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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Bunsen's Denkschrift über den Kirchenstaat.
Theokratie ist Kastenherrschaft; die unerläßliche Vorbedingung aller Re-
formen, die Gleichstellung der Laien durfte der gekrönte Priester nicht im
Ernst zugestehen.

Unterdessen forderte Frankreich, im Namen der heiligen Nicht-Ein-
mischungslehre, laut und lauter die Räumung des Kirchenstaates, obgleich
der Papst selber das längere Verweilen der Besatzungstruppen dringend
wünschte und Jedermann in Bälde einen zweiten Aufstand erwartete.
Ueber den langwierigen gereizten Verhandlungen rückte endlich der Tag
heran, da die Pariser Kammern wieder zusammentreten sollten. Da
spielte Ludwig Philipp den letzten Trumpf aus, der ihm fortan immer
zu seinen Schein-Erfolgen verhelfen mußte; er erklärte: wenn Oesterreich
nicht rechtzeitig die Romagna räume, dann könne er die Leidenschaften
seiner Volksvertreter nicht mehr zurückhalten, und der Krieg werde un-
vermeidlich. Nunmehr gab Metternich in der Form nach, da er doch
seinen wesentlichen Zweck erreicht hatte. Die kaiserlichen Truppen zogen
im Juli ab, aber zugleich schloß Graf Lützow mit der dankbaren Curie
einen geheimen Vertrag, kraft dessen Oesterreich sich verpflichtete, die Sou-
veränität des Papstes unter allen Umständen aufrechtzuerhalten, also beim
nächsten Aufstande den Kirchenstaat sogleich wieder zu besetzen. Für diesen
Fall erbat sich Metternich jetzt schon vorsorglich Preußens und Rußlands
Unterstützung.*) Siegesfroh erzählten die Minister des Bürgerkönigs der
tiefen Unwissenheit ihrer Abgeordneten das Märchen, daß Frankreich den
Papst von dem kaiserlichen Joche befreit habe. In Wahrheit stemmte der
Kaiserstaat fester denn jemals seinen Fuß auf Italiens Nacken. Das buh-
lerische Spiel der Orleans mit den Geheimbünden der Revolution trieb alle
Fürsten der Halbinsel, auch den unberechenbaren Karl Albert dem Wiener
Hofe in die Arme; in den nächsten Jahren blieb Oesterreich unbestritten die
Vormacht Italiens. Unter der Jugend des Landes aber wendeten sich schon
einzelne helle Köpfe, wie Graf Camillo Cavour, den constitutionellen Ideen
des neuen Frankreichs zu; und ebenso folgenreich ward es für eine ferne
Zukunft, daß Ludwig Napoleon hier zuerst in die Gesellschaft der Dema-
gogen eintrat. Der Prinz verlor während jener Wirren in der Romagna
seinen älteren Bruder durch den Tod, und als bald darauf (Juli 1832)
auch der Herzog von Reichstadt starb, da gingen die Erbansprüche des
napoleonischen Hauses auf diesen jungen Schweiger über. Der kriegerische
Bonapartismus war mit dem stolzen König von Rom ins Grab gesunken;
der neue Prätendent ging die stillen Wege des Verschwörers. --

Auch in der Schweiz fand die Juli-Revolution ein Nachspiel. Nicht
umsonst hatten die Eidgenossen während der müden Jahre der Restaura-
tion ein von außen her ungestörtes Stillleben geführt; sie zeigten sich
jetzt bei Weitem weniger abhängig von den Pariser Ideen als einst, da

*) Metternich an Trauttmansdorff, 5. Sept. 1831.

Bunſen’s Denkſchrift über den Kirchenſtaat.
Theokratie iſt Kaſtenherrſchaft; die unerläßliche Vorbedingung aller Re-
formen, die Gleichſtellung der Laien durfte der gekrönte Prieſter nicht im
Ernſt zugeſtehen.

Unterdeſſen forderte Frankreich, im Namen der heiligen Nicht-Ein-
miſchungslehre, laut und lauter die Räumung des Kirchenſtaates, obgleich
der Papſt ſelber das längere Verweilen der Beſatzungstruppen dringend
wünſchte und Jedermann in Bälde einen zweiten Aufſtand erwartete.
Ueber den langwierigen gereizten Verhandlungen rückte endlich der Tag
heran, da die Pariſer Kammern wieder zuſammentreten ſollten. Da
ſpielte Ludwig Philipp den letzten Trumpf aus, der ihm fortan immer
zu ſeinen Schein-Erfolgen verhelfen mußte; er erklärte: wenn Oeſterreich
nicht rechtzeitig die Romagna räume, dann könne er die Leidenſchaften
ſeiner Volksvertreter nicht mehr zurückhalten, und der Krieg werde un-
vermeidlich. Nunmehr gab Metternich in der Form nach, da er doch
ſeinen weſentlichen Zweck erreicht hatte. Die kaiſerlichen Truppen zogen
im Juli ab, aber zugleich ſchloß Graf Lützow mit der dankbaren Curie
einen geheimen Vertrag, kraft deſſen Oeſterreich ſich verpflichtete, die Sou-
veränität des Papſtes unter allen Umſtänden aufrechtzuerhalten, alſo beim
nächſten Aufſtande den Kirchenſtaat ſogleich wieder zu beſetzen. Für dieſen
Fall erbat ſich Metternich jetzt ſchon vorſorglich Preußens und Rußlands
Unterſtützung.*) Siegesfroh erzählten die Miniſter des Bürgerkönigs der
tiefen Unwiſſenheit ihrer Abgeordneten das Märchen, daß Frankreich den
Papſt von dem kaiſerlichen Joche befreit habe. In Wahrheit ſtemmte der
Kaiſerſtaat feſter denn jemals ſeinen Fuß auf Italiens Nacken. Das buh-
leriſche Spiel der Orleans mit den Geheimbünden der Revolution trieb alle
Fürſten der Halbinſel, auch den unberechenbaren Karl Albert dem Wiener
Hofe in die Arme; in den nächſten Jahren blieb Oeſterreich unbeſtritten die
Vormacht Italiens. Unter der Jugend des Landes aber wendeten ſich ſchon
einzelne helle Köpfe, wie Graf Camillo Cavour, den conſtitutionellen Ideen
des neuen Frankreichs zu; und ebenſo folgenreich ward es für eine ferne
Zukunft, daß Ludwig Napoleon hier zuerſt in die Geſellſchaft der Dema-
gogen eintrat. Der Prinz verlor während jener Wirren in der Romagna
ſeinen älteren Bruder durch den Tod, und als bald darauf (Juli 1832)
auch der Herzog von Reichſtadt ſtarb, da gingen die Erbanſprüche des
napoleoniſchen Hauſes auf dieſen jungen Schweiger über. Der kriegeriſche
Bonapartismus war mit dem ſtolzen König von Rom ins Grab geſunken;
der neue Prätendent ging die ſtillen Wege des Verſchwörers. —

Auch in der Schweiz fand die Juli-Revolution ein Nachſpiel. Nicht
umſonſt hatten die Eidgenoſſen während der müden Jahre der Reſtaura-
tion ein von außen her ungeſtörtes Stillleben geführt; ſie zeigten ſich
jetzt bei Weitem weniger abhängig von den Pariſer Ideen als einſt, da

*) Metternich an Trauttmansdorff, 5. Sept. 1831.
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[69/0083] Bunſen’s Denkſchrift über den Kirchenſtaat. Theokratie iſt Kaſtenherrſchaft; die unerläßliche Vorbedingung aller Re- formen, die Gleichſtellung der Laien durfte der gekrönte Prieſter nicht im Ernſt zugeſtehen. Unterdeſſen forderte Frankreich, im Namen der heiligen Nicht-Ein- miſchungslehre, laut und lauter die Räumung des Kirchenſtaates, obgleich der Papſt ſelber das längere Verweilen der Beſatzungstruppen dringend wünſchte und Jedermann in Bälde einen zweiten Aufſtand erwartete. Ueber den langwierigen gereizten Verhandlungen rückte endlich der Tag heran, da die Pariſer Kammern wieder zuſammentreten ſollten. Da ſpielte Ludwig Philipp den letzten Trumpf aus, der ihm fortan immer zu ſeinen Schein-Erfolgen verhelfen mußte; er erklärte: wenn Oeſterreich nicht rechtzeitig die Romagna räume, dann könne er die Leidenſchaften ſeiner Volksvertreter nicht mehr zurückhalten, und der Krieg werde un- vermeidlich. Nunmehr gab Metternich in der Form nach, da er doch ſeinen weſentlichen Zweck erreicht hatte. Die kaiſerlichen Truppen zogen im Juli ab, aber zugleich ſchloß Graf Lützow mit der dankbaren Curie einen geheimen Vertrag, kraft deſſen Oeſterreich ſich verpflichtete, die Sou- veränität des Papſtes unter allen Umſtänden aufrechtzuerhalten, alſo beim nächſten Aufſtande den Kirchenſtaat ſogleich wieder zu beſetzen. Für dieſen Fall erbat ſich Metternich jetzt ſchon vorſorglich Preußens und Rußlands Unterſtützung. *) Siegesfroh erzählten die Miniſter des Bürgerkönigs der tiefen Unwiſſenheit ihrer Abgeordneten das Märchen, daß Frankreich den Papſt von dem kaiſerlichen Joche befreit habe. In Wahrheit ſtemmte der Kaiſerſtaat feſter denn jemals ſeinen Fuß auf Italiens Nacken. Das buh- leriſche Spiel der Orleans mit den Geheimbünden der Revolution trieb alle Fürſten der Halbinſel, auch den unberechenbaren Karl Albert dem Wiener Hofe in die Arme; in den nächſten Jahren blieb Oeſterreich unbeſtritten die Vormacht Italiens. Unter der Jugend des Landes aber wendeten ſich ſchon einzelne helle Köpfe, wie Graf Camillo Cavour, den conſtitutionellen Ideen des neuen Frankreichs zu; und ebenſo folgenreich ward es für eine ferne Zukunft, daß Ludwig Napoleon hier zuerſt in die Geſellſchaft der Dema- gogen eintrat. Der Prinz verlor während jener Wirren in der Romagna ſeinen älteren Bruder durch den Tod, und als bald darauf (Juli 1832) auch der Herzog von Reichſtadt ſtarb, da gingen die Erbanſprüche des napoleoniſchen Hauſes auf dieſen jungen Schweiger über. Der kriegeriſche Bonapartismus war mit dem ſtolzen König von Rom ins Grab geſunken; der neue Prätendent ging die ſtillen Wege des Verſchwörers. — Auch in der Schweiz fand die Juli-Revolution ein Nachſpiel. Nicht umſonſt hatten die Eidgenoſſen während der müden Jahre der Reſtaura- tion ein von außen her ungeſtörtes Stillleben geführt; ſie zeigten ſich jetzt bei Weitem weniger abhängig von den Pariſer Ideen als einſt, da *) Metternich an Trauttmansdorff, 5. Sept. 1831.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/83>, abgerufen am 27.11.2024.