Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.Anton Stolberg. Thile. vordem Graf Lottum, die regelmäßigen politischen Vorträge hielt. Einernster gläubiger Sinn, redlich und ohne Wortprunk war in der preußi- schen Armee von jeher heimisch; fast alle ihre berühmten Führer meinten mit dem alten Dessauer: ein Soldat ohne Gottesfurcht ist nur ein Matz; sie thaten unbefangen ihre Pflicht und stellten das ungewisse Schicksal des Kriegers demüthig dem Herrn der Heerschaaren anheim. Jetzt, unter einem theologisirenden friedfertigen Könige, gewann ein neuer, ganz un- preußischer Schlag von Offizieren die Gunst des Hofes, Männer, denen das Gebetbuch theuerer war als der Degen, Soldaten nicht ohne mili- tärisches Verdienst -- denn Alle hatten sie im letzten Kriege sich ritter- lich gehalten -- aber ohne den rechten, die ganze Seele erfüllenden mili- tärischen Ehrgeiz. Ihre salbungsvolle Frömmigkeit erinnerte an Cromwell's gottselige Dragoner; von der fürchterlichen Härte der Puritaner besaßen diese sanften romantischen Gläubigen freilich nichts. Zu ihnen zählte auch Thile. Dem unscheinbaren kleinen Manne sah man nicht sogleich an, wie brauchbar er in den Geschäften war, fleißig, gewissenhaft, federgewandt und that es noth auch beredsam. An seinem Charakter haftete kein Makel; in stillem Wohlthun war er unermüdlich, selbst einen persönlichen Feind, der ins Unglück gerathen war, unterstützte er jahrelang unerkannt aus seinen bescheidenen Mitteln. Befreundet mit Boyen und manchen an- deren Offizieren von freierer Richtung, hielt er sich den politischen Ex- tremen fern und scheute sich nie dem heißgeliebten Monarchen ehrlich zu widersprechen. Jedoch zu selbständigen staatsmännischen Ideen erhob er sich nicht, und nur zu oft ward sein politischer Blick getrübt durch eine überspannte, mystische Frömmigkeit, die ihm bei den Berliner Spöttern den Namen des Bibel-Thile verschaffte. Noch vor Kurzem hatte er ernst- lich daran gedacht, als Missionär nach Australien oder Afrika zu gehen. Ebenso leidenschaftlich wie Friedrich Wilhelm verabscheute er jene neuen Philosophen, welche, wie man bei Hofe sagte, die Bibel hegelten und den Hegel bibelten; noch tiefer als der König war er durchdrungen von der Ueberzeugung, daß jetzt der entscheidende Kampf zwischen Glauben und Unglauben herannahte und neben diesem einen großen Gegensatze alle con- fessionellen Unterschiede verschwänden. Er glaubte nicht nur an die gött- liche Führung der Geschichte mit einer fatalistischen Zuversicht, welche ihm leicht die freie Thatkraft hemmte; er glaubte auch an die unmittelbare Einwirkung der himmlischen Gnade auf die weltlichen Entschlüsse, und in solchen Augenblicken der Verzückung ward seine politische Haltung schlechthin unberechenbar. Als er einmal dem Grafen Stolberg seine Meinung über die Neuenburger Händel auseinandergesetzt hatte, schrieb er dem Freunde schon nach wenigen Stunden: "Heute früh sah ich nur mit dem Auge des natürlichen Menschen in der Sache und faßte sie nur von der sogenannten politischen Seite auf." Dafür wurde ich am Abend beschämt, als "mir die Worte entgegengetragen wurden, daß über alle 2*
Anton Stolberg. Thile. vordem Graf Lottum, die regelmäßigen politiſchen Vorträge hielt. Einernſter gläubiger Sinn, redlich und ohne Wortprunk war in der preußi- ſchen Armee von jeher heimiſch; faſt alle ihre berühmten Führer meinten mit dem alten Deſſauer: ein Soldat ohne Gottesfurcht iſt nur ein Matz; ſie thaten unbefangen ihre Pflicht und ſtellten das ungewiſſe Schickſal des Kriegers demüthig dem Herrn der Heerſchaaren anheim. Jetzt, unter einem theologiſirenden friedfertigen Könige, gewann ein neuer, ganz un- preußiſcher Schlag von Offizieren die Gunſt des Hofes, Männer, denen das Gebetbuch theuerer war als der Degen, Soldaten nicht ohne mili- täriſches Verdienſt — denn Alle hatten ſie im letzten Kriege ſich ritter- lich gehalten — aber ohne den rechten, die ganze Seele erfüllenden mili- täriſchen Ehrgeiz. Ihre ſalbungsvolle Frömmigkeit erinnerte an Cromwell’s gottſelige Dragoner; von der fürchterlichen Härte der Puritaner beſaßen dieſe ſanften romantiſchen Gläubigen freilich nichts. Zu ihnen zählte auch Thile. Dem unſcheinbaren kleinen Manne ſah man nicht ſogleich an, wie brauchbar er in den Geſchäften war, fleißig, gewiſſenhaft, federgewandt und that es noth auch beredſam. An ſeinem Charakter haftete kein Makel; in ſtillem Wohlthun war er unermüdlich, ſelbſt einen perſönlichen Feind, der ins Unglück gerathen war, unterſtützte er jahrelang unerkannt aus ſeinen beſcheidenen Mitteln. Befreundet mit Boyen und manchen an- deren Offizieren von freierer Richtung, hielt er ſich den politiſchen Ex- tremen fern und ſcheute ſich nie dem heißgeliebten Monarchen ehrlich zu widerſprechen. Jedoch zu ſelbſtändigen ſtaatsmänniſchen Ideen erhob er ſich nicht, und nur zu oft ward ſein politiſcher Blick getrübt durch eine überſpannte, myſtiſche Frömmigkeit, die ihm bei den Berliner Spöttern den Namen des Bibel-Thile verſchaffte. Noch vor Kurzem hatte er ernſt- lich daran gedacht, als Miſſionär nach Auſtralien oder Afrika zu gehen. Ebenſo leidenſchaftlich wie Friedrich Wilhelm verabſcheute er jene neuen Philoſophen, welche, wie man bei Hofe ſagte, die Bibel hegelten und den Hegel bibelten; noch tiefer als der König war er durchdrungen von der Ueberzeugung, daß jetzt der entſcheidende Kampf zwiſchen Glauben und Unglauben herannahte und neben dieſem einen großen Gegenſatze alle con- feſſionellen Unterſchiede verſchwänden. Er glaubte nicht nur an die gött- liche Führung der Geſchichte mit einer fataliſtiſchen Zuverſicht, welche ihm leicht die freie Thatkraft hemmte; er glaubte auch an die unmittelbare Einwirkung der himmliſchen Gnade auf die weltlichen Entſchlüſſe, und in ſolchen Augenblicken der Verzückung ward ſeine politiſche Haltung ſchlechthin unberechenbar. Als er einmal dem Grafen Stolberg ſeine Meinung über die Neuenburger Händel auseinandergeſetzt hatte, ſchrieb er dem Freunde ſchon nach wenigen Stunden: „Heute früh ſah ich nur mit dem Auge des natürlichen Menſchen in der Sache und faßte ſie nur von der ſogenannten politiſchen Seite auf.“ Dafür wurde ich am Abend beſchämt, als „mir die Worte entgegengetragen wurden, daß über alle 2*
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Anton Stolberg. Thile.
vordem Graf Lottum, die regelmäßigen politiſchen Vorträge hielt. Ein
ernſter gläubiger Sinn, redlich und ohne Wortprunk war in der preußi-
ſchen Armee von jeher heimiſch; faſt alle ihre berühmten Führer meinten
mit dem alten Deſſauer: ein Soldat ohne Gottesfurcht iſt nur ein Matz;
ſie thaten unbefangen ihre Pflicht und ſtellten das ungewiſſe Schickſal des
Kriegers demüthig dem Herrn der Heerſchaaren anheim. Jetzt, unter
einem theologiſirenden friedfertigen Könige, gewann ein neuer, ganz un-
preußiſcher Schlag von Offizieren die Gunſt des Hofes, Männer, denen
das Gebetbuch theuerer war als der Degen, Soldaten nicht ohne mili-
täriſches Verdienſt — denn Alle hatten ſie im letzten Kriege ſich ritter-
lich gehalten — aber ohne den rechten, die ganze Seele erfüllenden mili-
täriſchen Ehrgeiz. Ihre ſalbungsvolle Frömmigkeit erinnerte an Cromwell’s
gottſelige Dragoner; von der fürchterlichen Härte der Puritaner beſaßen
dieſe ſanften romantiſchen Gläubigen freilich nichts. Zu ihnen zählte auch
Thile. Dem unſcheinbaren kleinen Manne ſah man nicht ſogleich an, wie
brauchbar er in den Geſchäften war, fleißig, gewiſſenhaft, federgewandt
und that es noth auch beredſam. An ſeinem Charakter haftete kein Makel;
in ſtillem Wohlthun war er unermüdlich, ſelbſt einen perſönlichen Feind,
der ins Unglück gerathen war, unterſtützte er jahrelang unerkannt aus
ſeinen beſcheidenen Mitteln. Befreundet mit Boyen und manchen an-
deren Offizieren von freierer Richtung, hielt er ſich den politiſchen Ex-
tremen fern und ſcheute ſich nie dem heißgeliebten Monarchen ehrlich zu
widerſprechen. Jedoch zu ſelbſtändigen ſtaatsmänniſchen Ideen erhob er
ſich nicht, und nur zu oft ward ſein politiſcher Blick getrübt durch eine
überſpannte, myſtiſche Frömmigkeit, die ihm bei den Berliner Spöttern
den Namen des Bibel-Thile verſchaffte. Noch vor Kurzem hatte er ernſt-
lich daran gedacht, als Miſſionär nach Auſtralien oder Afrika zu gehen.
Ebenſo leidenſchaftlich wie Friedrich Wilhelm verabſcheute er jene neuen
Philoſophen, welche, wie man bei Hofe ſagte, die Bibel hegelten und den
Hegel bibelten; noch tiefer als der König war er durchdrungen von der
Ueberzeugung, daß jetzt der entſcheidende Kampf zwiſchen Glauben und
Unglauben herannahte und neben dieſem einen großen Gegenſatze alle con-
feſſionellen Unterſchiede verſchwänden. Er glaubte nicht nur an die gött-
liche Führung der Geſchichte mit einer fataliſtiſchen Zuverſicht, welche ihm
leicht die freie Thatkraft hemmte; er glaubte auch an die unmittelbare
Einwirkung der himmliſchen Gnade auf die weltlichen Entſchlüſſe, und in
ſolchen Augenblicken der Verzückung ward ſeine politiſche Haltung ſchlechthin
unberechenbar. Als er einmal dem Grafen Stolberg ſeine Meinung
über die Neuenburger Händel auseinandergeſetzt hatte, ſchrieb er dem
Freunde ſchon nach wenigen Stunden: „Heute früh ſah ich nur mit
dem Auge des natürlichen Menſchen in der Sache und faßte ſie nur
von der ſogenannten politiſchen Seite auf.“ Dafür wurde ich am Abend
beſchämt, als „mir die Worte entgegengetragen wurden, daß über alle
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