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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
land mein, könnt' ich nur im Tode vereinet Dir sein -- so hatten die
christlichen Deutschen auch dies Herzeleid nicht verschuldet, sie verwehrten
ihr ja keineswegs nach Palästina heimzukehren.

Zarter, reizender, weiblich liebenswürdiger erschien Fanny Lewald's
Todfeindin, die Gräfin Ida Hahn-Hahn in ihren nachlässig hingeworfenen,
mangelhaft durchgebildeten Salonromanen. Die anmuthige Tochter des
allbekannten mecklenburgischen Theatergrafen, der sein ganzes Leben und
ein großes Vermögen an die Abenteuer wandernder Schauspielerbanden
verschwendete, hatte von ihrem Vater die Wunderlichkeit und die schwär-
merische Empfindung geerbt. Ihre "immense Seele" sehnte sich ewig
unbefriedigt nach "dem Rechten"; und es war Weiberloos, daß dies liebe-
bedürftige Gemüth nach manchen holden Verirrungen endlich von Babylon
nach Jerusalem pilgerte, in der Strenge des Klosters seinen Frieden suchte.
Ihre Welt war der Adel, aber nicht die tüchtigen, auf der väterlichen
Scholle hausenden oder unter den Fahnen ihres Fürsten kämpfenden Edel-
leute, wie Alexis sie schilderte, sondern die eleganten Weltmänner der
Residenzen und der Bäder, fast alle geistreich, galant, eifrig beschäftigt
mit der Erforschung großer Frauenseelen, so völlig unbekümmert um die
Prosa des Lebens, daß sie von einem ihrer Helden bezeichnend sagen
konnte: der ganze gestrige Abend war ihm wie Geld unter den Händen weg-
gekommen. Aus manchen Liebesscenen sprach ein reines Gefühl süßer weib-
licher Hingebung; zuletzt hinterließ das gesammte Treiben dieser vornehmen
Gesellschaft doch den Eindruck zweckloser, eitler Müßigkeit. Von der Kritik
unbarmherzig mißhandelt, wirkten die Romane der Gräfin fast wie Sa-
tiren, sie stärkten den Adelshaß in dem demokratischen jungen Geschlechte.

Hoch über diesen beiden vielgenannten Gegnerinnen stand, noch wenig
beachtet, Annette Droste-Hülfshoff, unter Deutschlands schriftstellernden
Frauen das stärkste Dichtertalent, dem nur leider die künstlerische Durch-
bildung fehlte. Unter den Vorkiekern des Münsterlandes war sie geboren,
unter den schweigsamen, blaßblonden, träumerisch blickenden Niedersachsen,
denen die Gabe des zweiten Gesichts beschieden ist; dann verbrachte sie
fast ihr ganzes Leben in romantischer Einsamkeit auf dem Rüschhaus und
anderen stillen Heideschlössern der Heimath, zuletzt auf der alten Mers-
burg am Bodensee, bei ihrem Schwager, dem letzten Ritter des heiligen
römischen Reichs, dem sagenkundigen Freiherrn v. Laßberg*) -- eine jener
hohen, edlen Frauen, die überall Liebe und Verehrung finden ohne die
Leidenschaft eines Mannes zu reizen. Von nonnenhafter Zartheit lag
gar nichts in ihrem freien, starken Geiste; sie scheute den derben Humor so
wenig wie den Ernst der Forschung oder die Pein des Zweifels und kehrte
erst nach schweren innern Kämpfen zurück zu der katholischen Gesinnung,
die ihr in die Wiege gebunden war. Mit ihrem Landsmann Freiligrath

*) S. o. III. 699.

V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
land mein, könnt’ ich nur im Tode vereinet Dir ſein — ſo hatten die
chriſtlichen Deutſchen auch dies Herzeleid nicht verſchuldet, ſie verwehrten
ihr ja keineswegs nach Paläſtina heimzukehren.

Zarter, reizender, weiblich liebenswürdiger erſchien Fanny Lewald’s
Todfeindin, die Gräfin Ida Hahn-Hahn in ihren nachläſſig hingeworfenen,
mangelhaft durchgebildeten Salonromanen. Die anmuthige Tochter des
allbekannten mecklenburgiſchen Theatergrafen, der ſein ganzes Leben und
ein großes Vermögen an die Abenteuer wandernder Schauſpielerbanden
verſchwendete, hatte von ihrem Vater die Wunderlichkeit und die ſchwär-
meriſche Empfindung geerbt. Ihre „immenſe Seele“ ſehnte ſich ewig
unbefriedigt nach „dem Rechten“; und es war Weiberloos, daß dies liebe-
bedürftige Gemüth nach manchen holden Verirrungen endlich von Babylon
nach Jeruſalem pilgerte, in der Strenge des Kloſters ſeinen Frieden ſuchte.
Ihre Welt war der Adel, aber nicht die tüchtigen, auf der väterlichen
Scholle hauſenden oder unter den Fahnen ihres Fürſten kämpfenden Edel-
leute, wie Alexis ſie ſchilderte, ſondern die eleganten Weltmänner der
Reſidenzen und der Bäder, faſt alle geiſtreich, galant, eifrig beſchäftigt
mit der Erforſchung großer Frauenſeelen, ſo völlig unbekümmert um die
Proſa des Lebens, daß ſie von einem ihrer Helden bezeichnend ſagen
konnte: der ganze geſtrige Abend war ihm wie Geld unter den Händen weg-
gekommen. Aus manchen Liebesſcenen ſprach ein reines Gefühl ſüßer weib-
licher Hingebung; zuletzt hinterließ das geſammte Treiben dieſer vornehmen
Geſellſchaft doch den Eindruck zweckloſer, eitler Müßigkeit. Von der Kritik
unbarmherzig mißhandelt, wirkten die Romane der Gräfin faſt wie Sa-
tiren, ſie ſtärkten den Adelshaß in dem demokratiſchen jungen Geſchlechte.

Hoch über dieſen beiden vielgenannten Gegnerinnen ſtand, noch wenig
beachtet, Annette Droſte-Hülfshoff, unter Deutſchlands ſchriftſtellernden
Frauen das ſtärkſte Dichtertalent, dem nur leider die künſtleriſche Durch-
bildung fehlte. Unter den Vorkiekern des Münſterlandes war ſie geboren,
unter den ſchweigſamen, blaßblonden, träumeriſch blickenden Niederſachſen,
denen die Gabe des zweiten Geſichts beſchieden iſt; dann verbrachte ſie
faſt ihr ganzes Leben in romantiſcher Einſamkeit auf dem Rüſchhaus und
anderen ſtillen Heideſchlöſſern der Heimath, zuletzt auf der alten Mers-
burg am Bodenſee, bei ihrem Schwager, dem letzten Ritter des heiligen
römiſchen Reichs, dem ſagenkundigen Freiherrn v. Laßberg*) — eine jener
hohen, edlen Frauen, die überall Liebe und Verehrung finden ohne die
Leidenſchaft eines Mannes zu reizen. Von nonnenhafter Zartheit lag
gar nichts in ihrem freien, ſtarken Geiſte; ſie ſcheute den derben Humor ſo
wenig wie den Ernſt der Forſchung oder die Pein des Zweifels und kehrte
erſt nach ſchweren innern Kämpfen zurück zu der katholiſchen Geſinnung,
die ihr in die Wiege gebunden war. Mit ihrem Landsmann Freiligrath

*) S. o. III. 699.
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[388/0402] V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft. land mein, könnt’ ich nur im Tode vereinet Dir ſein — ſo hatten die chriſtlichen Deutſchen auch dies Herzeleid nicht verſchuldet, ſie verwehrten ihr ja keineswegs nach Paläſtina heimzukehren. Zarter, reizender, weiblich liebenswürdiger erſchien Fanny Lewald’s Todfeindin, die Gräfin Ida Hahn-Hahn in ihren nachläſſig hingeworfenen, mangelhaft durchgebildeten Salonromanen. Die anmuthige Tochter des allbekannten mecklenburgiſchen Theatergrafen, der ſein ganzes Leben und ein großes Vermögen an die Abenteuer wandernder Schauſpielerbanden verſchwendete, hatte von ihrem Vater die Wunderlichkeit und die ſchwär- meriſche Empfindung geerbt. Ihre „immenſe Seele“ ſehnte ſich ewig unbefriedigt nach „dem Rechten“; und es war Weiberloos, daß dies liebe- bedürftige Gemüth nach manchen holden Verirrungen endlich von Babylon nach Jeruſalem pilgerte, in der Strenge des Kloſters ſeinen Frieden ſuchte. Ihre Welt war der Adel, aber nicht die tüchtigen, auf der väterlichen Scholle hauſenden oder unter den Fahnen ihres Fürſten kämpfenden Edel- leute, wie Alexis ſie ſchilderte, ſondern die eleganten Weltmänner der Reſidenzen und der Bäder, faſt alle geiſtreich, galant, eifrig beſchäftigt mit der Erforſchung großer Frauenſeelen, ſo völlig unbekümmert um die Proſa des Lebens, daß ſie von einem ihrer Helden bezeichnend ſagen konnte: der ganze geſtrige Abend war ihm wie Geld unter den Händen weg- gekommen. Aus manchen Liebesſcenen ſprach ein reines Gefühl ſüßer weib- licher Hingebung; zuletzt hinterließ das geſammte Treiben dieſer vornehmen Geſellſchaft doch den Eindruck zweckloſer, eitler Müßigkeit. Von der Kritik unbarmherzig mißhandelt, wirkten die Romane der Gräfin faſt wie Sa- tiren, ſie ſtärkten den Adelshaß in dem demokratiſchen jungen Geſchlechte. Hoch über dieſen beiden vielgenannten Gegnerinnen ſtand, noch wenig beachtet, Annette Droſte-Hülfshoff, unter Deutſchlands ſchriftſtellernden Frauen das ſtärkſte Dichtertalent, dem nur leider die künſtleriſche Durch- bildung fehlte. Unter den Vorkiekern des Münſterlandes war ſie geboren, unter den ſchweigſamen, blaßblonden, träumeriſch blickenden Niederſachſen, denen die Gabe des zweiten Geſichts beſchieden iſt; dann verbrachte ſie faſt ihr ganzes Leben in romantiſcher Einſamkeit auf dem Rüſchhaus und anderen ſtillen Heideſchlöſſern der Heimath, zuletzt auf der alten Mers- burg am Bodenſee, bei ihrem Schwager, dem letzten Ritter des heiligen römiſchen Reichs, dem ſagenkundigen Freiherrn v. Laßberg *) — eine jener hohen, edlen Frauen, die überall Liebe und Verehrung finden ohne die Leidenſchaft eines Mannes zu reizen. Von nonnenhafter Zartheit lag gar nichts in ihrem freien, ſtarken Geiſte; ſie ſcheute den derben Humor ſo wenig wie den Ernſt der Forſchung oder die Pein des Zweifels und kehrte erſt nach ſchweren innern Kämpfen zurück zu der katholiſchen Geſinnung, die ihr in die Wiege gebunden war. Mit ihrem Landsmann Freiligrath *) S. o. III. 699.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/402>, abgerufen am 21.11.2024.