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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
Abschluß. Also begann die Bildnerkunst auf die Höhe eines classisch
geschulten, dem Idealen nicht entfremdeten Realismus aufzusteigen; erst
die Zukunft sollte erfahren, daß von diesem steilen Gipfel manche lockende
Abwege niederwärts führten zur naturalistischen Roheit und malerischen
Unruhe.

An wahrhaft genialen Baumeistern besaß diese Zeit nur einen,
Gottfried Semper, und ihn versuchte König Friedrich Wilhelm seltsamer-
weise niemals für sich zu gewinnen. Semper blieb in Dresden, und nach-
dem der schöne Halbrundbau des Theaters mit dem reichen Bildnerschmucke
Rietschel's und Hähnel's vollendet war, begann er den Bau des Neuen
Museums, ein Werk, das alle architektonischen Unternehmungen des kunst-
sinnigen Preußenkönigs leuchtend überstrahlte. Es war ein tollkühnes
Unternehmen, die vierte, noch offene Seite des Zwingervierecks durch
einen römischen Renaissancepalast auszufüllen; und doch fügte sich die
reine, ruhige, an Bramante gemahnende Schönheit dieses Langbaues
glücklich ein in die malerische Umgebung, sie hielt kräftig Stand vor der
überladenen Pracht der Rococo-Pavillons gegenüber. Die heitere, warme
Anmuth der Innenräume stimmte Jeden, der die schönste Gallerie des
Nordens betrat, sofort festlich und empfänglich. Auch dieser Bau und
die verdiente Bewunderung, die er nach seiner späten Vollendung fand,
bewiesen, wie unaufhaltsam dies erregte Geschlecht aus der classischen Ein-
fachheit der Schinkel'schen Zeiten hinausstrebte. --



Der frische politische Zug, der seit der Vertreibung der Göttinger
Sieben die deutschen Hochschulen durchwehte, verstärkte sich noch von Jahr
zu Jahr in diesem Zeitalter der ungeduldigen Erwartung; und es konnte
nicht fehlen, daß die Gelehrten jetzt häufiger denn je zuvor mit den Waffen
der Wissenschaft in den Kampf des Tages eintraten. Wie einst Fichte durch
die Philosophie das Leben der That beherrschen wollte, ebenso, und mit
demselben Pathos eines hohen sittlichen Berufes, faßte Dahlmann von
jeher sein politisch-historisches Lehramt auf; er wollte aus den Thatsachen
entwickeln, "wie man praktisch die Aufgaben der Staatskunst mehr oder
minder glücklich gelöst" habe, und also seinen Hörern den Weg zum eigenen
Handeln weisen. Auf die Bitten seiner Freunde entschloß er sich jetzt,
zwei seiner Collegien, die Geschichte der englischen und der französischen
Revolution in Buchform herauszugeben. In gedrungener Kürze, wie einst
Mignet, in einer markigen, das Gewissen erschütternden Sprache und mit
erstaunlicher Kraft der Charakterzeichnung schilderte er hier die beiden großen
Umwälzungen. Mignet freilich war so glücklich die Geschichte seines Vater-
landes zu erzählen, und seine Schrift vermochte, auch nachdem sie wissen-
schaftlich überwunden war, als ein Erinnerungsbuch des nationalen Ruhmes

V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
Abſchluß. Alſo begann die Bildnerkunſt auf die Höhe eines claſſiſch
geſchulten, dem Idealen nicht entfremdeten Realismus aufzuſteigen; erſt
die Zukunft ſollte erfahren, daß von dieſem ſteilen Gipfel manche lockende
Abwege niederwärts führten zur naturaliſtiſchen Roheit und maleriſchen
Unruhe.

An wahrhaft genialen Baumeiſtern beſaß dieſe Zeit nur einen,
Gottfried Semper, und ihn verſuchte König Friedrich Wilhelm ſeltſamer-
weiſe niemals für ſich zu gewinnen. Semper blieb in Dresden, und nach-
dem der ſchöne Halbrundbau des Theaters mit dem reichen Bildnerſchmucke
Rietſchel’s und Hähnel’s vollendet war, begann er den Bau des Neuen
Muſeums, ein Werk, das alle architektoniſchen Unternehmungen des kunſt-
ſinnigen Preußenkönigs leuchtend überſtrahlte. Es war ein tollkühnes
Unternehmen, die vierte, noch offene Seite des Zwingervierecks durch
einen römiſchen Renaiſſancepalaſt auszufüllen; und doch fügte ſich die
reine, ruhige, an Bramante gemahnende Schönheit dieſes Langbaues
glücklich ein in die maleriſche Umgebung, ſie hielt kräftig Stand vor der
überladenen Pracht der Rococo-Pavillons gegenüber. Die heitere, warme
Anmuth der Innenräume ſtimmte Jeden, der die ſchönſte Gallerie des
Nordens betrat, ſofort feſtlich und empfänglich. Auch dieſer Bau und
die verdiente Bewunderung, die er nach ſeiner ſpäten Vollendung fand,
bewieſen, wie unaufhaltſam dies erregte Geſchlecht aus der claſſiſchen Ein-
fachheit der Schinkel’ſchen Zeiten hinausſtrebte. —



Der friſche politiſche Zug, der ſeit der Vertreibung der Göttinger
Sieben die deutſchen Hochſchulen durchwehte, verſtärkte ſich noch von Jahr
zu Jahr in dieſem Zeitalter der ungeduldigen Erwartung; und es konnte
nicht fehlen, daß die Gelehrten jetzt häufiger denn je zuvor mit den Waffen
der Wiſſenſchaft in den Kampf des Tages eintraten. Wie einſt Fichte durch
die Philoſophie das Leben der That beherrſchen wollte, ebenſo, und mit
demſelben Pathos eines hohen ſittlichen Berufes, faßte Dahlmann von
jeher ſein politiſch-hiſtoriſches Lehramt auf; er wollte aus den Thatſachen
entwickeln, „wie man praktiſch die Aufgaben der Staatskunſt mehr oder
minder glücklich gelöſt“ habe, und alſo ſeinen Hörern den Weg zum eigenen
Handeln weiſen. Auf die Bitten ſeiner Freunde entſchloß er ſich jetzt,
zwei ſeiner Collegien, die Geſchichte der engliſchen und der franzöſiſchen
Revolution in Buchform herauszugeben. In gedrungener Kürze, wie einſt
Mignet, in einer markigen, das Gewiſſen erſchütternden Sprache und mit
erſtaunlicher Kraft der Charakterzeichnung ſchilderte er hier die beiden großen
Umwälzungen. Mignet freilich war ſo glücklich die Geſchichte ſeines Vater-
landes zu erzählen, und ſeine Schrift vermochte, auch nachdem ſie wiſſen-
ſchaftlich überwunden war, als ein Erinnerungsbuch des nationalen Ruhmes

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[408/0422] V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft. Abſchluß. Alſo begann die Bildnerkunſt auf die Höhe eines claſſiſch geſchulten, dem Idealen nicht entfremdeten Realismus aufzuſteigen; erſt die Zukunft ſollte erfahren, daß von dieſem ſteilen Gipfel manche lockende Abwege niederwärts führten zur naturaliſtiſchen Roheit und maleriſchen Unruhe. An wahrhaft genialen Baumeiſtern beſaß dieſe Zeit nur einen, Gottfried Semper, und ihn verſuchte König Friedrich Wilhelm ſeltſamer- weiſe niemals für ſich zu gewinnen. Semper blieb in Dresden, und nach- dem der ſchöne Halbrundbau des Theaters mit dem reichen Bildnerſchmucke Rietſchel’s und Hähnel’s vollendet war, begann er den Bau des Neuen Muſeums, ein Werk, das alle architektoniſchen Unternehmungen des kunſt- ſinnigen Preußenkönigs leuchtend überſtrahlte. Es war ein tollkühnes Unternehmen, die vierte, noch offene Seite des Zwingervierecks durch einen römiſchen Renaiſſancepalaſt auszufüllen; und doch fügte ſich die reine, ruhige, an Bramante gemahnende Schönheit dieſes Langbaues glücklich ein in die maleriſche Umgebung, ſie hielt kräftig Stand vor der überladenen Pracht der Rococo-Pavillons gegenüber. Die heitere, warme Anmuth der Innenräume ſtimmte Jeden, der die ſchönſte Gallerie des Nordens betrat, ſofort feſtlich und empfänglich. Auch dieſer Bau und die verdiente Bewunderung, die er nach ſeiner ſpäten Vollendung fand, bewieſen, wie unaufhaltſam dies erregte Geſchlecht aus der claſſiſchen Ein- fachheit der Schinkel’ſchen Zeiten hinausſtrebte. — Der friſche politiſche Zug, der ſeit der Vertreibung der Göttinger Sieben die deutſchen Hochſchulen durchwehte, verſtärkte ſich noch von Jahr zu Jahr in dieſem Zeitalter der ungeduldigen Erwartung; und es konnte nicht fehlen, daß die Gelehrten jetzt häufiger denn je zuvor mit den Waffen der Wiſſenſchaft in den Kampf des Tages eintraten. Wie einſt Fichte durch die Philoſophie das Leben der That beherrſchen wollte, ebenſo, und mit demſelben Pathos eines hohen ſittlichen Berufes, faßte Dahlmann von jeher ſein politiſch-hiſtoriſches Lehramt auf; er wollte aus den Thatſachen entwickeln, „wie man praktiſch die Aufgaben der Staatskunſt mehr oder minder glücklich gelöſt“ habe, und alſo ſeinen Hörern den Weg zum eigenen Handeln weiſen. Auf die Bitten ſeiner Freunde entſchloß er ſich jetzt, zwei ſeiner Collegien, die Geſchichte der engliſchen und der franzöſiſchen Revolution in Buchform herauszugeben. In gedrungener Kürze, wie einſt Mignet, in einer markigen, das Gewiſſen erſchütternden Sprache und mit erſtaunlicher Kraft der Charakterzeichnung ſchilderte er hier die beiden großen Umwälzungen. Mignet freilich war ſo glücklich die Geſchichte ſeines Vater- landes zu erzählen, und ſeine Schrift vermochte, auch nachdem ſie wiſſen- ſchaftlich überwunden war, als ein Erinnerungsbuch des nationalen Ruhmes

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/422>, abgerufen am 21.11.2024.