Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft. stünde heute das Germanenthum in der Geschichte, wenn Gothen, Bur-gunden, Franken, Langobarden in den eroberten Römerlanden sich ihre Muttersprache bewahrt hätten; den Deutschen aber, die an diesem Kleinod festhielten, blieb in allem Wandel der politischen Zerwürfnisse das Gefühl des gemeinsamen Volksthums unverloren, sonst hätten die Nachbarn der Donaukelten doch nicht Markmannen heißen können. In einzelnen Zügen poetischer Willkür verrieth sich freilich der alte Romantiker. Die ferne Urzeit bezauberte sein Gemüth so mächtig, daß er die Welteroberung der wandernden Germanen fast höher schätzte als Alles was sie nachher im seßhaften Staatsleben noch geschaffen hatten; und aus dem Gemüthe entsprang doch auch seine unerweisliche Behauptung, daß die getischen Völker des Alterthums Gothen gewesen wären, er konnte sich die Anfänge der germanischen Welt gar nicht groß und mächtig genug vorstellen. Unter- dessen arbeiteten die Brüder schon an einem neuen Werke, dem neuhoch- deutschen Wörterbuche. Die wackeren "Weidmänner" Salomon Hirzel und Karl Reimer, die Besitzer der Weidmann'schen Buchhandlung in Leipzig übernahmen den Verlag, zunächst um den Vertriebenen über die Sorgen der amtlosen Jahre hinwegzuhelfen, und bald waren mehr als achtzig sammelnde Mitarbeiter gewonnen. Was einst in Frankreich nur durch die Akademie, unter dem Schutze und Zwange einer allmächtigen Staats- gewalt gelungen war, wurde in Deutschland vorbereitet durch die freie Thätigkeit der Gelehrtenwelt; und im Geiste der Freiheit, ganz anders als die französische Akademie, entwarfen auch die Brüder den Plan für ihr Wörterbuch: sie wollten nicht die Sprache an starre Regeln binden, sondern sie durch Selbsterkenntniß zu freiem Leben kräftigen. Neben dem kühnen Finder Jakob Grimm wirkte in Berlin der scharfe V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft. ſtünde heute das Germanenthum in der Geſchichte, wenn Gothen, Bur-gunden, Franken, Langobarden in den eroberten Römerlanden ſich ihre Mutterſprache bewahrt hätten; den Deutſchen aber, die an dieſem Kleinod feſthielten, blieb in allem Wandel der politiſchen Zerwürfniſſe das Gefühl des gemeinſamen Volksthums unverloren, ſonſt hätten die Nachbarn der Donaukelten doch nicht Markmannen heißen können. In einzelnen Zügen poetiſcher Willkür verrieth ſich freilich der alte Romantiker. Die ferne Urzeit bezauberte ſein Gemüth ſo mächtig, daß er die Welteroberung der wandernden Germanen faſt höher ſchätzte als Alles was ſie nachher im ſeßhaften Staatsleben noch geſchaffen hatten; und aus dem Gemüthe entſprang doch auch ſeine unerweisliche Behauptung, daß die getiſchen Völker des Alterthums Gothen geweſen wären, er konnte ſich die Anfänge der germaniſchen Welt gar nicht groß und mächtig genug vorſtellen. Unter- deſſen arbeiteten die Brüder ſchon an einem neuen Werke, dem neuhoch- deutſchen Wörterbuche. Die wackeren „Weidmänner“ Salomon Hirzel und Karl Reimer, die Beſitzer der Weidmann’ſchen Buchhandlung in Leipzig übernahmen den Verlag, zunächſt um den Vertriebenen über die Sorgen der amtloſen Jahre hinwegzuhelfen, und bald waren mehr als achtzig ſammelnde Mitarbeiter gewonnen. Was einſt in Frankreich nur durch die Akademie, unter dem Schutze und Zwange einer allmächtigen Staats- gewalt gelungen war, wurde in Deutſchland vorbereitet durch die freie Thätigkeit der Gelehrtenwelt; und im Geiſte der Freiheit, ganz anders als die franzöſiſche Akademie, entwarfen auch die Brüder den Plan für ihr Wörterbuch: ſie wollten nicht die Sprache an ſtarre Regeln binden, ſondern ſie durch Selbſterkenntniß zu freiem Leben kräftigen. Neben dem kühnen Finder Jakob Grimm wirkte in Berlin der ſcharfe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0436" n="422"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.</fw><lb/> ſtünde heute das Germanenthum in der Geſchichte, wenn Gothen, Bur-<lb/> gunden, Franken, Langobarden in den eroberten Römerlanden ſich ihre<lb/> Mutterſprache bewahrt hätten; den Deutſchen aber, die an dieſem Kleinod<lb/> feſthielten, blieb in allem Wandel der politiſchen Zerwürfniſſe das Gefühl<lb/> des gemeinſamen Volksthums unverloren, ſonſt hätten die Nachbarn der<lb/> Donaukelten doch nicht Markmannen heißen können. In einzelnen Zügen<lb/> poetiſcher Willkür verrieth ſich freilich der alte Romantiker. Die ferne<lb/> Urzeit bezauberte ſein Gemüth ſo mächtig, daß er die Welteroberung<lb/> der wandernden Germanen faſt höher ſchätzte als Alles was ſie nachher<lb/> im ſeßhaften Staatsleben noch geſchaffen hatten; und aus dem Gemüthe<lb/> entſprang doch auch ſeine unerweisliche Behauptung, daß die getiſchen<lb/> Völker des Alterthums Gothen geweſen wären, er konnte ſich die Anfänge<lb/> der germaniſchen Welt gar nicht groß und mächtig genug vorſtellen. Unter-<lb/> deſſen arbeiteten die Brüder ſchon an einem neuen Werke, dem neuhoch-<lb/> deutſchen Wörterbuche. Die wackeren „Weidmänner“ Salomon Hirzel und<lb/> Karl Reimer, die Beſitzer der Weidmann’ſchen Buchhandlung in Leipzig<lb/> übernahmen den Verlag, zunächſt um den Vertriebenen über die Sorgen<lb/> der amtloſen Jahre hinwegzuhelfen, und bald waren mehr als achtzig<lb/> ſammelnde Mitarbeiter gewonnen. Was einſt in Frankreich nur durch<lb/> die Akademie, unter dem Schutze und Zwange einer allmächtigen Staats-<lb/> gewalt gelungen war, wurde in Deutſchland vorbereitet durch die freie<lb/> Thätigkeit der Gelehrtenwelt; und im Geiſte der Freiheit, ganz anders<lb/> als die franzöſiſche Akademie, entwarfen auch die Brüder den Plan für<lb/> ihr Wörterbuch: ſie wollten nicht die Sprache an ſtarre Regeln binden,<lb/> ſondern ſie durch Selbſterkenntniß zu freiem Leben kräftigen.</p><lb/> <p>Neben dem kühnen Finder Jakob Grimm wirkte in Berlin der ſcharfe<lb/> Kritiker Karl Lachmann. Er bildete die lebendige Brücke zwiſchen der<lb/> germaniſtiſchen und der claſſiſchen Philologie, er erzog die jüngere Wiſſen-<lb/> ſchaft in wenigen Jahrzehnten zu der ſtrengen ſicheren Methode, die ſich<lb/> die ältere erſt durch die Arbeit von Jahrhunderten erworben hatte. Es<lb/> war ein ſchönes Geben und Empfangen: die claſſiſchen Philologen ihrer-<lb/> ſeits lernten von den Germaniſten, den antiken Volksdialekten, die man<lb/> erſt ſeit dem Erſcheinen der Böckh’ſchen Inſchriftenſammlung recht zu be-<lb/> achten anfing, in eindringender Forſchung nachzuſpüren. Lachmann war<lb/> durchaus wiſſenſchaftlicher Parteimann, treu, gemüthlich, heiter unter den<lb/> Freunden, unerbittlich gegen die Feinde; er verlangte unbedingte Zuſtim-<lb/> mung, auch wenn er mit überſcharfer Kritik die Ilias oder die Nibelungen<lb/> gewaltſam in einzelne Lieder zerſtückelte, und wie er an ſich ſelber die<lb/> ſtrengſten Anforderungen ſtellte, ſo verdammte er die wiſſenſchaftlichen<lb/> Irrthümer Anderer als unſittliche Schwächen. Das junge Philologenge-<lb/> ſchlecht, das unter ſeiner Einwirkung emporkam, trat ſchroffer, unduld-<lb/> ſamer, hochmüthiger auf als die ältere, noch in dem Jahrhundert der<lb/> Humanität erwachſene Generation — und dies in einer Zeit, da die<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [422/0436]
V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
ſtünde heute das Germanenthum in der Geſchichte, wenn Gothen, Bur-
gunden, Franken, Langobarden in den eroberten Römerlanden ſich ihre
Mutterſprache bewahrt hätten; den Deutſchen aber, die an dieſem Kleinod
feſthielten, blieb in allem Wandel der politiſchen Zerwürfniſſe das Gefühl
des gemeinſamen Volksthums unverloren, ſonſt hätten die Nachbarn der
Donaukelten doch nicht Markmannen heißen können. In einzelnen Zügen
poetiſcher Willkür verrieth ſich freilich der alte Romantiker. Die ferne
Urzeit bezauberte ſein Gemüth ſo mächtig, daß er die Welteroberung
der wandernden Germanen faſt höher ſchätzte als Alles was ſie nachher
im ſeßhaften Staatsleben noch geſchaffen hatten; und aus dem Gemüthe
entſprang doch auch ſeine unerweisliche Behauptung, daß die getiſchen
Völker des Alterthums Gothen geweſen wären, er konnte ſich die Anfänge
der germaniſchen Welt gar nicht groß und mächtig genug vorſtellen. Unter-
deſſen arbeiteten die Brüder ſchon an einem neuen Werke, dem neuhoch-
deutſchen Wörterbuche. Die wackeren „Weidmänner“ Salomon Hirzel und
Karl Reimer, die Beſitzer der Weidmann’ſchen Buchhandlung in Leipzig
übernahmen den Verlag, zunächſt um den Vertriebenen über die Sorgen
der amtloſen Jahre hinwegzuhelfen, und bald waren mehr als achtzig
ſammelnde Mitarbeiter gewonnen. Was einſt in Frankreich nur durch
die Akademie, unter dem Schutze und Zwange einer allmächtigen Staats-
gewalt gelungen war, wurde in Deutſchland vorbereitet durch die freie
Thätigkeit der Gelehrtenwelt; und im Geiſte der Freiheit, ganz anders
als die franzöſiſche Akademie, entwarfen auch die Brüder den Plan für
ihr Wörterbuch: ſie wollten nicht die Sprache an ſtarre Regeln binden,
ſondern ſie durch Selbſterkenntniß zu freiem Leben kräftigen.
Neben dem kühnen Finder Jakob Grimm wirkte in Berlin der ſcharfe
Kritiker Karl Lachmann. Er bildete die lebendige Brücke zwiſchen der
germaniſtiſchen und der claſſiſchen Philologie, er erzog die jüngere Wiſſen-
ſchaft in wenigen Jahrzehnten zu der ſtrengen ſicheren Methode, die ſich
die ältere erſt durch die Arbeit von Jahrhunderten erworben hatte. Es
war ein ſchönes Geben und Empfangen: die claſſiſchen Philologen ihrer-
ſeits lernten von den Germaniſten, den antiken Volksdialekten, die man
erſt ſeit dem Erſcheinen der Böckh’ſchen Inſchriftenſammlung recht zu be-
achten anfing, in eindringender Forſchung nachzuſpüren. Lachmann war
durchaus wiſſenſchaftlicher Parteimann, treu, gemüthlich, heiter unter den
Freunden, unerbittlich gegen die Feinde; er verlangte unbedingte Zuſtim-
mung, auch wenn er mit überſcharfer Kritik die Ilias oder die Nibelungen
gewaltſam in einzelne Lieder zerſtückelte, und wie er an ſich ſelber die
ſtrengſten Anforderungen ſtellte, ſo verdammte er die wiſſenſchaftlichen
Irrthümer Anderer als unſittliche Schwächen. Das junge Philologenge-
ſchlecht, das unter ſeiner Einwirkung emporkam, trat ſchroffer, unduld-
ſamer, hochmüthiger auf als die ältere, noch in dem Jahrhundert der
Humanität erwachſene Generation — und dies in einer Zeit, da die
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |