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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Geibel. Tieck.
haft nannte, die sinnberückenden Zauberkünste der Teufelin des Venus-
bergs, diese ganze dämonische, mit der Askese des Mittelalters so wirk-
sam contrastirende Welt der Sinnengluth, die der alten Sage doch allein
Farbe und Leben giebt, verstand der lose Pariser Spötter unvergleichlich
anschaulicher, feuriger, schöner auszugestalten als sein sittsamerer Gegner.

Geibel haßte den Pöbel, den Gleichheitswahn des Radicalismus,
"denn Sünde ward es aus dem Schwarm zu ragen", und mit einem
ehrlichen "Gott helfe mir, ich kann nicht anders" sagte er Herwegh
in's Gesicht: daß Deine Lieder Aufruhr läuten! "Zu bau'n, zu bilden,
zu versöhnen" dünkte ihm ein besseres Amt als die Fackel Herostrat's
zu schwingen. Und doch glühte auch sein Herz für die Größe des Vater-
landes, für ein freies Volk, das fest halten sollte an seinem Gott
und seinem Recht. Aus den verworrenen Träumen der Zeit fand sein
edler Sinn sicher die lebendigen Ideale heraus; den alten Kaisertraum
seines Volks bewahrte er sich in aller Enttäuschung so treu wie die
Hoffnung auf den Staat Friedrich's des Großen; für die Rechte Schleswig-
Holsteins trat er zuerst unter allen deutschen Dichtern in die Schranken;
der Conservative scheute sich nicht, auch den Italienern einen rettenden
Odysseus, den Griechen die Befreiung des Bosporus zu weissagen, und
nachdem seine ersten Zeitgedichte in dem wüsten Toben des Radicalismus
fast verklungen waren, sollte er dereinst noch der glückliche Sängerherold
des neuen Reiches werden. Damals freilich konnte selbst dieser milde,
sinnige Dichtergeist sich der Ahnung furchtbarer Kämpfe nicht erwehren;
er sah, wie der Hader der Parteien uns das Mark im Gebeine versengte,
wie viel tausend Hungergesichter sich vor den Häusern der Reichen drängten,
und sagte warnend: Deutschland ist todkrank, schlagt ihm eine Ader! --



Wie eine Stimme aus dem Grabe erklang in diese modernen Kämpfe
hinein der Roman Vittoria Accorombona, Ludwig Tieck's letzte Dichtung,
kurz vor der Uebersiedelung nach Berlin vollendet, wohl das reifste, das
bestdurchdachte Kunstwerk des alten Meisters, eine in strengem historischem
Stile gehaltene, selten durch Betrachtungen unterbrochene Erzählung von
den Gräueln des ausgehenden Cinquecento, von den Unthaten jenes hoch-
gebildeten Geschlechts, das jeden starken Menschen in die Wirbel der all-
gemeinen politischen und sittlichen Zuchtlosigkeit hineinriß und sich so lange
selbst zerfleischte bis der bleischwere Schlummer der Fremdherrschaft über
Italien hereinsank. Die Sinnlichkeit erschien hier immer heidnisch nackt,
das Verbrechen berechnet, sicher, unbedenklich, die Schuld des Einzelnen
als die nothwendige Schuld des Ganzen; das Gewissen schwieg, jeder
Frevler sagte zu seinen Opfern kalt: cosa fatta capo ha. Die Kritiker,
die den alten Gegner des Jungen Deutschlands längst haßten, beeilten

Geibel. Tieck.
haft nannte, die ſinnberückenden Zauberkünſte der Teufelin des Venus-
bergs, dieſe ganze dämoniſche, mit der Askeſe des Mittelalters ſo wirk-
ſam contraſtirende Welt der Sinnengluth, die der alten Sage doch allein
Farbe und Leben giebt, verſtand der loſe Pariſer Spötter unvergleichlich
anſchaulicher, feuriger, ſchöner auszugeſtalten als ſein ſittſamerer Gegner.

Geibel haßte den Pöbel, den Gleichheitswahn des Radicalismus,
„denn Sünde ward es aus dem Schwarm zu ragen“, und mit einem
ehrlichen „Gott helfe mir, ich kann nicht anders“ ſagte er Herwegh
in’s Geſicht: daß Deine Lieder Aufruhr läuten! „Zu bau’n, zu bilden,
zu verſöhnen“ dünkte ihm ein beſſeres Amt als die Fackel Heroſtrat’s
zu ſchwingen. Und doch glühte auch ſein Herz für die Größe des Vater-
landes, für ein freies Volk, das feſt halten ſollte an ſeinem Gott
und ſeinem Recht. Aus den verworrenen Träumen der Zeit fand ſein
edler Sinn ſicher die lebendigen Ideale heraus; den alten Kaiſertraum
ſeines Volks bewahrte er ſich in aller Enttäuſchung ſo treu wie die
Hoffnung auf den Staat Friedrich’s des Großen; für die Rechte Schleswig-
Holſteins trat er zuerſt unter allen deutſchen Dichtern in die Schranken;
der Conſervative ſcheute ſich nicht, auch den Italienern einen rettenden
Odyſſeus, den Griechen die Befreiung des Bosporus zu weiſſagen, und
nachdem ſeine erſten Zeitgedichte in dem wüſten Toben des Radicalismus
faſt verklungen waren, ſollte er dereinſt noch der glückliche Sängerherold
des neuen Reiches werden. Damals freilich konnte ſelbſt dieſer milde,
ſinnige Dichtergeiſt ſich der Ahnung furchtbarer Kämpfe nicht erwehren;
er ſah, wie der Hader der Parteien uns das Mark im Gebeine verſengte,
wie viel tauſend Hungergeſichter ſich vor den Häuſern der Reichen drängten,
und ſagte warnend: Deutſchland iſt todkrank, ſchlagt ihm eine Ader! —



Wie eine Stimme aus dem Grabe erklang in dieſe modernen Kämpfe
hinein der Roman Vittoria Accorombona, Ludwig Tieck’s letzte Dichtung,
kurz vor der Ueberſiedelung nach Berlin vollendet, wohl das reifſte, das
beſtdurchdachte Kunſtwerk des alten Meiſters, eine in ſtrengem hiſtoriſchem
Stile gehaltene, ſelten durch Betrachtungen unterbrochene Erzählung von
den Gräueln des ausgehenden Cinquecento, von den Unthaten jenes hoch-
gebildeten Geſchlechts, das jeden ſtarken Menſchen in die Wirbel der all-
gemeinen politiſchen und ſittlichen Zuchtloſigkeit hineinriß und ſich ſo lange
ſelbſt zerfleiſchte bis der bleiſchwere Schlummer der Fremdherrſchaft über
Italien hereinſank. Die Sinnlichkeit erſchien hier immer heidniſch nackt,
das Verbrechen berechnet, ſicher, unbedenklich, die Schuld des Einzelnen
als die nothwendige Schuld des Ganzen; das Gewiſſen ſchwieg, jeder
Frevler ſagte zu ſeinen Opfern kalt: cosa fatta capo ha. Die Kritiker,
die den alten Gegner des Jungen Deutſchlands längſt haßten, beeilten

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[383/0397] Geibel. Tieck. haft nannte, die ſinnberückenden Zauberkünſte der Teufelin des Venus- bergs, dieſe ganze dämoniſche, mit der Askeſe des Mittelalters ſo wirk- ſam contraſtirende Welt der Sinnengluth, die der alten Sage doch allein Farbe und Leben giebt, verſtand der loſe Pariſer Spötter unvergleichlich anſchaulicher, feuriger, ſchöner auszugeſtalten als ſein ſittſamerer Gegner. Geibel haßte den Pöbel, den Gleichheitswahn des Radicalismus, „denn Sünde ward es aus dem Schwarm zu ragen“, und mit einem ehrlichen „Gott helfe mir, ich kann nicht anders“ ſagte er Herwegh in’s Geſicht: daß Deine Lieder Aufruhr läuten! „Zu bau’n, zu bilden, zu verſöhnen“ dünkte ihm ein beſſeres Amt als die Fackel Heroſtrat’s zu ſchwingen. Und doch glühte auch ſein Herz für die Größe des Vater- landes, für ein freies Volk, das feſt halten ſollte an ſeinem Gott und ſeinem Recht. Aus den verworrenen Träumen der Zeit fand ſein edler Sinn ſicher die lebendigen Ideale heraus; den alten Kaiſertraum ſeines Volks bewahrte er ſich in aller Enttäuſchung ſo treu wie die Hoffnung auf den Staat Friedrich’s des Großen; für die Rechte Schleswig- Holſteins trat er zuerſt unter allen deutſchen Dichtern in die Schranken; der Conſervative ſcheute ſich nicht, auch den Italienern einen rettenden Odyſſeus, den Griechen die Befreiung des Bosporus zu weiſſagen, und nachdem ſeine erſten Zeitgedichte in dem wüſten Toben des Radicalismus faſt verklungen waren, ſollte er dereinſt noch der glückliche Sängerherold des neuen Reiches werden. Damals freilich konnte ſelbſt dieſer milde, ſinnige Dichtergeiſt ſich der Ahnung furchtbarer Kämpfe nicht erwehren; er ſah, wie der Hader der Parteien uns das Mark im Gebeine verſengte, wie viel tauſend Hungergeſichter ſich vor den Häuſern der Reichen drängten, und ſagte warnend: Deutſchland iſt todkrank, ſchlagt ihm eine Ader! — Wie eine Stimme aus dem Grabe erklang in dieſe modernen Kämpfe hinein der Roman Vittoria Accorombona, Ludwig Tieck’s letzte Dichtung, kurz vor der Ueberſiedelung nach Berlin vollendet, wohl das reifſte, das beſtdurchdachte Kunſtwerk des alten Meiſters, eine in ſtrengem hiſtoriſchem Stile gehaltene, ſelten durch Betrachtungen unterbrochene Erzählung von den Gräueln des ausgehenden Cinquecento, von den Unthaten jenes hoch- gebildeten Geſchlechts, das jeden ſtarken Menſchen in die Wirbel der all- gemeinen politiſchen und ſittlichen Zuchtloſigkeit hineinriß und ſich ſo lange ſelbſt zerfleiſchte bis der bleiſchwere Schlummer der Fremdherrſchaft über Italien hereinſank. Die Sinnlichkeit erſchien hier immer heidniſch nackt, das Verbrechen berechnet, ſicher, unbedenklich, die Schuld des Einzelnen als die nothwendige Schuld des Ganzen; das Gewiſſen ſchwieg, jeder Frevler ſagte zu ſeinen Opfern kalt: cosa fatta capo ha. Die Kritiker, die den alten Gegner des Jungen Deutſchlands längſt haßten, beeilten

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/397>, abgerufen am 21.11.2024.