schen Landwirthen unentbehrlich. Und wie immer in der Wissenschaft ein Fund den anderen hervorruft, so gab Liebig bald neue, für Theorie und Praxis gleich werthvolle Aufschlüsse über Verbesserung und Erhaltung der Nahrungsmittel. Seine Schuld war es nicht, daß die neue Erkenntniß auch gröblich mißbraucht wurde. Bald nahm eine in aller Geschichte beispiel- lose Verfälschung der Lebensmittel überhand und schädigte die Gesundheit wie die Sittlichkeit des Volks so schwer, daß man ernstlich bezweifeln konnte, ob der Fortschritt der Chemie der Menschheit mehr Segen oder mehr Unsegen gebracht hatte. Der Gießener Chemiker erschien den fremden Nationen wie der Herold der deutschen Naturwissenschaft, und die Zeit kam, da der stolze leidenschaftliche Mann zuversichtlich sagen durfte: "ich werde meinen Gegnern durch neue wunderbare Dinge antworten."
Zur selben Zeit da Liebig über den organischen Stoffwechsel schrieb, begründete ein Schüler Johannes Müller's, der Rheinländer Schwann eine neue Theorie der organischen Entfaltung durch seine Zellenlehre. Er wies nach, daß Structur und Wachsthum der Thiere und der Pflanzen übereinstimmen, daß sämmtliche Gewebe und Organe des thierischen Körpers aus Zellen hervorgehen. Der stille, bescheidene, kleine Mann, der bald nachher im katholischen Belgien eine neue Heimath fand und Tag für Tag inmitten der Marktweiber andächtig der Frühmesse beiwohnte, ließ seit jenem großen Wurfe wenig mehr von sich hören; aber durch den einen fruchtbaren Gedanken hatte er der gesammten Pathologie und den ver- wandten Wissenschaften neue Bahnen gewiesen.
Auch der Ideenkreis der Physiker erweiterte sich inzwischen mächtig, als Dove das Gesetz der Winde fand, die Grundlage für die neue Wissen- schaft der Meteorologie. Der heitere, geistreiche Schlesier hatte sich in allen Kreisen der Berliner Gelehrtenwelt längst eingebürgert, und an der Universität durch seine lebensvollen Vorträge eine angesehene Stellung er- rungen; eine Zeit lang stand er den Hegelianern nahe und schrieb auch unterweilen in ihre wissenschaftlichen Jahrbücher; doch mit freier Sicherheit trat er dem Hochmuth der Philosophen entgegen, die ihm das Experiment als Handwerkerarbeit verbieten wollten, und je näher er Humboldt kennen lernte, um so mehr befestigte er sich in der Methode empirischer Forschung. Nun ward ihm die Freude, daß seine große Entdeckung fast ebenso stark wie Liebig's Erfindungen auf die Volkswirthschaft einwirkte. Auf Hum- boldt's Verwendung entstand im Norden eine Anzahl meteorologische In- stitute, und man durfte hoffen, den Landwirthen einen Anhalt für ihre Wetterberechnungen zu geben, die Schiffer auf hoher See vor drohenden Stürmen zu warnen.
Der physikalischen Theorie gelang im Jahre 1847 eine entscheidende That. Hermann Helmholtz aus der Mark, ein junger Militärarzt, den die hochmüthigen Offiziere des Gardehusarenregiments sehr geringschätzig behandelten, veröffentlichte die kleine Schrift "die Erhaltung der Kraft",
V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
ſchen Landwirthen unentbehrlich. Und wie immer in der Wiſſenſchaft ein Fund den anderen hervorruft, ſo gab Liebig bald neue, für Theorie und Praxis gleich werthvolle Aufſchlüſſe über Verbeſſerung und Erhaltung der Nahrungsmittel. Seine Schuld war es nicht, daß die neue Erkenntniß auch gröblich mißbraucht wurde. Bald nahm eine in aller Geſchichte beiſpiel- loſe Verfälſchung der Lebensmittel überhand und ſchädigte die Geſundheit wie die Sittlichkeit des Volks ſo ſchwer, daß man ernſtlich bezweifeln konnte, ob der Fortſchritt der Chemie der Menſchheit mehr Segen oder mehr Unſegen gebracht hatte. Der Gießener Chemiker erſchien den fremden Nationen wie der Herold der deutſchen Naturwiſſenſchaft, und die Zeit kam, da der ſtolze leidenſchaftliche Mann zuverſichtlich ſagen durfte: „ich werde meinen Gegnern durch neue wunderbare Dinge antworten.“
Zur ſelben Zeit da Liebig über den organiſchen Stoffwechſel ſchrieb, begründete ein Schüler Johannes Müller’s, der Rheinländer Schwann eine neue Theorie der organiſchen Entfaltung durch ſeine Zellenlehre. Er wies nach, daß Structur und Wachsthum der Thiere und der Pflanzen übereinſtimmen, daß ſämmtliche Gewebe und Organe des thieriſchen Körpers aus Zellen hervorgehen. Der ſtille, beſcheidene, kleine Mann, der bald nachher im katholiſchen Belgien eine neue Heimath fand und Tag für Tag inmitten der Marktweiber andächtig der Frühmeſſe beiwohnte, ließ ſeit jenem großen Wurfe wenig mehr von ſich hören; aber durch den einen fruchtbaren Gedanken hatte er der geſammten Pathologie und den ver- wandten Wiſſenſchaften neue Bahnen gewieſen.
Auch der Ideenkreis der Phyſiker erweiterte ſich inzwiſchen mächtig, als Dove das Geſetz der Winde fand, die Grundlage für die neue Wiſſen- ſchaft der Meteorologie. Der heitere, geiſtreiche Schleſier hatte ſich in allen Kreiſen der Berliner Gelehrtenwelt längſt eingebürgert, und an der Univerſität durch ſeine lebensvollen Vorträge eine angeſehene Stellung er- rungen; eine Zeit lang ſtand er den Hegelianern nahe und ſchrieb auch unterweilen in ihre wiſſenſchaftlichen Jahrbücher; doch mit freier Sicherheit trat er dem Hochmuth der Philoſophen entgegen, die ihm das Experiment als Handwerkerarbeit verbieten wollten, und je näher er Humboldt kennen lernte, um ſo mehr befeſtigte er ſich in der Methode empiriſcher Forſchung. Nun ward ihm die Freude, daß ſeine große Entdeckung faſt ebenſo ſtark wie Liebig’s Erfindungen auf die Volkswirthſchaft einwirkte. Auf Hum- boldt’s Verwendung entſtand im Norden eine Anzahl meteorologiſche In- ſtitute, und man durfte hoffen, den Landwirthen einen Anhalt für ihre Wetterberechnungen zu geben, die Schiffer auf hoher See vor drohenden Stürmen zu warnen.
Der phyſikaliſchen Theorie gelang im Jahre 1847 eine entſcheidende That. Hermann Helmholtz aus der Mark, ein junger Militärarzt, den die hochmüthigen Offiziere des Gardehuſarenregiments ſehr geringſchätzig behandelten, veröffentlichte die kleine Schrift „die Erhaltung der Kraft“,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0444"n="430"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">V.</hi> 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.</fw><lb/>ſchen Landwirthen unentbehrlich. Und wie immer in der Wiſſenſchaft ein<lb/>
Fund den anderen hervorruft, ſo gab Liebig bald neue, für Theorie und<lb/>
Praxis gleich werthvolle Aufſchlüſſe über Verbeſſerung und Erhaltung der<lb/>
Nahrungsmittel. Seine Schuld war es nicht, daß die neue Erkenntniß<lb/>
auch gröblich mißbraucht wurde. Bald nahm eine in aller Geſchichte beiſpiel-<lb/>
loſe Verfälſchung der Lebensmittel überhand und ſchädigte die Geſundheit<lb/>
wie die Sittlichkeit des Volks ſo ſchwer, daß man ernſtlich bezweifeln konnte,<lb/>
ob der Fortſchritt der Chemie der Menſchheit mehr Segen oder mehr<lb/>
Unſegen gebracht hatte. Der Gießener Chemiker erſchien den fremden<lb/>
Nationen wie der Herold der deutſchen Naturwiſſenſchaft, und die Zeit<lb/>
kam, da der ſtolze leidenſchaftliche Mann zuverſichtlich ſagen durfte: „ich<lb/>
werde meinen Gegnern durch neue wunderbare Dinge antworten.“</p><lb/><p>Zur ſelben Zeit da Liebig über den organiſchen Stoffwechſel ſchrieb,<lb/>
begründete ein Schüler Johannes Müller’s, der Rheinländer Schwann<lb/>
eine neue Theorie der organiſchen Entfaltung durch ſeine Zellenlehre.<lb/>
Er wies nach, daß Structur und Wachsthum der Thiere und der Pflanzen<lb/>
übereinſtimmen, daß ſämmtliche Gewebe und Organe des thieriſchen Körpers<lb/>
aus Zellen hervorgehen. Der ſtille, beſcheidene, kleine Mann, der bald<lb/>
nachher im katholiſchen Belgien eine neue Heimath fand und Tag für<lb/>
Tag inmitten der Marktweiber andächtig der Frühmeſſe beiwohnte, ließ<lb/>ſeit jenem großen Wurfe wenig mehr von ſich hören; aber durch den einen<lb/>
fruchtbaren Gedanken hatte er der geſammten Pathologie und den ver-<lb/>
wandten Wiſſenſchaften neue Bahnen gewieſen.</p><lb/><p>Auch der Ideenkreis der Phyſiker erweiterte ſich inzwiſchen mächtig,<lb/>
als Dove das Geſetz der Winde fand, die Grundlage für die neue Wiſſen-<lb/>ſchaft der Meteorologie. Der heitere, geiſtreiche Schleſier hatte ſich in<lb/>
allen Kreiſen der Berliner Gelehrtenwelt längſt eingebürgert, und an der<lb/>
Univerſität durch ſeine lebensvollen Vorträge eine angeſehene Stellung er-<lb/>
rungen; eine Zeit lang ſtand er den Hegelianern nahe und ſchrieb auch<lb/>
unterweilen in ihre wiſſenſchaftlichen Jahrbücher; doch mit freier Sicherheit<lb/>
trat er dem Hochmuth der Philoſophen entgegen, die ihm das Experiment<lb/>
als Handwerkerarbeit verbieten wollten, und je näher er Humboldt kennen<lb/>
lernte, um ſo mehr befeſtigte er ſich in der Methode empiriſcher Forſchung.<lb/>
Nun ward ihm die Freude, daß ſeine große Entdeckung faſt ebenſo ſtark<lb/>
wie Liebig’s Erfindungen auf die Volkswirthſchaft einwirkte. Auf Hum-<lb/>
boldt’s Verwendung entſtand im Norden eine Anzahl meteorologiſche In-<lb/>ſtitute, und man durfte hoffen, den Landwirthen einen Anhalt für ihre<lb/>
Wetterberechnungen zu geben, die Schiffer auf hoher See vor drohenden<lb/>
Stürmen zu warnen.</p><lb/><p>Der phyſikaliſchen Theorie gelang im Jahre 1847 eine entſcheidende<lb/>
That. Hermann Helmholtz aus der Mark, ein junger Militärarzt, den<lb/>
die hochmüthigen Offiziere des Gardehuſarenregiments ſehr geringſchätzig<lb/>
behandelten, veröffentlichte die kleine Schrift „die Erhaltung der Kraft“,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[430/0444]
V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
ſchen Landwirthen unentbehrlich. Und wie immer in der Wiſſenſchaft ein
Fund den anderen hervorruft, ſo gab Liebig bald neue, für Theorie und
Praxis gleich werthvolle Aufſchlüſſe über Verbeſſerung und Erhaltung der
Nahrungsmittel. Seine Schuld war es nicht, daß die neue Erkenntniß
auch gröblich mißbraucht wurde. Bald nahm eine in aller Geſchichte beiſpiel-
loſe Verfälſchung der Lebensmittel überhand und ſchädigte die Geſundheit
wie die Sittlichkeit des Volks ſo ſchwer, daß man ernſtlich bezweifeln konnte,
ob der Fortſchritt der Chemie der Menſchheit mehr Segen oder mehr
Unſegen gebracht hatte. Der Gießener Chemiker erſchien den fremden
Nationen wie der Herold der deutſchen Naturwiſſenſchaft, und die Zeit
kam, da der ſtolze leidenſchaftliche Mann zuverſichtlich ſagen durfte: „ich
werde meinen Gegnern durch neue wunderbare Dinge antworten.“
Zur ſelben Zeit da Liebig über den organiſchen Stoffwechſel ſchrieb,
begründete ein Schüler Johannes Müller’s, der Rheinländer Schwann
eine neue Theorie der organiſchen Entfaltung durch ſeine Zellenlehre.
Er wies nach, daß Structur und Wachsthum der Thiere und der Pflanzen
übereinſtimmen, daß ſämmtliche Gewebe und Organe des thieriſchen Körpers
aus Zellen hervorgehen. Der ſtille, beſcheidene, kleine Mann, der bald
nachher im katholiſchen Belgien eine neue Heimath fand und Tag für
Tag inmitten der Marktweiber andächtig der Frühmeſſe beiwohnte, ließ
ſeit jenem großen Wurfe wenig mehr von ſich hören; aber durch den einen
fruchtbaren Gedanken hatte er der geſammten Pathologie und den ver-
wandten Wiſſenſchaften neue Bahnen gewieſen.
Auch der Ideenkreis der Phyſiker erweiterte ſich inzwiſchen mächtig,
als Dove das Geſetz der Winde fand, die Grundlage für die neue Wiſſen-
ſchaft der Meteorologie. Der heitere, geiſtreiche Schleſier hatte ſich in
allen Kreiſen der Berliner Gelehrtenwelt längſt eingebürgert, und an der
Univerſität durch ſeine lebensvollen Vorträge eine angeſehene Stellung er-
rungen; eine Zeit lang ſtand er den Hegelianern nahe und ſchrieb auch
unterweilen in ihre wiſſenſchaftlichen Jahrbücher; doch mit freier Sicherheit
trat er dem Hochmuth der Philoſophen entgegen, die ihm das Experiment
als Handwerkerarbeit verbieten wollten, und je näher er Humboldt kennen
lernte, um ſo mehr befeſtigte er ſich in der Methode empiriſcher Forſchung.
Nun ward ihm die Freude, daß ſeine große Entdeckung faſt ebenſo ſtark
wie Liebig’s Erfindungen auf die Volkswirthſchaft einwirkte. Auf Hum-
boldt’s Verwendung entſtand im Norden eine Anzahl meteorologiſche In-
ſtitute, und man durfte hoffen, den Landwirthen einen Anhalt für ihre
Wetterberechnungen zu geben, die Schiffer auf hoher See vor drohenden
Stürmen zu warnen.
Der phyſikaliſchen Theorie gelang im Jahre 1847 eine entſcheidende
That. Hermann Helmholtz aus der Mark, ein junger Militärarzt, den
die hochmüthigen Offiziere des Gardehuſarenregiments ſehr geringſchätzig
behandelten, veröffentlichte die kleine Schrift „die Erhaltung der Kraft“,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/444>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.