und mit solchem Erfolge, daß viele Schulkinder, auch mehrere Zöglinge des Münchener Blindenhauses in die römische Kirche einzutreten verlangten. Der Clerus nahm die minderjährigen Proselyten allesammt unbedenklich an, obgleich das der Verfassung angehängte Religionsedikt den Uebertritt Unmündiger ausdrücklich verbot. Abel indeß erklärte dreist, dies Verbot widerspreche der natürlichen Gewissensfreiheit und dem Concordate. Also erweckte er muthwillig, bei einer höchst gehässigen Veranlassung, die alte noch niemals klar entschiedene Streitfrage: ob die Verfassung vorgehe oder das Concordat? Drang seine Ansicht durch, dann verlor die protestantische Kirche Baierns den Rechtsboden unter ihren Füßen.
Ebenso roh zeigte sich die Parteilichkeit der Regierung, als der neue Gustav-Adolfs-Verein sich in Baiern auszubreiten versuchte. Diese Stiftung war schon vor Jahren, nach der großen Erinnerungsfeier auf dem Lützener Schlachtfelde gegründet, aber erst seit 1841, in Folge eines Aufrufs des Darmstädter Prälaten Zimmermann, reicher ausgestaltet worden. Sie sollte vornehmlich den Protestanten in der Diaspora beistehen, ihnen die Gründung neuer Kirchen und Gemeinden erleichtern, also, gemäß dem Geiste des Protestantismus, in voller Freiheit und bescheidener Form den riesigen Machtmitteln der römischen Propaganda entgegenwirken. Da jener Aufruf aus den Kreisen der liberalen Theologen kam und der gleichgesinnte Leipziger Superintendent Großmann bald an die Spitze trat, so betrachteten die Orthodoxen den Verein anfangs mit Mißtrauen. Hengstenberg nannte ihn mit gewohntem Fanatismus eine große Lüge; denn allerdings waren in den letzten Jahrzehnten die Unternehmungen evangelischer Werkthätigkeit allesammt von den strengen Bibelgläubigen ausgegangen, und diese erste Regung kirchlicher Thatkraft unter den milder gesinnten Theologen eine ganz unerhörte Erscheinung. Auch König Friedrich Wilhelm blieb lange argwöhnisch, bis er endlich einsah, daß der Gustav-Adolfs-Verein wirklich alle Parteien der evangelischen Kirche zum gemeinsamen Liebeswerke heran- rufen wollte. Da übernahm er selbst für Preußen das Protectorat der Stiftung. Freilich versicherte er zugleich seinen katholischen Landesbischöfen, daß damit keine Feindseligkeit gegen die römische Kirche gemeint sei -- was viele gute Protestanten, selbst der getreue Anton Stolberg als un- königliche Schwäche beklagten. Seitdem nahm der Verein einen erfreu- lichen Aufschwung; das Vaterland der Reformation gab durch kräftige Unterstützung der bedrängten Glaubensgenossen die würdige Antwort auf die Uebergriffe des römischen Stuhls.
Leider war der Name der Gustav-Adolf-Stiftung unglücklich gewählt. Zertheilte Völker, die sich ihrer Einheit entgegensehnen, zeigen oft ein krankhaft reizbares Nationalgefühl; sie urtheilen ungerecht über die Zeiten, da sie ausheimischen Gewalten unterlagen, und verkennen die Thatsache, daß jedes Culturvolk Europas, selbst das englische Inselvolk, irgend einmal durch das Eingreifen großer Fremdlinge in seiner Entwicklung gefördert
V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
und mit ſolchem Erfolge, daß viele Schulkinder, auch mehrere Zöglinge des Münchener Blindenhauſes in die römiſche Kirche einzutreten verlangten. Der Clerus nahm die minderjährigen Proſelyten alleſammt unbedenklich an, obgleich das der Verfaſſung angehängte Religionsedikt den Uebertritt Unmündiger ausdrücklich verbot. Abel indeß erklärte dreiſt, dies Verbot widerſpreche der natürlichen Gewiſſensfreiheit und dem Concordate. Alſo erweckte er muthwillig, bei einer höchſt gehäſſigen Veranlaſſung, die alte noch niemals klar entſchiedene Streitfrage: ob die Verfaſſung vorgehe oder das Concordat? Drang ſeine Anſicht durch, dann verlor die proteſtantiſche Kirche Baierns den Rechtsboden unter ihren Füßen.
Ebenſo roh zeigte ſich die Parteilichkeit der Regierung, als der neue Guſtav-Adolfs-Verein ſich in Baiern auszubreiten verſuchte. Dieſe Stiftung war ſchon vor Jahren, nach der großen Erinnerungsfeier auf dem Lützener Schlachtfelde gegründet, aber erſt ſeit 1841, in Folge eines Aufrufs des Darmſtädter Prälaten Zimmermann, reicher ausgeſtaltet worden. Sie ſollte vornehmlich den Proteſtanten in der Diaſpora beiſtehen, ihnen die Gründung neuer Kirchen und Gemeinden erleichtern, alſo, gemäß dem Geiſte des Proteſtantismus, in voller Freiheit und beſcheidener Form den rieſigen Machtmitteln der römiſchen Propaganda entgegenwirken. Da jener Aufruf aus den Kreiſen der liberalen Theologen kam und der gleichgeſinnte Leipziger Superintendent Großmann bald an die Spitze trat, ſo betrachteten die Orthodoxen den Verein anfangs mit Mißtrauen. Hengſtenberg nannte ihn mit gewohntem Fanatismus eine große Lüge; denn allerdings waren in den letzten Jahrzehnten die Unternehmungen evangeliſcher Werkthätigkeit alleſammt von den ſtrengen Bibelgläubigen ausgegangen, und dieſe erſte Regung kirchlicher Thatkraft unter den milder geſinnten Theologen eine ganz unerhörte Erſcheinung. Auch König Friedrich Wilhelm blieb lange argwöhniſch, bis er endlich einſah, daß der Guſtav-Adolfs-Verein wirklich alle Parteien der evangeliſchen Kirche zum gemeinſamen Liebeswerke heran- rufen wollte. Da übernahm er ſelbſt für Preußen das Protectorat der Stiftung. Freilich verſicherte er zugleich ſeinen katholiſchen Landesbiſchöfen, daß damit keine Feindſeligkeit gegen die römiſche Kirche gemeint ſei — was viele gute Proteſtanten, ſelbſt der getreue Anton Stolberg als un- königliche Schwäche beklagten. Seitdem nahm der Verein einen erfreu- lichen Aufſchwung; das Vaterland der Reformation gab durch kräftige Unterſtützung der bedrängten Glaubensgenoſſen die würdige Antwort auf die Uebergriffe des römiſchen Stuhls.
Leider war der Name der Guſtav-Adolf-Stiftung unglücklich gewählt. Zertheilte Völker, die ſich ihrer Einheit entgegenſehnen, zeigen oft ein krankhaft reizbares Nationalgefühl; ſie urtheilen ungerecht über die Zeiten, da ſie ausheimiſchen Gewalten unterlagen, und verkennen die Thatſache, daß jedes Culturvolk Europas, ſelbſt das engliſche Inſelvolk, irgend einmal durch das Eingreifen großer Fremdlinge in ſeiner Entwicklung gefördert
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0332"n="318"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">V.</hi> 4. Die Parteiung in der Kirche.</fw><lb/>
und mit ſolchem Erfolge, daß viele Schulkinder, auch mehrere Zöglinge<lb/>
des Münchener Blindenhauſes in die römiſche Kirche einzutreten verlangten.<lb/>
Der Clerus nahm die minderjährigen Proſelyten alleſammt unbedenklich<lb/>
an, obgleich das der Verfaſſung angehängte Religionsedikt den Uebertritt<lb/>
Unmündiger ausdrücklich verbot. Abel indeß erklärte dreiſt, dies Verbot<lb/>
widerſpreche der natürlichen Gewiſſensfreiheit und dem Concordate. Alſo<lb/>
erweckte er muthwillig, bei einer höchſt gehäſſigen Veranlaſſung, die alte<lb/>
noch niemals klar entſchiedene Streitfrage: ob die Verfaſſung vorgehe oder<lb/>
das Concordat? Drang ſeine Anſicht durch, dann verlor die proteſtantiſche<lb/>
Kirche Baierns den Rechtsboden unter ihren Füßen.</p><lb/><p>Ebenſo roh zeigte ſich die Parteilichkeit der Regierung, als der neue<lb/>
Guſtav-Adolfs-Verein ſich in Baiern auszubreiten verſuchte. Dieſe Stiftung<lb/>
war ſchon vor Jahren, nach der großen Erinnerungsfeier auf dem Lützener<lb/>
Schlachtfelde gegründet, aber erſt ſeit 1841, in Folge eines Aufrufs des<lb/>
Darmſtädter Prälaten Zimmermann, reicher ausgeſtaltet worden. Sie<lb/>ſollte vornehmlich den Proteſtanten in der Diaſpora beiſtehen, ihnen die<lb/>
Gründung neuer Kirchen und Gemeinden erleichtern, alſo, gemäß dem<lb/>
Geiſte des Proteſtantismus, in voller Freiheit und beſcheidener Form den<lb/>
rieſigen Machtmitteln der römiſchen Propaganda entgegenwirken. Da jener<lb/>
Aufruf aus den Kreiſen der liberalen Theologen kam und der gleichgeſinnte<lb/>
Leipziger Superintendent Großmann bald an die Spitze trat, ſo betrachteten<lb/>
die Orthodoxen den Verein anfangs mit Mißtrauen. Hengſtenberg nannte<lb/>
ihn mit gewohntem Fanatismus eine große Lüge; denn allerdings waren<lb/>
in den letzten Jahrzehnten die Unternehmungen evangeliſcher Werkthätigkeit<lb/>
alleſammt von den ſtrengen Bibelgläubigen ausgegangen, und dieſe erſte<lb/>
Regung kirchlicher Thatkraft unter den milder geſinnten Theologen eine<lb/>
ganz unerhörte Erſcheinung. Auch König Friedrich Wilhelm blieb lange<lb/>
argwöhniſch, bis er endlich einſah, daß der Guſtav-Adolfs-Verein wirklich<lb/>
alle Parteien der evangeliſchen Kirche zum gemeinſamen Liebeswerke heran-<lb/>
rufen wollte. Da übernahm er ſelbſt für Preußen das Protectorat der<lb/>
Stiftung. Freilich verſicherte er zugleich ſeinen katholiſchen Landesbiſchöfen,<lb/>
daß damit keine Feindſeligkeit gegen die römiſche Kirche gemeint ſei —<lb/>
was viele gute Proteſtanten, ſelbſt der getreue Anton Stolberg als un-<lb/>
königliche Schwäche beklagten. Seitdem nahm der Verein einen erfreu-<lb/>
lichen Aufſchwung; das Vaterland der Reformation gab durch kräftige<lb/>
Unterſtützung der bedrängten Glaubensgenoſſen die würdige Antwort auf<lb/>
die Uebergriffe des römiſchen Stuhls.</p><lb/><p>Leider war der Name der Guſtav-Adolf-Stiftung unglücklich gewählt.<lb/>
Zertheilte Völker, die ſich ihrer Einheit entgegenſehnen, zeigen oft ein<lb/>
krankhaft reizbares Nationalgefühl; ſie urtheilen ungerecht über die Zeiten,<lb/>
da ſie ausheimiſchen Gewalten unterlagen, und verkennen die Thatſache,<lb/>
daß jedes Culturvolk Europas, ſelbſt das engliſche Inſelvolk, irgend einmal<lb/>
durch das Eingreifen großer Fremdlinge in ſeiner Entwicklung gefördert<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[318/0332]
V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
und mit ſolchem Erfolge, daß viele Schulkinder, auch mehrere Zöglinge
des Münchener Blindenhauſes in die römiſche Kirche einzutreten verlangten.
Der Clerus nahm die minderjährigen Proſelyten alleſammt unbedenklich
an, obgleich das der Verfaſſung angehängte Religionsedikt den Uebertritt
Unmündiger ausdrücklich verbot. Abel indeß erklärte dreiſt, dies Verbot
widerſpreche der natürlichen Gewiſſensfreiheit und dem Concordate. Alſo
erweckte er muthwillig, bei einer höchſt gehäſſigen Veranlaſſung, die alte
noch niemals klar entſchiedene Streitfrage: ob die Verfaſſung vorgehe oder
das Concordat? Drang ſeine Anſicht durch, dann verlor die proteſtantiſche
Kirche Baierns den Rechtsboden unter ihren Füßen.
Ebenſo roh zeigte ſich die Parteilichkeit der Regierung, als der neue
Guſtav-Adolfs-Verein ſich in Baiern auszubreiten verſuchte. Dieſe Stiftung
war ſchon vor Jahren, nach der großen Erinnerungsfeier auf dem Lützener
Schlachtfelde gegründet, aber erſt ſeit 1841, in Folge eines Aufrufs des
Darmſtädter Prälaten Zimmermann, reicher ausgeſtaltet worden. Sie
ſollte vornehmlich den Proteſtanten in der Diaſpora beiſtehen, ihnen die
Gründung neuer Kirchen und Gemeinden erleichtern, alſo, gemäß dem
Geiſte des Proteſtantismus, in voller Freiheit und beſcheidener Form den
rieſigen Machtmitteln der römiſchen Propaganda entgegenwirken. Da jener
Aufruf aus den Kreiſen der liberalen Theologen kam und der gleichgeſinnte
Leipziger Superintendent Großmann bald an die Spitze trat, ſo betrachteten
die Orthodoxen den Verein anfangs mit Mißtrauen. Hengſtenberg nannte
ihn mit gewohntem Fanatismus eine große Lüge; denn allerdings waren
in den letzten Jahrzehnten die Unternehmungen evangeliſcher Werkthätigkeit
alleſammt von den ſtrengen Bibelgläubigen ausgegangen, und dieſe erſte
Regung kirchlicher Thatkraft unter den milder geſinnten Theologen eine
ganz unerhörte Erſcheinung. Auch König Friedrich Wilhelm blieb lange
argwöhniſch, bis er endlich einſah, daß der Guſtav-Adolfs-Verein wirklich
alle Parteien der evangeliſchen Kirche zum gemeinſamen Liebeswerke heran-
rufen wollte. Da übernahm er ſelbſt für Preußen das Protectorat der
Stiftung. Freilich verſicherte er zugleich ſeinen katholiſchen Landesbiſchöfen,
daß damit keine Feindſeligkeit gegen die römiſche Kirche gemeint ſei —
was viele gute Proteſtanten, ſelbſt der getreue Anton Stolberg als un-
königliche Schwäche beklagten. Seitdem nahm der Verein einen erfreu-
lichen Aufſchwung; das Vaterland der Reformation gab durch kräftige
Unterſtützung der bedrängten Glaubensgenoſſen die würdige Antwort auf
die Uebergriffe des römiſchen Stuhls.
Leider war der Name der Guſtav-Adolf-Stiftung unglücklich gewählt.
Zertheilte Völker, die ſich ihrer Einheit entgegenſehnen, zeigen oft ein
krankhaft reizbares Nationalgefühl; ſie urtheilen ungerecht über die Zeiten,
da ſie ausheimiſchen Gewalten unterlagen, und verkennen die Thatſache,
daß jedes Culturvolk Europas, ſelbſt das engliſche Inſelvolk, irgend einmal
durch das Eingreifen großer Fremdlinge in ſeiner Entwicklung gefördert
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/332>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.