Wie die neue Verfassung beschaffen sein sollte? -- das wußte er selbst noch nicht, da er sich um das Land nie bekümmert hatte; genug wenn sie die Macht der Krone befestigte. Ein anderes Recht außer der Satzung seines eigenen Willens erkannte der Welfe nicht an. Gegen die Verfassungsgesetze von 1814 und 1819 hatte er protestirt -- allerdings nur heimtückisch, in der Tasche; das Staatsgrundgesetz hatte er nicht förmlich angenommen. Folglich hielt er sich an die Gesetze seiner Vor- fahren nicht gebunden und rüstete sich wohlgemuth zu einem Staatsstreiche, dessen Frechheit durch keinerlei Nothstand beschönigt werden konnte. Wenn der neue König seiner Pflicht gemäß die zu Recht bestehende Verfassung beschwor, dann mochte er fast alle seine Wünsche auf gesetzlichem Wege durchsetzen. Das Staatsgrundgesetz bestand erst seit vier Jahren und hatte noch keine tiefen Wurzeln geschlagen; nicht blos der Adel murrte, auch das Volk fand wenig Freude an den langweiligen, unfruchtbaren Landtagsverhandlungen. Die durchaus ergebene erste und die sehr nach- giebige zweite Kammer ließ sich zu einigen Verfassungsänderungen sicherlich leicht bewegen, und sobald erst ruhig verhandelt wurde, dann mußte der geschäftskluge Welfe bald selbst einsehen, daß die Vereinigung der Steuer- kasse mit der Domänenkasse, die er jetzt als eine demagogische Neuerung verwünschte, nur der Krone selbst Vortheile brachte. Ihn aber verblendete die Leidenschaft. Er hatte durch Schele, den Führer der Adelspartei, Wun- derdinge gehört über den Radicalismus des Staatsgrundgesetzes, das in Wahrheit die Rechte des Königthums sorgsamer schonte als irgend eine andere der neuen deutschen Verfassungen, und nannte deshalb den Ca- binetsrath Rose den hannöverschen John Russell. Wie er die englischen Reformer bekämpft hatte, so hoffte er in Hannover "der Demokratie die Flügel zu beschneiden"; und -- seltsam genug -- bei dem rohen Rechts- bruche wirkte auch die bornirte Gewissenhaftigkeit mit. Nach seiner Auf- fassung des politischen Eides konnte Ernst August das Staatsgrundgesetz nicht beschwören, weil er sich dann verpflichtet geglaubt hätte keinen Buch- staben mehr daran zu ändern. Um sein eigenes Gewissen zu sichern hielt er sich berechtigt die Gewissen seiner Unterthanen zu bedrängen. Also stürmte er blindlings hinein in die Bahn des Unrechts -- denn ich bin ein Bock, so gestand er selbst -- und getröstete sich des altenglischen Glau- bens, daß die Deutschen zwar die besten Soldaten der Welt seien, aber von ihren Fürsten Alles gelassen hinnähmen.
Drei Tage vor seiner Ankunft schritt die Bürgerschaft von Hannover Abends in langem schweigendem Zuge hinaus nach dem Schlosse Mont- brillant um von dem geliebten Herzog von Cambridge Abschied zu nehmen. Ihrem Wortführer, dem Bürgermeister Rumann, und dem guten Vicekönige versagte fast die Stimme; Alles fühlte, die gemächliche alte Zeit ging zu Ende. Am Abend des 28. Juni zog der neue König ein, beantwortete die Anrede des Bürgermeisters mit kurzen, wenig freundlichen Worten und
Ernſt Auguſt und Schele.
Wie die neue Verfaſſung beſchaffen ſein ſollte? — das wußte er ſelbſt noch nicht, da er ſich um das Land nie bekümmert hatte; genug wenn ſie die Macht der Krone befeſtigte. Ein anderes Recht außer der Satzung ſeines eigenen Willens erkannte der Welfe nicht an. Gegen die Verfaſſungsgeſetze von 1814 und 1819 hatte er proteſtirt — allerdings nur heimtückiſch, in der Taſche; das Staatsgrundgeſetz hatte er nicht förmlich angenommen. Folglich hielt er ſich an die Geſetze ſeiner Vor- fahren nicht gebunden und rüſtete ſich wohlgemuth zu einem Staatsſtreiche, deſſen Frechheit durch keinerlei Nothſtand beſchönigt werden konnte. Wenn der neue König ſeiner Pflicht gemäß die zu Recht beſtehende Verfaſſung beſchwor, dann mochte er faſt alle ſeine Wünſche auf geſetzlichem Wege durchſetzen. Das Staatsgrundgeſetz beſtand erſt ſeit vier Jahren und hatte noch keine tiefen Wurzeln geſchlagen; nicht blos der Adel murrte, auch das Volk fand wenig Freude an den langweiligen, unfruchtbaren Landtagsverhandlungen. Die durchaus ergebene erſte und die ſehr nach- giebige zweite Kammer ließ ſich zu einigen Verfaſſungsänderungen ſicherlich leicht bewegen, und ſobald erſt ruhig verhandelt wurde, dann mußte der geſchäftskluge Welfe bald ſelbſt einſehen, daß die Vereinigung der Steuer- kaſſe mit der Domänenkaſſe, die er jetzt als eine demagogiſche Neuerung verwünſchte, nur der Krone ſelbſt Vortheile brachte. Ihn aber verblendete die Leidenſchaft. Er hatte durch Schele, den Führer der Adelspartei, Wun- derdinge gehört über den Radicalismus des Staatsgrundgeſetzes, das in Wahrheit die Rechte des Königthums ſorgſamer ſchonte als irgend eine andere der neuen deutſchen Verfaſſungen, und nannte deshalb den Ca- binetsrath Roſe den hannöverſchen John Ruſſell. Wie er die engliſchen Reformer bekämpft hatte, ſo hoffte er in Hannover „der Demokratie die Flügel zu beſchneiden“; und — ſeltſam genug — bei dem rohen Rechts- bruche wirkte auch die bornirte Gewiſſenhaftigkeit mit. Nach ſeiner Auf- faſſung des politiſchen Eides konnte Ernſt Auguſt das Staatsgrundgeſetz nicht beſchwören, weil er ſich dann verpflichtet geglaubt hätte keinen Buch- ſtaben mehr daran zu ändern. Um ſein eigenes Gewiſſen zu ſichern hielt er ſich berechtigt die Gewiſſen ſeiner Unterthanen zu bedrängen. Alſo ſtürmte er blindlings hinein in die Bahn des Unrechts — denn ich bin ein Bock, ſo geſtand er ſelbſt — und getröſtete ſich des altengliſchen Glau- bens, daß die Deutſchen zwar die beſten Soldaten der Welt ſeien, aber von ihren Fürſten Alles gelaſſen hinnähmen.
Drei Tage vor ſeiner Ankunft ſchritt die Bürgerſchaft von Hannover Abends in langem ſchweigendem Zuge hinaus nach dem Schloſſe Mont- brillant um von dem geliebten Herzog von Cambridge Abſchied zu nehmen. Ihrem Wortführer, dem Bürgermeiſter Rumann, und dem guten Vicekönige verſagte faſt die Stimme; Alles fühlte, die gemächliche alte Zeit ging zu Ende. Am Abend des 28. Juni zog der neue König ein, beantwortete die Anrede des Bürgermeiſters mit kurzen, wenig freundlichen Worten und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0663"n="649"/><fwplace="top"type="header">Ernſt Auguſt und Schele.</fw><lb/><p>Wie die neue Verfaſſung beſchaffen ſein ſollte? — das wußte er<lb/>ſelbſt noch nicht, da er ſich um das Land nie bekümmert hatte; genug<lb/>
wenn ſie die Macht der Krone befeſtigte. Ein anderes Recht außer der<lb/>
Satzung ſeines eigenen Willens erkannte der Welfe nicht an. Gegen die<lb/>
Verfaſſungsgeſetze von 1814 und 1819 hatte er proteſtirt — allerdings<lb/>
nur heimtückiſch, in der Taſche; das Staatsgrundgeſetz hatte er nicht<lb/>
förmlich angenommen. Folglich hielt er ſich an die Geſetze ſeiner Vor-<lb/>
fahren nicht gebunden und rüſtete ſich wohlgemuth zu einem Staatsſtreiche,<lb/>
deſſen Frechheit durch keinerlei Nothſtand beſchönigt werden konnte. Wenn<lb/>
der neue König ſeiner Pflicht gemäß die zu Recht beſtehende Verfaſſung<lb/>
beſchwor, dann mochte er faſt alle ſeine Wünſche auf geſetzlichem Wege<lb/>
durchſetzen. Das Staatsgrundgeſetz beſtand erſt ſeit vier Jahren und<lb/>
hatte noch keine tiefen Wurzeln geſchlagen; nicht blos der Adel murrte,<lb/>
auch das Volk fand wenig Freude an den langweiligen, unfruchtbaren<lb/>
Landtagsverhandlungen. Die durchaus ergebene erſte und die ſehr nach-<lb/>
giebige zweite Kammer ließ ſich zu einigen Verfaſſungsänderungen ſicherlich<lb/>
leicht bewegen, und ſobald erſt ruhig verhandelt wurde, dann mußte der<lb/>
geſchäftskluge Welfe bald ſelbſt einſehen, daß die Vereinigung der Steuer-<lb/>
kaſſe mit der Domänenkaſſe, die er jetzt als eine demagogiſche Neuerung<lb/>
verwünſchte, nur der Krone ſelbſt Vortheile brachte. Ihn aber verblendete<lb/>
die Leidenſchaft. Er hatte durch Schele, den Führer der Adelspartei, Wun-<lb/>
derdinge gehört über den Radicalismus des Staatsgrundgeſetzes, das in<lb/>
Wahrheit die Rechte des Königthums ſorgſamer ſchonte als irgend eine<lb/>
andere der neuen deutſchen Verfaſſungen, und nannte deshalb den Ca-<lb/>
binetsrath Roſe den hannöverſchen John Ruſſell. Wie er die engliſchen<lb/>
Reformer bekämpft hatte, ſo hoffte er in Hannover „der Demokratie die<lb/>
Flügel zu beſchneiden“; und —ſeltſam genug — bei dem rohen Rechts-<lb/>
bruche wirkte auch die bornirte Gewiſſenhaftigkeit mit. Nach ſeiner Auf-<lb/>
faſſung des politiſchen Eides konnte Ernſt Auguſt das Staatsgrundgeſetz<lb/>
nicht beſchwören, weil er ſich dann verpflichtet geglaubt hätte keinen Buch-<lb/>ſtaben mehr daran zu ändern. Um ſein eigenes Gewiſſen zu ſichern hielt<lb/>
er ſich berechtigt die Gewiſſen ſeiner Unterthanen zu bedrängen. Alſo<lb/>ſtürmte er blindlings hinein in die Bahn des Unrechts — denn ich bin<lb/>
ein Bock, ſo geſtand er ſelbſt — und getröſtete ſich des altengliſchen Glau-<lb/>
bens, daß die Deutſchen zwar die beſten Soldaten der Welt ſeien, aber<lb/>
von ihren Fürſten Alles gelaſſen hinnähmen.</p><lb/><p>Drei Tage vor ſeiner Ankunft ſchritt die Bürgerſchaft von Hannover<lb/>
Abends in langem ſchweigendem Zuge hinaus nach dem Schloſſe Mont-<lb/>
brillant um von dem geliebten Herzog von Cambridge Abſchied zu nehmen.<lb/>
Ihrem Wortführer, dem Bürgermeiſter Rumann, und dem guten Vicekönige<lb/>
verſagte faſt die Stimme; Alles fühlte, die gemächliche alte Zeit ging zu<lb/>
Ende. Am Abend des 28. Juni zog der neue König ein, beantwortete die<lb/>
Anrede des Bürgermeiſters mit kurzen, wenig freundlichen Worten und<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[649/0663]
Ernſt Auguſt und Schele.
Wie die neue Verfaſſung beſchaffen ſein ſollte? — das wußte er
ſelbſt noch nicht, da er ſich um das Land nie bekümmert hatte; genug
wenn ſie die Macht der Krone befeſtigte. Ein anderes Recht außer der
Satzung ſeines eigenen Willens erkannte der Welfe nicht an. Gegen die
Verfaſſungsgeſetze von 1814 und 1819 hatte er proteſtirt — allerdings
nur heimtückiſch, in der Taſche; das Staatsgrundgeſetz hatte er nicht
förmlich angenommen. Folglich hielt er ſich an die Geſetze ſeiner Vor-
fahren nicht gebunden und rüſtete ſich wohlgemuth zu einem Staatsſtreiche,
deſſen Frechheit durch keinerlei Nothſtand beſchönigt werden konnte. Wenn
der neue König ſeiner Pflicht gemäß die zu Recht beſtehende Verfaſſung
beſchwor, dann mochte er faſt alle ſeine Wünſche auf geſetzlichem Wege
durchſetzen. Das Staatsgrundgeſetz beſtand erſt ſeit vier Jahren und
hatte noch keine tiefen Wurzeln geſchlagen; nicht blos der Adel murrte,
auch das Volk fand wenig Freude an den langweiligen, unfruchtbaren
Landtagsverhandlungen. Die durchaus ergebene erſte und die ſehr nach-
giebige zweite Kammer ließ ſich zu einigen Verfaſſungsänderungen ſicherlich
leicht bewegen, und ſobald erſt ruhig verhandelt wurde, dann mußte der
geſchäftskluge Welfe bald ſelbſt einſehen, daß die Vereinigung der Steuer-
kaſſe mit der Domänenkaſſe, die er jetzt als eine demagogiſche Neuerung
verwünſchte, nur der Krone ſelbſt Vortheile brachte. Ihn aber verblendete
die Leidenſchaft. Er hatte durch Schele, den Führer der Adelspartei, Wun-
derdinge gehört über den Radicalismus des Staatsgrundgeſetzes, das in
Wahrheit die Rechte des Königthums ſorgſamer ſchonte als irgend eine
andere der neuen deutſchen Verfaſſungen, und nannte deshalb den Ca-
binetsrath Roſe den hannöverſchen John Ruſſell. Wie er die engliſchen
Reformer bekämpft hatte, ſo hoffte er in Hannover „der Demokratie die
Flügel zu beſchneiden“; und — ſeltſam genug — bei dem rohen Rechts-
bruche wirkte auch die bornirte Gewiſſenhaftigkeit mit. Nach ſeiner Auf-
faſſung des politiſchen Eides konnte Ernſt Auguſt das Staatsgrundgeſetz
nicht beſchwören, weil er ſich dann verpflichtet geglaubt hätte keinen Buch-
ſtaben mehr daran zu ändern. Um ſein eigenes Gewiſſen zu ſichern hielt
er ſich berechtigt die Gewiſſen ſeiner Unterthanen zu bedrängen. Alſo
ſtürmte er blindlings hinein in die Bahn des Unrechts — denn ich bin
ein Bock, ſo geſtand er ſelbſt — und getröſtete ſich des altengliſchen Glau-
bens, daß die Deutſchen zwar die beſten Soldaten der Welt ſeien, aber
von ihren Fürſten Alles gelaſſen hinnähmen.
Drei Tage vor ſeiner Ankunft ſchritt die Bürgerſchaft von Hannover
Abends in langem ſchweigendem Zuge hinaus nach dem Schloſſe Mont-
brillant um von dem geliebten Herzog von Cambridge Abſchied zu nehmen.
Ihrem Wortführer, dem Bürgermeiſter Rumann, und dem guten Vicekönige
verſagte faſt die Stimme; Alles fühlte, die gemächliche alte Zeit ging zu
Ende. Am Abend des 28. Juni zog der neue König ein, beantwortete die
Anrede des Bürgermeiſters mit kurzen, wenig freundlichen Worten und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 649. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/663>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.