kleine Lustbahn, welche die Pariser in die Versailler Gärten führte, und erst unter der Herrschaft des dritten Napoleon seine großen Bahnlinien eröffnen konnte, zu einer Zeit, da die deutschen Hauptbahnen schon seit einem Jahrzehnt im Betriebe waren. Deutschland schritt in diesem fried- lichen Wettkampfe allen Völkern des Festlandes, mit der einzigen Aus- nahme Belgiens, weit voran, dem centralisirten Frankreich so gut wie dem reichen Holland.
Schon im Jahre 1828 hatte Motz an eine Eisenbahn zwischen den Stromgebieten des Rheins und der Weser gedacht, um also die hollän- dischen Rheinzölle zu umgehen*); der noch gänzlich unreife Plan ward aber aufgegeben, sobald die Niederlande in dem Zollstreite zurückwichen. Aus demselben Grunde, um Holland zu bekämpfen, verlangte der west- phälische Landtag 1831 eine Bahn von Lippstadt nach Minden. Zwei Jahre darauf forderte der rheinische Landtag eine Bahn von der belgischen Grenze zum Rheine und zum Kohlenbecken der Ruhr, eine zweite von Elberfeld nach dem Rheine; die Stände wünschten, der Staat solle den Bau entweder selbst unternehmen, oder einer Aktiengesellschaft eine Ver- zinsung von 4 % verbürgen. Größer gedacht war der Plan einer Bahn von Köln nach Minden, welchen Friedrich Harkort in einer Druckschrift begründete und den westphälischen Ständen vorlegte. Aber wie konnte der König in diesem Augenblicke, da die Verhandlungen über den Zollverein noch schwebten, sich auf so weit aussehende Entwürfe einlassen? Er er- widerte den Rheinländern, ihr Handelsstand würde, so hoffe er, selber die Mittel für jene Bauten zu finden wissen. Unterdessen hatte der rührige Unternehmer Gerstner in Böhmen die Budweis-Linzer Eisenbahn zu Stande gebracht (1828); sie diente jedoch lediglich der Abfuhr des Salzes aus dem Salzkammergute, wurde nur mit Pferden betrieben und konnte als große Verkehrsstraße nicht benutzt werden. Eine Menge von Projecten tauchten auf, alle noch so unklar und nebelhaft, daß selbst der unternehmende rus- sische Finanzminister Cancrin zu Gerstner spöttisch sagte: in hundert Jahren werde für dergleichen wohl die Zeit kommen. Die Staatsmänner klagten sämmtlich über die tolle "Eisenbahn-Manie". Noch war man ja nicht ein- mal über die technischen Vorbedingungen einig. Hauptmann v. Prittwitz in Posen, einer der tüchtigsten Ingenieure des deutschen Heeres, empfahl statt des Stephenson'schen Systems die Anlage "schwebender Eisenbahnen" in der Art der Drahtseilbahnen. Vornehmlich ward bezweifelt, ob große Bahnstrecken in dem armen Deutschland überhaupt einen Ertrag bringen könnten; die Meisten glaubten, nur zwischen nahe benachbarten größeren Städten, wie Berlin und Potsdam, würde sich die Unternehmung lohnen.
Mit feuriger Begeisterung, wie er jeden neuen Gedanken ergriff, wendete sich König Ludwig von Baiern den Eisenbahnplänen zu. Er besaß
*) S. o. III. S. 465.
IV. 8. Stille Jahre.
kleine Luſtbahn, welche die Pariſer in die Verſailler Gärten führte, und erſt unter der Herrſchaft des dritten Napoleon ſeine großen Bahnlinien eröffnen konnte, zu einer Zeit, da die deutſchen Hauptbahnen ſchon ſeit einem Jahrzehnt im Betriebe waren. Deutſchland ſchritt in dieſem fried- lichen Wettkampfe allen Völkern des Feſtlandes, mit der einzigen Aus- nahme Belgiens, weit voran, dem centraliſirten Frankreich ſo gut wie dem reichen Holland.
Schon im Jahre 1828 hatte Motz an eine Eiſenbahn zwiſchen den Stromgebieten des Rheins und der Weſer gedacht, um alſo die hollän- diſchen Rheinzölle zu umgehen*); der noch gänzlich unreife Plan ward aber aufgegeben, ſobald die Niederlande in dem Zollſtreite zurückwichen. Aus demſelben Grunde, um Holland zu bekämpfen, verlangte der weſt- phäliſche Landtag 1831 eine Bahn von Lippſtadt nach Minden. Zwei Jahre darauf forderte der rheiniſche Landtag eine Bahn von der belgiſchen Grenze zum Rheine und zum Kohlenbecken der Ruhr, eine zweite von Elberfeld nach dem Rheine; die Stände wünſchten, der Staat ſolle den Bau entweder ſelbſt unternehmen, oder einer Aktiengeſellſchaft eine Ver- zinſung von 4 % verbürgen. Größer gedacht war der Plan einer Bahn von Köln nach Minden, welchen Friedrich Harkort in einer Druckſchrift begründete und den weſtphäliſchen Ständen vorlegte. Aber wie konnte der König in dieſem Augenblicke, da die Verhandlungen über den Zollverein noch ſchwebten, ſich auf ſo weit ausſehende Entwürfe einlaſſen? Er er- widerte den Rheinländern, ihr Handelsſtand würde, ſo hoffe er, ſelber die Mittel für jene Bauten zu finden wiſſen. Unterdeſſen hatte der rührige Unternehmer Gerſtner in Böhmen die Budweis-Linzer Eiſenbahn zu Stande gebracht (1828); ſie diente jedoch lediglich der Abfuhr des Salzes aus dem Salzkammergute, wurde nur mit Pferden betrieben und konnte als große Verkehrsſtraße nicht benutzt werden. Eine Menge von Projecten tauchten auf, alle noch ſo unklar und nebelhaft, daß ſelbſt der unternehmende ruſ- ſiſche Finanzminiſter Cancrin zu Gerſtner ſpöttiſch ſagte: in hundert Jahren werde für dergleichen wohl die Zeit kommen. Die Staatsmänner klagten ſämmtlich über die tolle „Eiſenbahn-Manie“. Noch war man ja nicht ein- mal über die techniſchen Vorbedingungen einig. Hauptmann v. Prittwitz in Poſen, einer der tüchtigſten Ingenieure des deutſchen Heeres, empfahl ſtatt des Stephenſon’ſchen Syſtems die Anlage „ſchwebender Eiſenbahnen“ in der Art der Drahtſeilbahnen. Vornehmlich ward bezweifelt, ob große Bahnſtrecken in dem armen Deutſchland überhaupt einen Ertrag bringen könnten; die Meiſten glaubten, nur zwiſchen nahe benachbarten größeren Städten, wie Berlin und Potsdam, würde ſich die Unternehmung lohnen.
Mit feuriger Begeiſterung, wie er jeden neuen Gedanken ergriff, wendete ſich König Ludwig von Baiern den Eiſenbahnplänen zu. Er beſaß
*) S. o. III. S. 465.
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[582/0596]
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kleine Luſtbahn, welche die Pariſer in die Verſailler Gärten führte, und
erſt unter der Herrſchaft des dritten Napoleon ſeine großen Bahnlinien
eröffnen konnte, zu einer Zeit, da die deutſchen Hauptbahnen ſchon ſeit
einem Jahrzehnt im Betriebe waren. Deutſchland ſchritt in dieſem fried-
lichen Wettkampfe allen Völkern des Feſtlandes, mit der einzigen Aus-
nahme Belgiens, weit voran, dem centraliſirten Frankreich ſo gut wie dem
reichen Holland.
Schon im Jahre 1828 hatte Motz an eine Eiſenbahn zwiſchen den
Stromgebieten des Rheins und der Weſer gedacht, um alſo die hollän-
diſchen Rheinzölle zu umgehen *); der noch gänzlich unreife Plan ward
aber aufgegeben, ſobald die Niederlande in dem Zollſtreite zurückwichen.
Aus demſelben Grunde, um Holland zu bekämpfen, verlangte der weſt-
phäliſche Landtag 1831 eine Bahn von Lippſtadt nach Minden. Zwei
Jahre darauf forderte der rheiniſche Landtag eine Bahn von der belgiſchen
Grenze zum Rheine und zum Kohlenbecken der Ruhr, eine zweite von
Elberfeld nach dem Rheine; die Stände wünſchten, der Staat ſolle den
Bau entweder ſelbſt unternehmen, oder einer Aktiengeſellſchaft eine Ver-
zinſung von 4 % verbürgen. Größer gedacht war der Plan einer Bahn
von Köln nach Minden, welchen Friedrich Harkort in einer Druckſchrift
begründete und den weſtphäliſchen Ständen vorlegte. Aber wie konnte der
König in dieſem Augenblicke, da die Verhandlungen über den Zollverein
noch ſchwebten, ſich auf ſo weit ausſehende Entwürfe einlaſſen? Er er-
widerte den Rheinländern, ihr Handelsſtand würde, ſo hoffe er, ſelber die
Mittel für jene Bauten zu finden wiſſen. Unterdeſſen hatte der rührige
Unternehmer Gerſtner in Böhmen die Budweis-Linzer Eiſenbahn zu Stande
gebracht (1828); ſie diente jedoch lediglich der Abfuhr des Salzes aus dem
Salzkammergute, wurde nur mit Pferden betrieben und konnte als große
Verkehrsſtraße nicht benutzt werden. Eine Menge von Projecten tauchten
auf, alle noch ſo unklar und nebelhaft, daß ſelbſt der unternehmende ruſ-
ſiſche Finanzminiſter Cancrin zu Gerſtner ſpöttiſch ſagte: in hundert Jahren
werde für dergleichen wohl die Zeit kommen. Die Staatsmänner klagten
ſämmtlich über die tolle „Eiſenbahn-Manie“. Noch war man ja nicht ein-
mal über die techniſchen Vorbedingungen einig. Hauptmann v. Prittwitz
in Poſen, einer der tüchtigſten Ingenieure des deutſchen Heeres, empfahl
ſtatt des Stephenſon’ſchen Syſtems die Anlage „ſchwebender Eiſenbahnen“
in der Art der Drahtſeilbahnen. Vornehmlich ward bezweifelt, ob große
Bahnſtrecken in dem armen Deutſchland überhaupt einen Ertrag bringen
könnten; die Meiſten glaubten, nur zwiſchen nahe benachbarten größeren
Städten, wie Berlin und Potsdam, würde ſich die Unternehmung lohnen.
Mit feuriger Begeiſterung, wie er jeden neuen Gedanken ergriff,
wendete ſich König Ludwig von Baiern den Eiſenbahnplänen zu. Er beſaß
*) S. o. III. S. 465.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 582. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/596>, abgerufen am 24.11.2024.
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