So gelangte er unmerklich zu der Meinung jener buchſtabengläubigen
Orthodoxen des ſiebzehnten Jahrhunderts, welche die Religion allein im
Fürwahrhalten einiger dogmatiſchen Lehrſätze ſuchten. Er wähnte das
Chriſtenthum ſelbſt überwunden zu haben, weil er nachgewieſen hatte, daß
einige der evangeliſchen Erzählungen mythiſch ſind. Welch ein tragiſcher
Widerſpruch in dem Leben dieſes reich begabten Mannes! Im Kampfe, im
berechtigten Kampfe wider den theologiſchen Zunftzwang der Tübinger
Stiftler-Gelehrſamkeit hatte er ſich errungen, was er die Freiheit ſeines
Geiſtes nannte; und doch war ſein Buch ſelbſt nur ein echtes Kind jener
verhockten Stubengelahrtheit, welche nicht faſſen konnte, daß alle theo-
logiſche Kritik nichtig iſt neben den praktiſchen Pflichten des Seelſorgers,
der die Mühſeligen und Beladenen tröſten ſoll aus der Fülle der Ver-
heißung, daß vor der Majeſtät des lebendigen Gottes der ſpitzfindige Ge-
lehrte ebenſo bettelarm daſteht wie der einfältige Bauersmann.
Aber dem tapferen Streiter blieb das Verdienſt, daß er in eine offene
Wunde der deutſchen Theologie den Finger gelegt hatte. Darum erregte
ſein Buch eine Entrüſtung, wie kaum jemals ein gelehrtes Werk. Wenige
Wochen nach dem Erſcheinen des erſten Bandes wurde er ſchon vom Tü-
binger Stifte entfernt und auf eine Lehrerſtelle verſetzt. Dann ſendete
Eſchenmayer, deſſen naturphiloſophiſche Träumereien vor Jahren den jungen
Strauß ſelbſt bezaubert hatten, ſeine Streitſchrift wider „den Iſchariotis-
mus unſerer Tage“ hinaus, ein fanatiſches Libell, das der wiſſenſchaft-
lichen Theologie ſchlechthin jede Berechtigung abſprach. Auch Paulus er-
hob ſich aus dem Großvaterſtuhle des Rationalismus, um den Ketzer zu
bekämpfen, der ſo gar nicht einſehen wollte, daß die Juden zu Chriſti
Zeiten die unangenehme Gewohnheit gehabt hätten, ihre Angehörigen leben-
dig zu begraben, und mithin die Todtenerweckungen des Neuen Teſtaments
auf ganz natürliche Weiſe zu erklären ſeien; er ſprach indeß würdiger als der
alte Tübinger Supranaturaliſt Steudel. Die württembergiſchen Pietiſten,
die in Calw und Kornthal ihre Beſtunden hielten, die ſtillen „Stunden-
leute“, geriethen in Bewegung, und in ihrem Namen ſtritt Straußens
Studiengenoſſe Wilhelm Hoffmann gegen den verlorenen Freund. Hengſten-
berg’s Berliner Kirchenzeitung tobte, und die Miniſter erwogen bereits, ob
man nicht das gefährliche Buch in Preußen verbieten ſolle; da erklärte Joh.
Neander in einem trefflichen Gutachten, nach evangeliſchem Brauche dürften
Gründe nur durch Gründe bekämpft werden. Das Leben Jeſu, das der
fromme Mann bald nachher dem Buche des Schwaben entgegenſtellte, war
jedoch leider mehr ein Werk der Liebe als des kritiſchen Scharfſinns. Aller
dieſer Gegner erwehrte ſich Strauß in einer Reihe ſchlagfertiger Streitſchriften.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 490. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/504>, abgerufen am 24.11.2024.
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