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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Die Literaturgeschichte.
sprechen, was dieser Mann eigentlich hätte thun oder werden sollen. Der
ritterlichen Kampflust eines Hutten oder Lessing verzeiht der Leser Alles,
selbst wo sie Unrecht haben; Gervinus' schulmeisternder Hochmuth aber ver-
letzte sogar noch tiefer als Schlosser's sittenrichterlicher Eifer, der doch immer
ein warmes Herz erkennen ließ. Classische Werke befreien die Seele,
das ist ihr sicherer Prüfstein; sie erheben den Leser, so daß er mit hellerem
Kopfe oder mit frischerem Muthe in diese schöne Welt hineinschaut. Ger-
vinus' Buch weckte Verdruß und Aerger; das Beispiel seiner grausamen
Härte wirkte schädlich auf ein Volk, das ohnehin starke Talente nur
ungern anerkannte. Gerade die jungen, schaffensfrohen Dichter, die doch
für ästhetische und literarische Werke den natürlichen Leserkreis bilden, ver-
abscheuten Gervinus wie einen persönlichen Feind, wie einen Wütherich, der
ihnen die zarten Kinder der Muse schon im Mutterleibe vergiften wollte.
Wie anders verstand der junge Friedrich Vischer in seiner Aesthetik pro-
duktive Kritik zu üben und durch neue Anschauungen, aus der Fülle des
Lebens heraus, zumeist die Künstler zu erfreuen.

Das wissenschaftliche Gebrechen der Literaturgeschichte lag in ihren
leichtfertigen Geschichtsconstructionen. Gervinus stand der Philosophie
ebenso fern wie dem religiösen Glauben; gleichwohl vermaß er sich, so recht
im Gegensatze zu Ranke's weiser Zurückhaltung, eine Geschichtsphilosophie
aus dem Aermel zu schütteln, welche den Lebensnerv der historischen Welt,
die persönliche Freiheit zerstörte. Aus der Beobachtung wiederkehrender
Ereignisse, die doch auch nicht wiederkehren konnten, aus geistreichen Paral-
lelen und halbrichtigen Vergleichungen leitete er kurzweg historische Ge-
setze ab. Und gerade das wichtigste dieser Gesetze, das dem ganzen Buche
zu Grunde lag, war unzweifelhaft falsch. Gervinus behauptete, die Blüthe-
zeiten der Religion, der Literatur, der Politik folgten auf einander im Laufe
der Geschichte, während doch der Augenschein lehrt, daß Kunst und Dich-
tung ihr eigenes, ursprüngliches Leben führen, das durch die politischen
Schicksale wohl beeinflußt aber nicht bedingt wird. Jedes Volk gestaltet
sich seine ästhetischen Ideale unfehlbar aus, sobald ihm neue mächtige
Gedanken Herz und Phantasie bewegen; die Engländer verdankten ihrer
ungestörten nationalen Entwicklung das beneidenswerthe Glück, daß sie
sich immer in den Tagen ihres kriegerischen Ruhmes auch zu den höchsten
Dichterthaten aufschwangen; Deutsche und Italiener dagegen vollendeten
ihre classischen Kunstwerke unter schweren politischen Mißgeschicken; andere
Nationen wiederum fühlten sich nach großen kirchlichen oder politischen
Kämpfen so erschöpft, daß ihre literarische Kraft eine Zeit lang erlahmte;
und schließlich sind doch Kunst und Dichtung, wenngleich nicht jede Zeit
das Größte schaffen konnte, allen Culturvölkern immer so unentbehrlich
geblieben wie das liebe Brod. Für diese freie und doch nicht gesetzlose
Mannichfaltigkeit des historischen Lebens besaß Gervinus kein Verständniß;
er wollte durchaus dem Seidenwurm zu spinnen verbieten und erklärte

27*

Die Literaturgeſchichte.
ſprechen, was dieſer Mann eigentlich hätte thun oder werden ſollen. Der
ritterlichen Kampfluſt eines Hutten oder Leſſing verzeiht der Leſer Alles,
ſelbſt wo ſie Unrecht haben; Gervinus’ ſchulmeiſternder Hochmuth aber ver-
letzte ſogar noch tiefer als Schloſſer’s ſittenrichterlicher Eifer, der doch immer
ein warmes Herz erkennen ließ. Claſſiſche Werke befreien die Seele,
das iſt ihr ſicherer Prüfſtein; ſie erheben den Leſer, ſo daß er mit hellerem
Kopfe oder mit friſcherem Muthe in dieſe ſchöne Welt hineinſchaut. Ger-
vinus’ Buch weckte Verdruß und Aerger; das Beiſpiel ſeiner grauſamen
Härte wirkte ſchädlich auf ein Volk, das ohnehin ſtarke Talente nur
ungern anerkannte. Gerade die jungen, ſchaffensfrohen Dichter, die doch
für äſthetiſche und literariſche Werke den natürlichen Leſerkreis bilden, ver-
abſcheuten Gervinus wie einen perſönlichen Feind, wie einen Wütherich, der
ihnen die zarten Kinder der Muſe ſchon im Mutterleibe vergiften wollte.
Wie anders verſtand der junge Friedrich Viſcher in ſeiner Aeſthetik pro-
duktive Kritik zu üben und durch neue Anſchauungen, aus der Fülle des
Lebens heraus, zumeiſt die Künſtler zu erfreuen.

Das wiſſenſchaftliche Gebrechen der Literaturgeſchichte lag in ihren
leichtfertigen Geſchichtsconſtructionen. Gervinus ſtand der Philoſophie
ebenſo fern wie dem religiöſen Glauben; gleichwohl vermaß er ſich, ſo recht
im Gegenſatze zu Ranke’s weiſer Zurückhaltung, eine Geſchichtsphiloſophie
aus dem Aermel zu ſchütteln, welche den Lebensnerv der hiſtoriſchen Welt,
die perſönliche Freiheit zerſtörte. Aus der Beobachtung wiederkehrender
Ereigniſſe, die doch auch nicht wiederkehren konnten, aus geiſtreichen Paral-
lelen und halbrichtigen Vergleichungen leitete er kurzweg hiſtoriſche Ge-
ſetze ab. Und gerade das wichtigſte dieſer Geſetze, das dem ganzen Buche
zu Grunde lag, war unzweifelhaft falſch. Gervinus behauptete, die Blüthe-
zeiten der Religion, der Literatur, der Politik folgten auf einander im Laufe
der Geſchichte, während doch der Augenſchein lehrt, daß Kunſt und Dich-
tung ihr eigenes, urſprüngliches Leben führen, das durch die politiſchen
Schickſale wohl beeinflußt aber nicht bedingt wird. Jedes Volk geſtaltet
ſich ſeine äſthetiſchen Ideale unfehlbar aus, ſobald ihm neue mächtige
Gedanken Herz und Phantaſie bewegen; die Engländer verdankten ihrer
ungeſtörten nationalen Entwicklung das beneidenswerthe Glück, daß ſie
ſich immer in den Tagen ihres kriegeriſchen Ruhmes auch zu den höchſten
Dichterthaten aufſchwangen; Deutſche und Italiener dagegen vollendeten
ihre claſſiſchen Kunſtwerke unter ſchweren politiſchen Mißgeſchicken; andere
Nationen wiederum fühlten ſich nach großen kirchlichen oder politiſchen
Kämpfen ſo erſchöpft, daß ihre literariſche Kraft eine Zeit lang erlahmte;
und ſchließlich ſind doch Kunſt und Dichtung, wenngleich nicht jede Zeit
das Größte ſchaffen konnte, allen Culturvölkern immer ſo unentbehrlich
geblieben wie das liebe Brod. Für dieſe freie und doch nicht geſetzloſe
Mannichfaltigkeit des hiſtoriſchen Lebens beſaß Gervinus kein Verſtändniß;
er wollte durchaus dem Seidenwurm zu ſpinnen verbieten und erklärte

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[419/0433] Die Literaturgeſchichte. ſprechen, was dieſer Mann eigentlich hätte thun oder werden ſollen. Der ritterlichen Kampfluſt eines Hutten oder Leſſing verzeiht der Leſer Alles, ſelbſt wo ſie Unrecht haben; Gervinus’ ſchulmeiſternder Hochmuth aber ver- letzte ſogar noch tiefer als Schloſſer’s ſittenrichterlicher Eifer, der doch immer ein warmes Herz erkennen ließ. Claſſiſche Werke befreien die Seele, das iſt ihr ſicherer Prüfſtein; ſie erheben den Leſer, ſo daß er mit hellerem Kopfe oder mit friſcherem Muthe in dieſe ſchöne Welt hineinſchaut. Ger- vinus’ Buch weckte Verdruß und Aerger; das Beiſpiel ſeiner grauſamen Härte wirkte ſchädlich auf ein Volk, das ohnehin ſtarke Talente nur ungern anerkannte. Gerade die jungen, ſchaffensfrohen Dichter, die doch für äſthetiſche und literariſche Werke den natürlichen Leſerkreis bilden, ver- abſcheuten Gervinus wie einen perſönlichen Feind, wie einen Wütherich, der ihnen die zarten Kinder der Muſe ſchon im Mutterleibe vergiften wollte. Wie anders verſtand der junge Friedrich Viſcher in ſeiner Aeſthetik pro- duktive Kritik zu üben und durch neue Anſchauungen, aus der Fülle des Lebens heraus, zumeiſt die Künſtler zu erfreuen. Das wiſſenſchaftliche Gebrechen der Literaturgeſchichte lag in ihren leichtfertigen Geſchichtsconſtructionen. Gervinus ſtand der Philoſophie ebenſo fern wie dem religiöſen Glauben; gleichwohl vermaß er ſich, ſo recht im Gegenſatze zu Ranke’s weiſer Zurückhaltung, eine Geſchichtsphiloſophie aus dem Aermel zu ſchütteln, welche den Lebensnerv der hiſtoriſchen Welt, die perſönliche Freiheit zerſtörte. Aus der Beobachtung wiederkehrender Ereigniſſe, die doch auch nicht wiederkehren konnten, aus geiſtreichen Paral- lelen und halbrichtigen Vergleichungen leitete er kurzweg hiſtoriſche Ge- ſetze ab. Und gerade das wichtigſte dieſer Geſetze, das dem ganzen Buche zu Grunde lag, war unzweifelhaft falſch. Gervinus behauptete, die Blüthe- zeiten der Religion, der Literatur, der Politik folgten auf einander im Laufe der Geſchichte, während doch der Augenſchein lehrt, daß Kunſt und Dich- tung ihr eigenes, urſprüngliches Leben führen, das durch die politiſchen Schickſale wohl beeinflußt aber nicht bedingt wird. Jedes Volk geſtaltet ſich ſeine äſthetiſchen Ideale unfehlbar aus, ſobald ihm neue mächtige Gedanken Herz und Phantaſie bewegen; die Engländer verdankten ihrer ungeſtörten nationalen Entwicklung das beneidenswerthe Glück, daß ſie ſich immer in den Tagen ihres kriegeriſchen Ruhmes auch zu den höchſten Dichterthaten aufſchwangen; Deutſche und Italiener dagegen vollendeten ihre claſſiſchen Kunſtwerke unter ſchweren politiſchen Mißgeſchicken; andere Nationen wiederum fühlten ſich nach großen kirchlichen oder politiſchen Kämpfen ſo erſchöpft, daß ihre literariſche Kraft eine Zeit lang erlahmte; und ſchließlich ſind doch Kunſt und Dichtung, wenngleich nicht jede Zeit das Größte ſchaffen konnte, allen Culturvölkern immer ſo unentbehrlich geblieben wie das liebe Brod. Für dieſe freie und doch nicht geſetzloſe Mannichfaltigkeit des hiſtoriſchen Lebens beſaß Gervinus kein Verſtändniß; er wollte durchaus dem Seidenwurm zu ſpinnen verbieten und erklärte 27*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/433>, abgerufen am 21.11.2024.