Seit der literarische Streit sich mit dem politischen verkettete, Dichtung und Philosophie von der Tendenz beherrscht wurden, stand unter den deut- schen Liberalen die Meinung fest, daß der Kampf der Freiheit wider die Knechtschaft, des Lichtes wider die Finsterniß den ganzen Inhalt der neuen Geschichte ausmache. Der Gang der europäischen Politik, die zunehmende Spannung zwischen dem Westen und dem Osten des Welttheils schien diese Ansichten zu bestätigen. Die Stärke unserer Cultur liegt aber in dem beständigen Wechsel ihrer mannichfaltigen Interessen, Ideen und Macht- verhältnisse. Immer war es nur ein Zeichen verschrobener, unhaltbarer Zustände, wenn einmal ein einziger kahler Gegensatz, wie im Zeitalter der Religionskriege, die Parteiung dieser vielgestaltigen Staatengesellschaft bestimmte. Nun gar der Gegensatz von Ost- und Westeuropa, der jetzt von nahezu allen Parteien als eine historische Nothwendigkeit angesehen wurde, bestand in Wahrheit nicht; er beruhte wesentlich auf der Einbildung, auf den formalen Lehrsätzen constitutioneller und absolutistischer Theorien, welche die lebendigste Kraft des Jahrhunderts, den Drang nach nationaler Staatenbildung, völlig verkannten. Doch diese Doktrinen beherrschten und bethörten die Welt -- denn nichts ist sicherer, als die niederschlagende Wahrheit, daß die öffentliche Meinung ganzer Zeitalter sich im Irrthum bewegen kann -- und weil die Zeit im Doktrinarismus befangen war, darum konnte Palmerston's kaufmännisches Geschick die Wirren auf der pyrenäischen Halbinsel, die für Europa so wenig bedeuteten, als willkommene Hand- habe benutzen, um das Festland beständig in Unruhe zu halten, die Kluft zwischen dem Osten und dem Westen arglistig zu erweitern.
In Portugal regierte, nachdem das Tochterland Brasilien sich von dem Mutterlande losgerissen hatte, die minderjährige Tochter des brasili- anischen Kaisers Pedro, Maria da Gloria. Aber ihr Oheim Don Miguel, der für sie die Regentschaft führen und dereinst ihr Gatte werden sollte, bemächtigte sich selbst der Krone (1828), und nun brach über das Land ein clericales Schreckensregiment herein, das selbst die Gräuel der spani- schen Reaktion noch überbot. Der fanatische, rohe, halbthierische Wütherich
Achter Abſchnitt. Stille Jahre.
Seit der literariſche Streit ſich mit dem politiſchen verkettete, Dichtung und Philoſophie von der Tendenz beherrſcht wurden, ſtand unter den deut- ſchen Liberalen die Meinung feſt, daß der Kampf der Freiheit wider die Knechtſchaft, des Lichtes wider die Finſterniß den ganzen Inhalt der neuen Geſchichte ausmache. Der Gang der europäiſchen Politik, die zunehmende Spannung zwiſchen dem Weſten und dem Oſten des Welttheils ſchien dieſe Anſichten zu beſtätigen. Die Stärke unſerer Cultur liegt aber in dem beſtändigen Wechſel ihrer mannichfaltigen Intereſſen, Ideen und Macht- verhältniſſe. Immer war es nur ein Zeichen verſchrobener, unhaltbarer Zuſtände, wenn einmal ein einziger kahler Gegenſatz, wie im Zeitalter der Religionskriege, die Parteiung dieſer vielgeſtaltigen Staatengeſellſchaft beſtimmte. Nun gar der Gegenſatz von Oſt- und Weſteuropa, der jetzt von nahezu allen Parteien als eine hiſtoriſche Nothwendigkeit angeſehen wurde, beſtand in Wahrheit nicht; er beruhte weſentlich auf der Einbildung, auf den formalen Lehrſätzen conſtitutioneller und abſolutiſtiſcher Theorien, welche die lebendigſte Kraft des Jahrhunderts, den Drang nach nationaler Staatenbildung, völlig verkannten. Doch dieſe Doktrinen beherrſchten und bethörten die Welt — denn nichts iſt ſicherer, als die niederſchlagende Wahrheit, daß die öffentliche Meinung ganzer Zeitalter ſich im Irrthum bewegen kann — und weil die Zeit im Doktrinarismus befangen war, darum konnte Palmerſton’s kaufmänniſches Geſchick die Wirren auf der pyrenäiſchen Halbinſel, die für Europa ſo wenig bedeuteten, als willkommene Hand- habe benutzen, um das Feſtland beſtändig in Unruhe zu halten, die Kluft zwiſchen dem Oſten und dem Weſten argliſtig zu erweitern.
In Portugal regierte, nachdem das Tochterland Braſilien ſich von dem Mutterlande losgeriſſen hatte, die minderjährige Tochter des braſili- aniſchen Kaiſers Pedro, Maria da Gloria. Aber ihr Oheim Don Miguel, der für ſie die Regentſchaft führen und dereinſt ihr Gatte werden ſollte, bemächtigte ſich ſelbſt der Krone (1828), und nun brach über das Land ein clericales Schreckensregiment herein, das ſelbſt die Gräuel der ſpani- ſchen Reaktion noch überbot. Der fanatiſche, rohe, halbthieriſche Wütherich
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Achter Abſchnitt.
Stille Jahre.
Seit der literariſche Streit ſich mit dem politiſchen verkettete, Dichtung
und Philoſophie von der Tendenz beherrſcht wurden, ſtand unter den deut-
ſchen Liberalen die Meinung feſt, daß der Kampf der Freiheit wider die
Knechtſchaft, des Lichtes wider die Finſterniß den ganzen Inhalt der neuen
Geſchichte ausmache. Der Gang der europäiſchen Politik, die zunehmende
Spannung zwiſchen dem Weſten und dem Oſten des Welttheils ſchien
dieſe Anſichten zu beſtätigen. Die Stärke unſerer Cultur liegt aber in dem
beſtändigen Wechſel ihrer mannichfaltigen Intereſſen, Ideen und Macht-
verhältniſſe. Immer war es nur ein Zeichen verſchrobener, unhaltbarer
Zuſtände, wenn einmal ein einziger kahler Gegenſatz, wie im Zeitalter
der Religionskriege, die Parteiung dieſer vielgeſtaltigen Staatengeſellſchaft
beſtimmte. Nun gar der Gegenſatz von Oſt- und Weſteuropa, der jetzt
von nahezu allen Parteien als eine hiſtoriſche Nothwendigkeit angeſehen
wurde, beſtand in Wahrheit nicht; er beruhte weſentlich auf der Einbildung,
auf den formalen Lehrſätzen conſtitutioneller und abſolutiſtiſcher Theorien,
welche die lebendigſte Kraft des Jahrhunderts, den Drang nach nationaler
Staatenbildung, völlig verkannten. Doch dieſe Doktrinen beherrſchten und
bethörten die Welt — denn nichts iſt ſicherer, als die niederſchlagende
Wahrheit, daß die öffentliche Meinung ganzer Zeitalter ſich im Irrthum
bewegen kann — und weil die Zeit im Doktrinarismus befangen war, darum
konnte Palmerſton’s kaufmänniſches Geſchick die Wirren auf der pyrenäiſchen
Halbinſel, die für Europa ſo wenig bedeuteten, als willkommene Hand-
habe benutzen, um das Feſtland beſtändig in Unruhe zu halten, die Kluft
zwiſchen dem Oſten und dem Weſten argliſtig zu erweitern.
In Portugal regierte, nachdem das Tochterland Braſilien ſich von
dem Mutterlande losgeriſſen hatte, die minderjährige Tochter des braſili-
aniſchen Kaiſers Pedro, Maria da Gloria. Aber ihr Oheim Don Miguel,
der für ſie die Regentſchaft führen und dereinſt ihr Gatte werden ſollte,
bemächtigte ſich ſelbſt der Krone (1828), und nun brach über das Land
ein clericales Schreckensregiment herein, das ſelbſt die Gräuel der ſpani-
ſchen Reaktion noch überbot. Der fanatiſche, rohe, halbthieriſche Wütherich
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. [498]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/512>, abgerufen am 24.11.2024.
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