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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Das apostolische Glaubensbekenntniß.
Hierarchie. Es war doch wirklich das von den Pietisten so oft bekämpfte
"Papstthum der Wissenden", das sich jetzt, in bester Absicht freilich, heraus-
nahm, seinen kritisch geläuterten Glauben den protestantischen Gemeinden
aufzuerlegen; wie die Bourgeoisie im französischen Staate, so suchte in
der deutschen evangelischen Kirche die Intelligenz alle Herrschaft an sich
zu reißen und verwechselte unbefangen sich selber mit dem gesammten
Volke. Auch Stahl, der damals noch die Union als eine vollendete That-
sache anerkannte, mahnte ernst: in Zeiten der Noth dürfe die Kirche wohl
schweigen, doch nicht zweideutig reden; ja selbst der mit Nitzsch persönlich
und wissenschaftlich befreundete Twesten warnte, man solle das christliche
Volk nicht durch die theologische Wissenschaft vergewaltigen. Für die An-
träge sprachen beredt und geistvoll der Hallenser Julius Müller und der
Königsberger Dorner. Die Anhänger der Schleiermacher'schen Linken,
Graf Schwerin und der Berliner Prediger Sydow erklärten sich anfangs
im Namen der evangelischen Freiheit gegen jede bindende Lehrverpflich-
tung; im Verlaufe der langen, höchst lebendigen und gedankenreichen Ver-
handlungen traten sie jedoch den Ansichten Nitzsch's näher. Schließlich
wurde mit starker Mehrheit eine vereinfachte Ordinationsformel ange-
nommen, die mit dem Geiste der Union doch nicht im Einklange stand,
wie weitherzig man sie auch auslegen mochte. Mehrheitsbeschlüsse haben
aber nur da Sinn und Werth, wo ein Entschluß für das handelnde Leben
gefaßt werden muß und die Abstimmung erweisen soll, auf welcher Seite
die stärkere Macht steht. In Glaubenssachen bedeutet die Mehrzahl so
wenig wie in der Wissenschaft. Die confessionelle Minderheit fühlte sich mit
nichten überwunden, denn mit geistigen Waffen war sie nicht geschlagen;
und wie konnte man gar hoffen, daß der König einer Abschwächung der
alten Symbole jemals zustimmen würde? Hofprediger Strauß, ein
gefühlvoller, allezeit begeisterter Pietist, der den Monarchen genau kannte,
gab schon während der Berathungen deutlich zu verstehen, das Alles sei
verlorene Arbeit.

Der unselige Streit um die Lehrverpflichtung wurde leider auch dem
Hauptwerke der Generalsynode, dem Kirchenverfassungs-Entwurfe verderb-
lich. Wie planlos und hilflos stand die Krone doch dieser großen Auf-
gabe gegenüber. Von den kleinen bischöflichen "Kirchen", die der König
wünschte, war kaum die Rede. Eichhorn überließ vielmehr der Versammlung,
ihre eigenen Vorschläge auszusprechen, und ganz von selbst vereinigte sich
die große Mehrheit in dem Gedanken die bestehende Ordnung weiter auszu-
bauen: das Consistorialsystem des Ostens wollte man nicht aufheben, sondern
durch die presbyterialen und synodalen Institutionen des Westens ergänzen
und beleben. Hier zeigte Nitzsch seine große organisatorische Begabung;
Bethmann-Hollweg, der jetzt auch dem Rheinland angehörte, ging ihm
zur Hand mit seiner gründlichen Rechtskenntniß, Landfermann mit
seiner reichen, im Westen angesammelten Erfahrung. So entstand ein

Das apoſtoliſche Glaubensbekenntniß.
Hierarchie. Es war doch wirklich das von den Pietiſten ſo oft bekämpfte
„Papſtthum der Wiſſenden“, das ſich jetzt, in beſter Abſicht freilich, heraus-
nahm, ſeinen kritiſch geläuterten Glauben den proteſtantiſchen Gemeinden
aufzuerlegen; wie die Bourgeoiſie im franzöſiſchen Staate, ſo ſuchte in
der deutſchen evangeliſchen Kirche die Intelligenz alle Herrſchaft an ſich
zu reißen und verwechſelte unbefangen ſich ſelber mit dem geſammten
Volke. Auch Stahl, der damals noch die Union als eine vollendete That-
ſache anerkannte, mahnte ernſt: in Zeiten der Noth dürfe die Kirche wohl
ſchweigen, doch nicht zweideutig reden; ja ſelbſt der mit Nitzſch perſönlich
und wiſſenſchaftlich befreundete Tweſten warnte, man ſolle das chriſtliche
Volk nicht durch die theologiſche Wiſſenſchaft vergewaltigen. Für die An-
träge ſprachen beredt und geiſtvoll der Hallenſer Julius Müller und der
Königsberger Dorner. Die Anhänger der Schleiermacher’ſchen Linken,
Graf Schwerin und der Berliner Prediger Sydow erklärten ſich anfangs
im Namen der evangeliſchen Freiheit gegen jede bindende Lehrverpflich-
tung; im Verlaufe der langen, höchſt lebendigen und gedankenreichen Ver-
handlungen traten ſie jedoch den Anſichten Nitzſch’s näher. Schließlich
wurde mit ſtarker Mehrheit eine vereinfachte Ordinationsformel ange-
nommen, die mit dem Geiſte der Union doch nicht im Einklange ſtand,
wie weitherzig man ſie auch auslegen mochte. Mehrheitsbeſchlüſſe haben
aber nur da Sinn und Werth, wo ein Entſchluß für das handelnde Leben
gefaßt werden muß und die Abſtimmung erweiſen ſoll, auf welcher Seite
die ſtärkere Macht ſteht. In Glaubensſachen bedeutet die Mehrzahl ſo
wenig wie in der Wiſſenſchaft. Die confeſſionelle Minderheit fühlte ſich mit
nichten überwunden, denn mit geiſtigen Waffen war ſie nicht geſchlagen;
und wie konnte man gar hoffen, daß der König einer Abſchwächung der
alten Symbole jemals zuſtimmen würde? Hofprediger Strauß, ein
gefühlvoller, allezeit begeiſterter Pietiſt, der den Monarchen genau kannte,
gab ſchon während der Berathungen deutlich zu verſtehen, das Alles ſei
verlorene Arbeit.

Der unſelige Streit um die Lehrverpflichtung wurde leider auch dem
Hauptwerke der Generalſynode, dem Kirchenverfaſſungs-Entwurfe verderb-
lich. Wie planlos und hilflos ſtand die Krone doch dieſer großen Auf-
gabe gegenüber. Von den kleinen biſchöflichen „Kirchen“, die der König
wünſchte, war kaum die Rede. Eichhorn überließ vielmehr der Verſammlung,
ihre eigenen Vorſchläge auszuſprechen, und ganz von ſelbſt vereinigte ſich
die große Mehrheit in dem Gedanken die beſtehende Ordnung weiter auszu-
bauen: das Conſiſtorialſyſtem des Oſtens wollte man nicht aufheben, ſondern
durch die presbyterialen und ſynodalen Inſtitutionen des Weſtens ergänzen
und beleben. Hier zeigte Nitzſch ſeine große organiſatoriſche Begabung;
Bethmann-Hollweg, der jetzt auch dem Rheinland angehörte, ging ihm
zur Hand mit ſeiner gründlichen Rechtskenntniß, Landfermann mit
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[367/0381] Das apoſtoliſche Glaubensbekenntniß. Hierarchie. Es war doch wirklich das von den Pietiſten ſo oft bekämpfte „Papſtthum der Wiſſenden“, das ſich jetzt, in beſter Abſicht freilich, heraus- nahm, ſeinen kritiſch geläuterten Glauben den proteſtantiſchen Gemeinden aufzuerlegen; wie die Bourgeoiſie im franzöſiſchen Staate, ſo ſuchte in der deutſchen evangeliſchen Kirche die Intelligenz alle Herrſchaft an ſich zu reißen und verwechſelte unbefangen ſich ſelber mit dem geſammten Volke. Auch Stahl, der damals noch die Union als eine vollendete That- ſache anerkannte, mahnte ernſt: in Zeiten der Noth dürfe die Kirche wohl ſchweigen, doch nicht zweideutig reden; ja ſelbſt der mit Nitzſch perſönlich und wiſſenſchaftlich befreundete Tweſten warnte, man ſolle das chriſtliche Volk nicht durch die theologiſche Wiſſenſchaft vergewaltigen. Für die An- träge ſprachen beredt und geiſtvoll der Hallenſer Julius Müller und der Königsberger Dorner. Die Anhänger der Schleiermacher’ſchen Linken, Graf Schwerin und der Berliner Prediger Sydow erklärten ſich anfangs im Namen der evangeliſchen Freiheit gegen jede bindende Lehrverpflich- tung; im Verlaufe der langen, höchſt lebendigen und gedankenreichen Ver- handlungen traten ſie jedoch den Anſichten Nitzſch’s näher. Schließlich wurde mit ſtarker Mehrheit eine vereinfachte Ordinationsformel ange- nommen, die mit dem Geiſte der Union doch nicht im Einklange ſtand, wie weitherzig man ſie auch auslegen mochte. Mehrheitsbeſchlüſſe haben aber nur da Sinn und Werth, wo ein Entſchluß für das handelnde Leben gefaßt werden muß und die Abſtimmung erweiſen ſoll, auf welcher Seite die ſtärkere Macht ſteht. In Glaubensſachen bedeutet die Mehrzahl ſo wenig wie in der Wiſſenſchaft. Die confeſſionelle Minderheit fühlte ſich mit nichten überwunden, denn mit geiſtigen Waffen war ſie nicht geſchlagen; und wie konnte man gar hoffen, daß der König einer Abſchwächung der alten Symbole jemals zuſtimmen würde? Hofprediger Strauß, ein gefühlvoller, allezeit begeiſterter Pietiſt, der den Monarchen genau kannte, gab ſchon während der Berathungen deutlich zu verſtehen, das Alles ſei verlorene Arbeit. Der unſelige Streit um die Lehrverpflichtung wurde leider auch dem Hauptwerke der Generalſynode, dem Kirchenverfaſſungs-Entwurfe verderb- lich. Wie planlos und hilflos ſtand die Krone doch dieſer großen Auf- gabe gegenüber. Von den kleinen biſchöflichen „Kirchen“, die der König wünſchte, war kaum die Rede. Eichhorn überließ vielmehr der Verſammlung, ihre eigenen Vorſchläge auszuſprechen, und ganz von ſelbſt vereinigte ſich die große Mehrheit in dem Gedanken die beſtehende Ordnung weiter auszu- bauen: das Conſiſtorialſyſtem des Oſtens wollte man nicht aufheben, ſondern durch die presbyterialen und ſynodalen Inſtitutionen des Weſtens ergänzen und beleben. Hier zeigte Nitzſch ſeine große organiſatoriſche Begabung; Bethmann-Hollweg, der jetzt auch dem Rheinland angehörte, ging ihm zur Hand mit ſeiner gründlichen Rechtskenntniß, Landfermann mit ſeiner reichen, im Weſten angeſammelten Erfahrung. So entſtand ein

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/381>, abgerufen am 21.11.2024.